Ich habe mich gefragt, was es eigentlich bedeutet, schwarz zu sein. Das waren die ersten Gedanken:
- Schwarz zu sein bedeutet, dass man als Kind mit Barbie-Puppen spielt, die aber wie deine weissen Freundinnen aussehen.
- Schwarz zu sein bedeutet, dass du als Kind von einer fremden Person mit den Worten „Geh‘ zurück nach Afrika“ angeschrien wirst.
- Schwarz zu sein bedeutet, dass du als Teenager an einem Festival von einer fremden Person mit dem N‑Wort angeschrien wirst.
- Schwarz zu sein bedeutet, dass du als Teenager an einem anderen Festival von drei Nazis in die Wadenbeine gekickt wirst.
- Schwarz zu sein bedeutet, dass du im Schwimmbad von Teenager mit dem grausamen 2004er Sommerhit „Chocolate (Choco Choco)“ gehänselt wirst.
- Schwarz zu sein bedeutet, dass du in deiner Schule / an deinem Arbeitsplatz der/die Einzige bist.
- Schwarz zu sein bedeutet, dass du jeden Tag mit einem unsichtbaren Schutzschild deine Wohnung verlässt und niemals weisst, ob dein Platz gewährleistet ist oder nicht.
Schau dir diese Punkte an, was fällt auf? Es sind alles negative, gewaltsame Erfahrungen. Und das ist eine absolute Schande, denn niemand sollte sich wegen seines Äusseren schlecht fühlen. Doch es ist die bittere Wahrheit. Alle diese oben genannten Punkte sind Erfahrungen, die ich erlebt habe. Es sind alles meine Erfahrungen.
Doch bevor ich beginne, muss ich mich an der eigenen Nase nehmen und, wie man so gerne sagt, „check my privilege“.
Mir ist bewusst, dass ich auch als schwarze Frau von einigen Privilegien profitiert habe, die andere schwarze Personen nicht haben. Ich habe den Vorteil, dass ich in der Schweiz zur Welt kam, das obligatorische Schulsystem absolviert habe, fliessend Hoch- und Schweizerdeutsch spreche, beruflich stabil bin und dank all dieser Punkte in die Schweizer Gesellschaft integriert bin.
Aber all das ist egal, sobald jemand, der mich nicht kennt, mich sieht.
Da spielt es keine Rolle, wie gut ich integriert bin. Da ist es absolut egal, wie viele weisse Freund*innen ich habe. Dass ich den Schweizer Pass habe. Dass ich pünktlich meine Steuern zahle. Dass ich brav Glas nach Farbe sortiert zur Sammelstelle bringe. Das ist egal, denn eine andere Person sieht als Erstes meine Hautfarbe.
Als Kind habe ich schnell gelernt, dass ich anders bin. Und gleichzeitig habe ich auch schnell gelernt, dass Anpassung das A und O ist, um zu überleben. Die Sitten studieren, gehorchen und Tugenden angewöhnen, wie es eine Jeannine oder ein Andreas machen. Pass dich an, dann kommt alles gut.
Diese Anpassung, die jahrelange Übung und Perfektion gebraucht hat, ist eine makabre Sache. Damit ich im „weissen Raum“ akzeptiert werde, musste ich mich auch richtig benehmen und bewegen, damit der Raum mich so annimmt. Und dann höre ich Sätze wie: „In meinen Augen bist du keine Ausländerin, sondern eine Schweizerin! Du bist sogar mehr Bünzli als ich!“
Und obwohl ich weiss, dass es nicht böse gemeint ist, sind solche Sprüche ein Stich ins Herz. Dieses „Bünzlitum“ hat viel Fleiss und Training erfordert. Aber ich habe mich angepasst, damit ich sicher bin. Damit ich meinen Platz sichern kann. Und das ist die unbequeme Wahrheit: dass ich als kleines Mädchen einen Teil meiner Identität hinterfragt und unterdrückt habe, weil ich in der Gesellschaft meinen Platz sichern wollte. Immer die feine Balance finden zwischen „gute Ausländerin“ und „schlechte Ausländerin“. Und nicht allzu krass auf der einen oder anderen Seite sein, sonst bist du nicht schwarz genug. Oder nicht gut genug integriert.
Aber es wird immer jemanden geben, für den du nicht gut genug bist. Weil du eine Hautfarbe hast, die nicht richtig ist.
Es lässt mich das Gefühl nicht los, dass wir es uns in der Schweiz sehr einfach machen. Wir zeigen auf die USA und sehen dort den Buhmann, obwohl es hier nicht einen Deut besser ist. Wir klopfen uns auf die Schulter, dass wir hier schwarze Menschen nicht so gewaltvoll diskriminieren. Doch Racial Profiling existiert hier auch. Meine Erfahrungen sind Anfeindungen, die ich von Schweizer*innen erlebt habe. Das zeigt sich vor allem bei einer Thematik: geflüchtete Menschen. Die Blicke und flüsternden Töne, die Weisse von sich geben, wenn eine Grossfamilie aus Somalia die S‑Bahn betritt. Diese Mikroaggressionen gehen nicht spurlos an uns vorbei. Das spüren wir an Leib und Seele, egal, ob „Papierlischwiizer“ oder Sans-Papier. Und jedes Mal erfüllt es mich mit Angst, wenn ich einer Gruppe von schwarzen Männern begegne, die draussen sitzen und die Sonne geniessen. Nicht, weil ich vor ihnen Angst habe. Sondern weil ich mich um ihre Sicherheit fürchte. Denn ich weiss, wie es ist, niemandem schaden zu wollen, aber als Schädling angesehen zu werden.
Die Ermordung von George Floyd und die anschliessenden Proteste in den USA führten dazu, dass ich mich zeitweise von den sozialen Medien distanzieren musste. Nicht, weil die Geschichte anders gewesen wäre als bei Sandra Bland. Oder Trayvon Martin. Oder Eric Garner. Sondern weil es wieder die immer gleiche Geschichte ist, nur mit einem anderen Protagonisten. Und ehrlich gesagt: Ich bin müde. Müde, weil sich nach all den Schlagzeilen, Protesten, Hashtags und Petitionen der letzten Jahre und Jahrzehnte nichts geändert hat. Weil ich weiterhin auf Twitter Videos von schwarzen Personen sehe, die unter den Körpern von weissen Polizisten „I can’t breathe“ ächzen und ich mir vorstelle, dass ich das sein könnte.
Weil ich weiss, dass nach etwa vier Wochen die Schreie verstummen, die Demonstrationen abebben werden. Für Weisse geht das Leben dann weiter, für Schwarze bleibt der Kampf.
Solche Protestaktionen rütteln Weisse immer wieder auf. Diese stets neu aufflammende Empörung bringt mich innerlich zum Lachen. Wenn mir jemand sagt, er sei „schockiert, dass dies heute noch so ist“: Die systematische Ausgrenzung hört nicht auf, wenn die Fernsehkameras nicht mehr vor Ort sind und Journalist*innen nicht mehr darüber schreiben. Systematische Ausgrenzung ist der bittere Alltag für viele Schwarze auf der Welt. Jeden Tag aufzustehen und für seinen Platz kämpfen zu müssen. Für viele Schwarze ist es ein Geschenk, am Abend wieder nach Hause zu kommen und noch am Leben zu sein. Nicht von jemandem angefeindet worden zu sein.
Es kann nicht sein, dass zuerst Schwarze sterben müssen, damit wir wieder aufschreien. Wie viele George Floyds müssen noch sterben, bis der Hashtag „Black Lives Matter“ wieder ein trending topic ist? Wie viele Trayvon Martins müssen vom Nachbarn erschossen werden, bis wir auf Instagram wieder ein schwarzes Bild hochladen? Wenn es immer wieder Kollateralschaden braucht, damit etwas passiert, dann wird es immer wieder Proteste geben. Dann werden die Schwarzen laut.
Mich widert es an, dass es Tote braucht, damit die Leute sehen, dass das Problem noch da ist. Dass das Problem nicht verschwindet, weil Barack Obama Präsident war. Dass das Problem nicht verschwindet, weil man Hip Hop oder Blues konsumiert und schwarze Musiker*innen feiert. Das Privileg, auf sozialen Medien Empörung zu äussern und am nächsten Tag als Weisse frei leben zu können, sollte langsam, aber sicher allen bewusst werden. Hinter diesen Hashtags verbirgt sich der alltägliche Kampf schwarzer Menschen.
Wenn man sich als Weisse jetzt fragt, was man machen kann, um zu helfen: Seid laut! Wenn jemand das N‑Wort benutzt, sprecht die Person darauf an. Seid unbequem und beginnt eine Diskussion. Ich kann euch sagen, es wird keine leichte und erfreuliche Diskussion. Aber glaubt mir, Wortfetzen sind nichts, verglichen mit den Anfeindungen, die Schwarze weltweit jeden Tag erleben. Und wenn ihr nach eurem „Aufschrei“ die kalte Schulter eines Täters erhalten solltet, dann sollte euch der Standpunkt und der Charakter der Person ziemlich bewusst sein.
Ich möchte etwas klarstellen: Dieser Text soll kein Mitleid wecken. Ich spreche auch nicht für alle Schwarze in der Schweiz, in Europa oder weltweit. Es sind meine Gedanken und meine Erfahrungen als schwarze Frau, die seit Geburt in einem weissen Umfeld aufgewachsen ist und ihr Leben mit den vorhandenen Privilegien und Nachteilen navigiert. Und dank dieser Erfahrungen habe ich gelernt, wachsamer zu sein und – was sehr wichtig ist – zu kämpfen. Für mich, für meine Familie und für alle anderen, die nicht kämpfen können. Mein Rezept, um schwierige Momente und Gedanken zu überstehen: viel Selbstliebe. Die Gesellschaft lässt es manchmal nicht zu, dass wir uns lieben. Deshalb lieben wir uns selbst immer mehr.
Und jetzt, wenn ich mich frage, was es bedeutet, schwarz zu sein, sage ich:
- Schwarz zu sein bedeutet, dass man füreinander da ist und mitfühlt.
- Schwarz zu sein bedeutet, dass man mit Stolz die Erfolge von anderen Schwarzen feiert.
- Schwarz zu sein bedeutet, dass man jeden Tag mit seiner Hautfarbe seine Herkunft zelebriert.
- Schwarz zu sein bedeutet, dass man trotz Problemen und Sorgen jeden Tag aufsteht und aufs Neue die Welt für sich gestaltet.
- Schwarz zu sein bedeutet, für seine Rechte stark zu sein und laut zu werden.
- Schwarz zu sein bedeutet, schön zu sein.
- Schwarz zu sein bedeutet, sich zu lieben.
- Schwarz zu sein bedeutet, dass man das Recht hat, zu leben.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 6 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 572 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 210 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 102 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?