Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erblühen in vielen Regionen Guatemalas alljährlich riesige Kaffeefelder in strahlendem Weiss. Kurze Zeit später fallen die Blüten ab und es bilden sich schillernd rote Früchte an den dünnen Ästen der Kaffeesträucher. Diese enthalten die begehrten Bohnen, die seit Jahrzehnten aus dem zentralamerikanischen Land nach Nordamerika und Westeuropa exportiert werden.
Solch malerische Bilder und Beschreibungen finden sich aktuell häufig in den Hochglanzmagazinen von Röstereien oder zieren die Verpackungen in den Kaffeeregalen der Supermärkte.
Als bedeutend weniger idyllisch erweist sich hingegen ein Blick in die Geschichte der Kaffeeplantagenökonomie in Guatemala. Denn während einige wenige Plantagenbesitzer erheblich vom Auf- und Ausbau der Plantagen profitierten, wurden indigene Gemeinschaften verdrängt und enteignet, Naturräume zerstört und soziale Ungleichheiten verfestigt.
Bei dieser Expansion der Kaffeeplantagenökonomie spielten mit Otto Bleuler, Rudolf Hagmann und Carl Gustav Bernoulli von Anfang an auch Schweizer eine prominente Rolle. Doch noch immer werden diese Figuren aus den populären Geschichtsbüchern, dem Schulunterricht und der öffentlichen Debatte über die Schweizer Vergangenheit ausgeblendet.
Eine andere Geschichte der Schweiz
Dabei interessiert man sich in der Schweiz durchaus für die Vergangenheit. Jedoch erzählt man sich hierzulande vor allem die Geschichte einer in sich selbst ruhenden kleinen Alpenrepublik. Finden Plantagenbesitzer trotzdem Erwähnung, dann werden sie meistens als Einzelfälle abgetan oder gar als ‘exotische’ Abenteuergeschichten präsentiert.
Um die koloniale Amnesie zu durchbrechen, müssen wir die Geschichte der Schweiz anders erzählen. Wir müssen anerkennen, dass sich die Geschichte nicht nur auf dem nationalen Territorium abspielte, wie etwa der Historiker Bernhard Schär betont.
Mittlerweile erinnert eine wachsende Zahl von wissenschaftlichen Studien und Ausstellungen an die globale und koloniale Geschichte der Schweiz. Dabei wird deutlich, dass Bleuler, Hagmann und Bernoulli keine Ausnahmen darstellen. Vielmehr gliedern sie sich nahtlos in eine lange Reihe von Kaufleuten, Plantagenbesitzer, Wissenschaftler oder Söldner ein, die aktiv an der europäischen Expansion teilnahmen und massgeblich am Aufbau und der Festigung (neo-)kolonialer Strukturen beteiligt waren.
Vom Westen Guatemalas an den „Plantagengürtel“ in Zürich
Zu den grössten Plantagenbesitzern in Guatemala zählten ab den 1860er-Jahren die beiden Schweizer Kaufmänner Otto Bleuler und Rudolf Hagmann. Der Erwerb ihrer ersten Plantage, die San Francisco Miramar, zeigt dabei exemplarisch, wie die europäischen Pflanzer üblicherweise in den Besitz ihrer Anbauflächen gelangten.
Mit zumindest passiver Unterstützung der Regierung eignete sich Manuel Fuentes Franco, ein Mitglied der regionalen Elite von Quetzaltenango, ein grosses Gebiet der Mam-Gemeinschaft von San Martín an. Dort errichtete er die Kaffeeplantage San Francisco Miramar, die er im Jahr 1868 an den Schweizer Santiago Keller veräusserte. Dieser wiederum verkaufte die Plantage an seine beiden Landesgenossen Hagmann und Bleuler weiter.
Mit dem deutschen Einwanderer Sophus Koch schlossen sich Bleuler und Hagmann anschliessend zum lukrativen Unternehmen Koch Hagmann & Co. zusammen. Bleuler kehrte daraufhin nach Europa zurück, während Hagmann gemeinsam mit Koch die Plantagen in Guatemala betrieb.
Zugleich erweiterten sie ihren Besitz erheblich. Über die Jahre kamen so die Fincas El Reposo, Morelia, Rosario Bola Oro und Santa Sofia hinzu. Ende des 19. Jahrhunderts besassen Hagmann und Koch schliesslich über mehr als 60 Quadratkilometer. Unter dieser stetigen Ausdehnung der Kaffeeplantagenökonomie litten hauptsächlich kleine Landbesitzer*innen und besonders die indigene Bevölkerung.
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So bedeutete der Verlust dieses fruchtbaren Landes für die Mam-Gemeinschaften eine Katastrophe. Wie die Historikerin Stefania Gallini überzeugend herausgearbeitet hat, basierte die Mam-Landwirtschaft auf komplexen agro-ökologischen Anbaumethoden. Die Mam nutzten die unterschiedlichen Mikroklimas von der Pazifikküste bis zum Hochland gezielt aus. Auf diese Weise gelang es ihnen, vielfältige Nahrungsmittel nährstoffreich anzubauen.
In diesen „traditionellen“ Anbauformen sahen die Plantagenbesitzer und die guatemaltekische Regierung jedoch keine aktive landwirtschaftliche Nutzung der Böden. Sie erklärten grosse Teile des indigenen Landbesitzes gar als ungenutzt, zweifelten deren Besitzansprüche an und eigneten sich jene Teile des indigenen Gemeindelandes an, das sich für den Kaffeeanbau eignete.
In einem auf Komplementarität beruhenden, komplexen agro-ökologischen System wie jenem der Mam, bedeutete der Verlust dieser Gebiete meist den Zusammenbruch des gesamten Systems. Die Mam wurden dadurch ihrer sozialen und kulturellen Praktiken beraubt, die eng mit den traditionellen Anbauformen und der Landnutzung verbunden waren.
Bleuler und Hagmann profitierten dagegen augenscheinlich vom massiven Ausbau der Kaffeeplantagenökonomie. Zwar lässt sich ihr Gewinn nicht genau beziffern. Aber zumindest einen Teil seines Profits investierte Rudolf Hagmann in eine prachtvolle Villa, die er nach seiner Rückkehr in die Schweiz an der Zollikerstrasse 115/17 errichten liess.
Am „Plantagengürtel“ an der Zollikerstrasse tritt einem der Reichtum noch heute unmittelbar zutage. Diesen Reichtum hatte das Zürcher Bürgertum dank ihrer aktiven Teilnahme an der europäischen Expansion und der damit einhergegangenen Errichtung von Plantagenwirtschaften angehäuft.
Zwangsarbeit und wissenschaftliche Sammlungen
Neben Bleuler und Hagmann war auch der Basler Arzt Carl Gustav Bernoulli einer der ersten europäischen Plantagenbesitzer in Guatemala. Auch seine Finca Chojajá gehörte zu den grössten Kaffeeplantagen in der Region. Während seinen zwanzig Jahren in Guatemala – zwischen 1858 und 1878 – baute Bernoulli nicht nur Kaffee an. Er tat sich zugleich als eifriger Sammler hervor.
Sein Herbarium guatemalense, das die botanische Vielfalt Guatemalas abbilden sollte, liegt heute in der Herbariensammlung der Universität Basel. Hinzu kommen mehr als 50 getötete und anschliessend präparierte Tiere im Naturhistorischen Museum sowie einige ethnografische Objekte, die heute zu den Sammlungen des Museums der Kulturen in Basel und der Staatlichen Museen zu Berlin gehören. Während sich die kulturelle, botanische und zoologische Vielfalt Guatemalas zunehmend in den Ausstellungen und Depots europäischer Museen widerspiegelte, wurden diese vor Ort durch die Ausdehnung des monokulturell betriebenen Kaffeeanbaus unwiederbringlich zerstört.
Bernoulli bedauerte in seinen Briefen und Artikeln diesen Artenverlust immer wieder. Dennoch sah er keinen Widerspruch zu seinen wirtschaftlichen Tätigkeiten in Guatemala. Untermauert von einem sozialdarwinistisch geprägten Fortschrittsdenken schien er dies vielmehr für den „natürlichen Lauf“ der Geschichte zu halten. Am deutlichsten zum Ausdruck brachte er dies in einem im Jahr 1869 publizierten Artikel: „Der Indianer ist ein Hinderniss [sic] für den Fortschritt. Die Civilisation […] wird entweder aufgehalten oder muss über die Leiche des Gegners vorwärts schreiten. […] Amerika trägt in sich selbst keine Keime der Entwicklung, es bietet nur einen fruchtbaren Boden dar, in welchem die von aussen gekommenen rasch aufgehen und Frucht tragen.“
Deshalb war für ihn nicht nur die Enteignung der indigenen Gemeinschaften legitim. Er stand ebenso für die Wiedereinführung der Zwangsarbeit ein.
Wie andere bürgerliche Vertreter der grossen europäischen Kolonialmächte trugen Bernoulli, Hagmann und Bleuler zur Zerstörung oft nachhaltiger und resilienter Wirtschaftsformen lokaler Gemeinschaften bei, während sie diese Zerstörung in wissenschaftlichen Sammlungen und Publikationen zum angeblich „natürlichen Verlauf“ der Geschichte verklärten.
Koloniale Strukturen von damals bis heute
Wird die Geschichte der Schweiz weiterhin als bürgerliche Nationalgeschichte eines eng definierten Territoriums erzählt, bleibt Rudolf Hagmann ein weltgewandter, erfolgreicher Kaufmann. Carl Gustav Bernoulli wiederum erscheint als Sprössling einer bekannten Basler Gelehrtenfamilie, der die städtischen Sammlungen bereichert hat. Erweitert man dagegen den Raum, in dem sich die Schweizer Geschichte abspielte, wird deutlich, dass auch die Schweizer*innen Teil einer gewaltvollen europäischen Expansionsbewegung waren.
Die Aufarbeitung dieser Geschichte ist auch deshalb wichtig, weil die (neo-)kolonialen Strukturen bis in die Gegenwart hineinwirken, auch wenn keine direkten institutionellen oder personellen Kontinuitäten bestehen.
So haben das unabhängige Online-Portal Prensa Comunitaria gemeinsam mit dem Journalist*innen-Netzwerk Forbidden Stories kürzlich herausgefunden, dass durch einen Unfall in einer Nickelmine, die von einem Tochterunternehmen der Zuger Firma Solway Group geführt wird, eine grosse Menge Schadstoffe in den See Yzabal gelangten. Während Solway versuchte, den Umweltskandal zu vertuschen, reagierte der guatemaltekische Staat mit heftiger Repression gegen die Demonstrationen der lokalen Bevölkerung.
Es zeigt sich: Die von struktureller Ungleichheit geprägte Geschichte der Beziehungen zwischen Guatemala und der Schweiz gehört nicht allein der Vergangenheit an. Sie setzt sich vielmehr auch in der Gegenwart fort.
Christian Stenz ist Doktorand an der Universität Heidelberg. Er arbeitet an einem Projekt über deutschsprachige Pflanzer und Sammler in Guatemala in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
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