Bootsunglück, tödliches Unglück, Unglück auf dem Mittelmeer: Die Schlagzeilen zum Tod von mutmasslich über 500 Personen, die in der vergangenen Woche vor der griechischen Küste ertranken, gleichen sich.
Laut Duden zeichnet sich ein Unglück dadurch aus, dass es nicht nur ein schlimmes oder tragisches Ereignis ist, sondern vor allen Dingen „plötzlich“ über einen oder viele Menschen hereinbricht.
Plötzlich oder unerwartet ist am Tod der Menschen, die versuchten, auf einem überfüllten Fischerboot von Libyen nach Europa zu gelangen, allerdings nichts.
Unsere Politik kostet Leben
So unerträglich das Ausmass des Sterbens in diesem Fall auch ist, so ist es leider auch traurige Normalität: Allein in den letzten neun Jahren sind laut der Internationalen Organisation für Migration mehr als 20’000 Geflüchtete auf dem Mittelmeer ertrunken.
Die Tatsache, dass jedes Jahr so viele Menschen sterben beim Versuch, nach Europa zu flüchten, ist kein Zufall. Es ist die Konsequenz der brutalen Abschottungs- und sogenannten Asylpolitik der Staaten des europäischen Binnenraums.
Und genau diese Politik soll – so wurde vor Kurzem bekannt gegeben – weiter verschärft werden. Von einigen Medien als „Durchbruch“ gefeiert, haben sich die EU-Innenminister*innen auf Massnahmen geeinigt, die eine noch stärkere Abschreckung zur Folge haben sollen. Als wäre die Festung Europa noch nicht schrecklich genug, sollen neu an den EU-Aussengrenzen noch schnellere Asylverfahren durchgeführt und die Menschen bei einem negativen Entscheid in Lager gebracht und ausgeschafft werden. Ausserdem sollen Staaten, die keine Migrant*innen aufnehmen wollen, sich in Zukunft von dieser Pflicht freikaufen können.
Doch anstatt die Praxis der Behörden zu kritisieren, konzentrieren sich derzeit viele Medien lieber auf die Schlepper*innen.
Natürlich werden die Menschen, die bereits jetzt ihre Leben unfassbaren Risiken aussetzen, um nach Europa zu gelangen, von noch schärferen Massnahmen nicht von ihrem Vorhaben abgebracht.
Eine Verschärfung der Asylpraxis wird lediglich eines zur Folge haben: noch mehr „Unglücke“, noch mehr Leid und Sterben. Das gilt auch für die Zusammenarbeit von Europa mit afrikanischen Staaten oder der Türkei, bei der es ebenfalls darum geht, Migrant*innen von Europa fernzuhalten. Doch anstatt die Praxis der Behörden zu kritisieren, konzentrieren sich derzeit viele Medien lieber auf die Schlepper*innen.
Dabei weisen in den letzten Tagen veröffentlichte Berichte darauf hin, dass die Verantwortung der Behörden noch grösser und unmittelbarer ist als zunächst gedacht.
Eine Untersuchung der BBC zeigt, dass die Darstellung der griechischen Küstenwache falsch ist. Diese hatte behauptet, dass das Boot während mehrerer Stunden bis kurz vor der Havarie auf stabilem Kurs Richtung Italien gewesen sei und keine Hilfe oder Rettung benötigt hätte. Die von BBC ausgewerteten Daten zeigen nun aber, dass sich das Schiff mit den Geflüchteten an Bord in diesem Zeitraum immer etwa an derselben Stelle aufhielt. Von stabilem Kurs kann also keine Rede sein.
Das Sterben auf dem Mittelmeer, es soll – ja, es muss – uns betreffen. Weil unser Land Teil des Systems ist, das all dieses Leid verursacht.
Einige der überlebenden Geflüchteten berichten gar, dass ein Pushback der Küstenwache für das Sinken des Boots verantwortlich war. Diese habe das Boot mehrmals in Richtung der italienischen Gewässer gezogen, wodurch es ins Wanken geraten sei und schliesslich sank.
Es muss uns betreffen
Auch die Schweiz gehört zum europäischen Binnen- und Schengenraum, hat das Dubliner Übereinkommen unterzeichnet und trägt somit die europäische Migrationspolitik mit.
Und auch die Schweiz werde von der Reform des EU-Asyl- und Migrationssystems „profitieren“, wie etwa die NZZ schreibt. Es sei für uns ein „Vorteil“, wenn sich die EU an den Aussengrenzen stärker abschotte, gleichzeitig würden damit kaum Verpflichtungen für unser Land einhergehen. Wie praktisch.
Das Sterben auf dem Mittelmeer, es soll – ja, es muss – uns betreffen. Weil unser Land Teil des Systems ist, das all dieses Leid verursacht. Und es sollte uns nicht nur dann betroffen machen, wenn 500 Menschen, darunter Schätzungen zufolge auch 100 Kinder, auf einmal sterben.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 6 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 572 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 210 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 102 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?