Was das Sterben auf dem Mittel­meer mit uns zu tun hat

Der Tod von über 500 Menschen in der vergan­genen Woche ist kein Zufall. Er ist die Konse­quenz der menschen­feind­li­chen Grenz­po­litik Europas. Ein Kommentar. 
Wenn auf dem Mittelmeer ein Bootsunglück geschieht, geht das auch uns etwas an. (Bild: Luca Mondgenast)

Boots­un­glück, tödli­ches Unglück, Unglück auf dem Mittel­meer: Die Schlag­zeilen zum Tod von mutmass­lich über 500 Personen, die in der vergan­genen Woche vor der grie­chi­schen Küste ertranken, glei­chen sich.

Laut Duden zeichnet sich ein Unglück dadurch aus, dass es nicht nur ein schlimmes oder tragi­sches Ereignis ist, sondern vor allen Dingen „plötz­lich“ über einen oder viele Menschen hereinbricht.

Plötz­lich oder uner­wartet ist am Tod der Menschen, die versuchten, auf einem über­füllten Fischer­boot von Libyen nach Europa zu gelangen, aller­dings nichts.

Unsere Politik kostet Leben

So uner­träg­lich das Ausmass des Ster­bens in diesem Fall auch ist, so ist es leider auch trau­rige Norma­lität: Allein in den letzten neun Jahren sind laut der Inter­na­tio­nalen Orga­ni­sa­tion für Migra­tion mehr als 20’000 Geflüch­tete auf dem Mittel­meer ertrunken.

Die Tatsache, dass jedes Jahr so viele Menschen sterben beim Versuch, nach Europa zu flüchten, ist kein Zufall. Es ist die Konse­quenz der brutalen Abschot­tungs- und soge­nannten Asyl­po­litik der Staaten des euro­päi­schen Binnenraums.

Und genau diese Politik soll – so wurde vor Kurzem bekannt gegeben – weiter verschärft werden. Von einigen Medien als „Durch­bruch“ gefeiert, haben sich die EU-Innenminister*innen auf Mass­nahmen geei­nigt, die eine noch stär­kere Abschreckung zur Folge haben sollen. Als wäre die Festung Europa noch nicht schreck­lich genug, sollen neu an den EU-Aussen­grenzen noch schnel­lere Asyl­ver­fahren durch­ge­führt und die Menschen bei einem nega­tiven Entscheid in Lager gebracht und ausge­schafft werden. Ausserdem sollen Staaten, die keine Migrant*innen aufnehmen wollen, sich in Zukunft von dieser Pflicht frei­kaufen können.

Doch anstatt die Praxis der Behörden zu kriti­sieren, konzen­trieren sich derzeit viele Medien lieber auf die Schlepper*innen.

Natür­lich werden die Menschen, die bereits jetzt ihre Leben unfass­baren Risiken aussetzen, um nach Europa zu gelangen, von noch schär­feren Mass­nahmen nicht von ihrem Vorhaben abgebracht.

Eine Verschär­fung der Asyl­praxis wird ledig­lich eines zur Folge haben: noch mehr „Unglücke“, noch mehr Leid und Sterben. Das gilt auch für die Zusam­men­ar­beit von Europa mit afri­ka­ni­schen Staaten oder der Türkei, bei der es eben­falls darum geht, Migrant*innen von Europa fern­zu­halten. Doch anstatt die Praxis der Behörden zu kriti­sieren, konzen­trieren sich derzeit viele Medien lieber auf die Schlepper*innen.

Dabei weisen in den letzten Tagen veröf­fent­lichte Berichte darauf hin, dass die Verant­wor­tung der Behörden noch grösser und unmit­tel­barer ist als zunächst gedacht.

Eine Unter­su­chung der BBC zeigt, dass die Darstel­lung der grie­chi­schen Küsten­wache falsch ist. Diese hatte behauptet, dass das Boot während mehrerer Stunden bis kurz vor der Havarie auf stabilem Kurs Rich­tung Italien gewesen sei und keine Hilfe oder Rettung benö­tigt hätte. Die von BBC ausge­wer­teten Daten zeigen nun aber, dass sich das Schiff mit den Geflüch­teten an Bord in diesem Zeit­raum immer etwa an derselben Stelle aufhielt. Von stabilem Kurs kann also keine Rede sein.

Das Sterben auf dem Mittel­meer, es soll – ja, es muss – uns betreffen. Weil unser Land Teil des Systems ist, das all dieses Leid verursacht.

Einige der über­le­benden Geflüch­teten berichten gar, dass ein Push­back der Küsten­wache für das Sinken des Boots verant­wort­lich war. Diese habe das Boot mehr­mals in Rich­tung der italie­ni­schen Gewässer gezogen, wodurch es ins Wanken geraten sei und schliess­lich sank.

Es muss uns betreffen

Auch die Schweiz gehört zum euro­päi­schen Binnen- und Schen­gen­raum, hat das Dubliner Über­ein­kommen unter­zeichnet und trägt somit die euro­päi­sche Migra­ti­ons­po­litik mit.

Und auch die Schweiz werde von der Reform des EU-Asyl- und Migra­ti­ons­sy­stems „profi­tieren“, wie etwa die NZZ schreibt. Es sei für uns ein „Vorteil“, wenn sich die EU an den Aussen­grenzen stärker abschotte, gleich­zeitig würden damit kaum Verpflich­tungen für unser Land einher­gehen. Wie praktisch.

Das Sterben auf dem Mittel­meer, es soll – ja, es muss – uns betreffen. Weil unser Land Teil des Systems ist, das all dieses Leid verur­sacht. Und es sollte uns nicht nur dann betroffen machen, wenn 500 Menschen, darunter Schät­zungen zufolge auch 100 Kinder, auf einmal sterben.


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