Sie betritt den Kiosk, der Boden spiegelt das kalte Licht der Kühlschränke. Ohne zu Zögern greift sie ins Regal, die Hand umschliesst zielsicher eine grell beleuchtete Coladose. Das Video einer jungen Tiktok-Userin dauert nur wenige Sekunden und ist mit einer kindlichen Melodie unterlegt. Der Moment wirkt feierlich, als ginge es nicht um einen blossen Kaufakt, sondern um ein kleines Ritual. Der Text über der Szene fasst das heraufbeschworene Gefühl zusammen: „POV: Es ist 6 Uhr und du holst dir ein ✨Spassgetränk✨, um die 8,5 Std Arbeit zu meistern.“
Es gibt unzählige Clips dieser Art, die immer häufiger auf TikTok, Insta und Co. auftauchen. „Die einzige Motivation des Tages“, steht unter einem ähnlichen Video. Meist sind es junge Menschen – Studierende oder Arbeitstätige –, die diesen kurzen Moment ihres Alltags humorvoll inszenieren. Der Mix aus Koffein und Zucker ist längst mehr als eine Gewohnheit – er ist der letzte Strohhalm des Arbeitstages, inszeniert als spassiger Genuss, gar als kleines Stück Freiheit. Letztlich geht es immer um dasselbe: um das, was die Gen Z als Spassgetränk bezeichnet, um den Alltag zu überstehen.
Trinket euch leistungsfähig!
Dass sich eine ganze Generation aber mit Energy Drinks, Cola und Mate durch den Tag rettet, ist nicht lediglich ein geschmacklicher Trend – sondern ein Symptom der Leistungsgesellschaft. Denn Müdigkeit gilt in heutiger Gesellschaft als Schwäche, Produktivität als Selbstverständlichkeit. Der Konsum dieser Getränke dient damit nicht nur der Erfrischung und schon gar nicht dem Spass, sondern erfüllt eine Funktion: Er soll boosten, um einen Alltag zu bewältigen, der von konstantem Leistungsdruck durchzogen ist.
Red Bull verleiht nicht dir selbst, sondern vor allem dem Kapitalismus und dem Konto deines Arbeitgebers Flügel.
Konkurrenz gilt als hoher Wert marktwirtschaftlicher Freiheit – sei es in Schule, Universität oder Beruf. Der Druck beginnt schon im Kindesalter beim Wettstreit um Noten: Mehr als die Hälfte der Primarschüler*innen leidet unter Leistungsdruck, der sich im Erwachsenenalter verstärkt. Gemäss einer CSS-Studie berichten 68 Prozent der befragten Schweizer*innen von häufiger Müdigkeit und Erschöpfung.
Klar ist: Ob es um Noten, die Einkommensquelle oder den Wohnungsmarkt geht – Gewinner*innen und Verlierer*innen muss es im Kapitalismus immer geben. Genau deshalb entsteht ein innerer Produktivitätszwang, der sich wie ein Naturgesetz anfühlt. Man muss leistungsbereit sein, um zu funktionieren und im Idealfall besser als andere zu sein. Wer nicht mithält, droht unterzugehen. Die Angst vor sozialem Abstieg und Arbeitslosigkeit hält die Arbeiter*innen bei der Stange – und an der Flasche mit den Spassgetränken.
Wer im Wettbewerb um Erfolg und Geld gewinnt, verhindert nicht nur seine eigene Armut oder stärkt sein Ego, sondern bereichert vor allem seine Arbeitgeber. Ihre Profite werden von unserer Leistungsfähigkeit, Resilienz und Stressmanagement angekurbelt. Somit verleiht Red Bull nicht dir selbst, sondern vor allem dem Kapitalismus und dem Konto deines Arbeitgebers Flügel.
Koffein ist schon lange ein Mittel der herrschenden Klasse
Die Vorstellung, Erschöpfung einfach wegtrinken zu können, ist keine neue Erfindung. Was heute als selbstverständlicher Koffeinkonsum erscheint, war einst ein von den Fabrikbesitzern gezielt eingesetztes Mittel zur Produktivitätssteigerung ihrer Arbeiter*innen. Ursprünglich ein Luxusgut der Oberschicht, wurde Kaffee im 19. Jahrhundert zum Schmiermittel des Proletariats und Motor des Kapitalismus, als Fabrikbesitzer erkannten, dass Koffein die Arbeitsleistung ihrer Angestellten steigerte. Sie förderten den Konsum gezielt, um die Arbeiter*innen über lange Schichten hinweg wach und produktiv zu halten – nicht aus Genuss, sondern als betriebswirtschaftlich kalkulierte Massnahme gegen Erschöpfung und Leistungsnachlass.
Die Gen Z betrachtet ihre Koffeinabhängigkeit mit Ironie und Distanz.
Nach wie vor ist Koffein fester Bestandteil der Arbeitswelt – ob als schneller Espresso-to-go vor dem ersten Meeting, als Griff zum Mate in der Mittagspause oder der ritualisierte Gang zur Kaffeemaschine als Atempause. Doch während der Koffeinkonsum früher eine offen betriebene Strategie der Arbeitgebenden war, hat sich der Zwang, leistungsfähig zu bleiben, in einen subtilen, verinnerlichten Produktivitätsdruck verwandelt. Der äussere Druck von einst erscheint heute als individuelle Entscheidung – und doch folgt er der gleichen Logik.
Frühere Generationen betrachteten den morgendlichen Kaffee als selbstverständliches Ritual, während die Gen Z ihre kalkulierte Abhängigkeit mit einer Mischung aus Ironie und Distanz ummantelt. Müdigkeit wird nicht mehr nur ertragen, sondern inszeniert – als Social-Media-Trend, als stilisierte Pose, als ästhetisches Fragment digitaler Selbstdarstellung. Doch diese ironische Brechung ist keine Form des Widerstands, sondern verstärkt vielmehr die Widersprüche: Indem Erschöpfung humorvoll verpackt und in kleine, teilbare Momente gegossen wird, entsteht keine kritische Auseinandersetzung mit dem Problem. Es ist bloss eine spielerische Akzeptanz der Umstände – ein Mittel, das scheinbar Unvermeidliche zu ästhetisieren, anstatt es zu hinterfragen und zu verändern.
Werbung für Wachheit
Seitdem die Getränkeindustrie den Produktivitätszwang als Treiber für Konsum erkannt hat, nutzt sie ihn gezielt für ihre Werbestrategien. Energy Drinks, Cola und Mate werden nicht mehr bloss als Erfrischungen beworben, sondern als essenzielle Werkzeuge zur Bewältigung des modernen Alltags. PRIME, das Hype-Getränk zweier YouTube-Stars, inszeniert sich so als „der ultimative Durstlöscher, um deinen Tag zu erobern“ – nicht einfach nur ein Getränk, sondern ein unverzichtbarer Begleiter im Kampf gegen Erschöpfung. Auch Monster Energy transportiert dieselbe Botschaft: Erfolg braucht Treibstoff.
Spassgetränke erleichtern das Leben nicht – sie sind ein Mittel, um einen Alltag zu überstehen, der ohne permanente Stimulanzien kaum zu bewältigen ist.
Diese Werbeversprechen sind mehr als clevere Verkaufsstrategien – sie erschaffen eine Erzählung, die tief in der kapitalistischen Logik verwurzelt ist. Marx beschreibt diesen Mechanismus als Warenfetischismus: Ein Produkt wird nicht mehr nur für seinen unmittelbaren Nutzen geschätzt, sondern mit einer symbolischen Bedeutung aufgeladen, die weit über seine eigentliche Funktion hinausgeht.
Diese Verwandlung von Ware in symbolhafte Bedeutung zeigt sich besonders deutlich in den eingangs beschriebenen TikTok-Videos über Spassgetränke. Während die Konsument*innen in diesen Videos im Mittelpunkt stehen, bleiben die Produktionsverhältnisse hinter den vermeintlichen Spassgetränken unsichtbar. Die Menschen in den Abfüllanlagen, die Fabrikarbeiter*innen, die LKW-Fahrer*innen, die das Produkt in die Supermärkte und Spätis bringen, die wiederum kurze Zeit später die Leistung anderer Arbeiter*innen steigern sollen – all diese reale Arbeit verschwindet hinter der glänzenden Oberfläche der Markenästhetik. Das Werbeversprechen lautet Energie- und Leistungssteigerung, doch die Frage, wer die eigentliche Arbeit hinter diesen Produkten verrichtet, bleibt ebenso ausgeblendet, wie die Frage nach der Sinnhaftigkeit der unendlichen Steigerung.
Spassgetränke befreien uns nicht
Die Popularität der sogenannten Spassgetränke ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer Verwertungslogik, in der der Körper nicht als lebendiges Wesen mit natürlichen Grenzen gilt, sondern als Maschine, die jederzeit funktionieren muss. Müdigkeit und Erschöpfung werden nicht als sinnvolles Signal ernst genommen, sondern als Störung, die es zu überbrücken gilt. Personen, die chronisch unter Erschöpfung leiden, dürfen in dieser Logik nicht existieren und werden daher systematisch ausgeblendet, verharmlost und negiert.
Mit koffeinhaltigen Spassgetränken gelingt es dem Kapitalismus einmal mehr, selbst die Symptome seiner eigens produzierten Überforderung in eine Ware zu verwandeln und sie gewinnbringend an jene zurück zu verkaufen, die darunter leiden. Spassgetränke erleichtern das Leben nicht – sie sind ein Mittel, um einen Alltag zu überstehen, der ohne permanente Stimulanzien kaum zu bewältigen ist, und dehnen die Grenzen des Machbaren aus. Die eigentliche Frage sollte daher nicht sein, wie wir uns noch besser anpassen und aufputschen können, sondern wie wir aus diesem System gemeinsam herausfinden können.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 39 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 2288 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 1365 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 663 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?