Wenig Spass mit Leistungsgetränken

Koffe­in­hal­tige „Spass­ge­tränke“ sollen uns durch die langen Arbeits- oder Studi­en­tage bringen. Was auf sozialen Medien als humor­volles Ritual gefeiert wird, ist Ausdruck einer kapi­ta­li­sti­schen Gesell­schaft, die Erschöp­fung als Schwäche und Leistungs­fä­hig­keit als Pflicht kultiviert. 
Der normalisierte Konsum leistungssteigernder Koffeingetränke suggeriert, dass der menschliche Körper eine unerschöpfliche Ressource ist und Müdigkeit einfach weggespült werden kann. (Illustration: Luca Mondgenast)

Sie betritt den Kiosk, der Boden spie­gelt das kalte Licht der Kühl­schränke. Ohne zu Zögern greift sie ins Regal, die Hand umschliesst ziel­si­cher eine grell beleuch­tete Cola­dose. Das Video einer jungen Tiktok-Userin dauert nur wenige Sekunden und ist mit einer kind­li­chen Melodie unter­legt. Der Moment wirkt feier­lich, als ginge es nicht um einen blossen Kaufakt, sondern um ein kleines Ritual. Der Text über der Szene fasst das herauf­be­schwo­rene Gefühl zusammen: „POV: Es ist 6 Uhr und du holst dir ein ✨Spass­ge­tränk✨, um die 8,5 Std Arbeit zu meistern.“

Es gibt unzäh­lige Clips dieser Art, die immer häufiger auf TikTok, Insta und Co. auftau­chen. „Die einzige Moti­va­tion des Tages“, steht unter einem ähnli­chen Video. Meist sind es junge Menschen – Studie­rende oder Arbeits­tä­tige –, die diesen kurzen Moment ihres Alltags humor­voll insze­nieren. Der Mix aus Koffein und Zucker ist längst mehr als eine Gewohn­heit – er ist der letzte Stroh­halm des Arbeits­tages, insze­niert als spas­siger Genuss, gar als kleines Stück Frei­heit. Letzt­lich geht es immer um dasselbe: um das, was die Gen Z als Spass­ge­tränk bezeichnet, um den Alltag zu überstehen.

Trinket euch leistungsfähig!

Dass sich eine ganze Gene­ra­tion aber mit Energy Drinks, Cola und Mate durch den Tag rettet, ist nicht ledig­lich ein geschmack­li­cher Trend – sondern ein Symptom der Leistungs­ge­sell­schaft. Denn Müdig­keit gilt in heutiger Gesell­schaft als Schwäche, Produk­ti­vität als Selbst­ver­ständ­lich­keit. Der Konsum dieser Getränke dient damit nicht nur der Erfri­schung und schon gar nicht dem Spass, sondern erfüllt eine Funk­tion: Er soll boosten, um einen Alltag zu bewäl­tigen, der von konstantem Leistungs­druck durch­zogen ist.

Red Bull verleiht nicht dir selbst, sondern vor allem dem Kapi­ta­lismus und dem Konto deines Arbeit­ge­bers Flügel.

Konkur­renz gilt als hoher Wert markt­wirt­schaft­li­cher Frei­heit – sei es in Schule, Univer­sität oder Beruf. Der Druck beginnt schon im Kindes­alter beim Wett­streit um Noten: Mehr als die Hälfte der Primarschüler*innen leidet unter Leistungs­druck, der sich im Erwach­se­nen­alter verstärkt. Gemäss einer CSS-Studie berichten 68 Prozent der befragten Schweizer*innen von häufiger Müdig­keit und Erschöpfung.

Klar ist: Ob es um Noten, die Einkom­mens­quelle oder den Wohnungs­markt geht – Gewinner*innen und Verlierer*innen muss es im Kapi­ta­lismus immer geben. Genau deshalb entsteht ein innerer Produk­ti­vi­täts­zwang, der sich wie ein Natur­ge­setz anfühlt. Man muss leistungs­be­reit sein, um zu funk­tio­nieren und im Ideal­fall besser als andere zu sein. Wer nicht mithält, droht unter­zu­gehen. Die Angst vor sozialem Abstieg und Arbeits­lo­sig­keit hält die Arbeiter*innen bei der Stange – und an der Flasche mit den Spassgetränken.

Wer im Wett­be­werb um Erfolg und Geld gewinnt, verhin­dert nicht nur seine eigene Armut oder stärkt sein Ego, sondern berei­chert vor allem seine Arbeit­geber. Ihre Profite werden von unserer Leistungs­fä­hig­keit, Resi­lienz und Stress­ma­nage­ment ange­kur­belt. Somit verleiht Red Bull nicht dir selbst, sondern vor allem dem Kapi­ta­lismus und dem Konto deines Arbeit­ge­bers Flügel.

Koffein ist schon lange ein Mittel der herr­schenden Klasse

Die Vorstel­lung, Erschöp­fung einfach wegtrinken zu können, ist keine neue Erfin­dung. Was heute als selbst­ver­ständ­li­cher Koffe­in­konsum erscheint, war einst ein von den Fabrik­be­sit­zern gezielt einge­setztes Mittel zur Produk­ti­vi­täts­stei­ge­rung ihrer Arbeiter*innen. Ursprüng­lich ein Luxusgut der Ober­schicht, wurde Kaffee im 19. Jahr­hun­dert zum Schmier­mittel des Prole­ta­riats und Motor des Kapi­ta­lismus, als Fabrik­be­sitzer erkannten, dass Koffein die Arbeits­lei­stung ihrer Ange­stellten stei­gerte. Sie förderten den Konsum gezielt, um die Arbeiter*innen über lange Schichten hinweg wach und produktiv zu halten – nicht aus Genuss, sondern als betriebs­wirt­schaft­lich kalku­lierte Mass­nahme gegen Erschöp­fung und Leistungsnachlass.

Die Gen Z betrachtet ihre Koffe­in­ab­hän­gig­keit mit Ironie und Distanz.

Nach wie vor ist Koffein fester Bestand­teil der Arbeits­welt – ob als schneller Espresso-to-go vor dem ersten Meeting, als Griff zum Mate in der Mittags­pause oder der ritua­li­sierte Gang zur Kaffee­ma­schine als Atem­pause. Doch während der Koffe­in­konsum früher eine offen betrie­bene Stra­tegie der Arbeit­ge­benden war, hat sich der Zwang, leistungs­fähig zu bleiben, in einen subtilen, verin­ner­lichten Produk­ti­vi­täts­druck verwan­delt. Der äussere Druck von einst erscheint heute als indi­vi­du­elle Entschei­dung – und doch folgt er der glei­chen Logik.

Frühere Gene­ra­tionen betrach­teten den morgend­li­chen Kaffee als selbst­ver­ständ­li­ches Ritual, während die Gen Z ihre kalku­lierte Abhän­gig­keit mit einer Mischung aus Ironie und Distanz umman­telt. Müdig­keit wird nicht mehr nur ertragen, sondern insze­niert – als Social-Media-Trend, als stili­sierte Pose, als ästhe­ti­sches Frag­ment digi­taler Selbst­dar­stel­lung. Doch diese ironi­sche Brechung ist keine Form des Wider­stands, sondern verstärkt viel­mehr die Wider­sprüche: Indem Erschöp­fung humor­voll verpackt und in kleine, teil­bare Momente gegossen wird, entsteht keine kriti­sche Ausein­an­der­set­zung mit dem Problem. Es ist bloss eine spie­le­ri­sche Akzep­tanz der Umstände – ein Mittel, das scheinbar Unver­meid­liche zu ästhe­ti­sieren, anstatt es zu hinter­fragen und zu verändern.

Werbung für Wachheit

Seitdem die Geträn­ke­indu­strie den Produk­ti­vi­täts­zwang als Treiber für Konsum erkannt hat, nutzt sie ihn gezielt für ihre Werbe­stra­te­gien. Energy Drinks, Cola und Mate werden nicht mehr bloss als Erfri­schungen beworben, sondern als essen­zi­elle Werk­zeuge zur Bewäl­ti­gung des modernen Alltags. PRIME, das Hype-Getränk zweier YouTube-Stars, insze­niert sich so als „der ulti­ma­tive Durst­lö­scher, um deinen Tag zu erobern“ – nicht einfach nur ein Getränk, sondern ein unver­zicht­barer Begleiter im Kampf gegen Erschöp­fung. Auch Monster Energy trans­por­tiert dieselbe Botschaft: Erfolg braucht Treibstoff.

Spass­ge­tränke erleich­tern das Leben nicht – sie sind ein Mittel, um einen Alltag zu über­stehen, der ohne perma­nente Stimu­lan­zien kaum zu bewäl­tigen ist.

Diese Werbe­ver­spre­chen sind mehr als clevere Verkaufs­stra­te­gien – sie erschaffen eine Erzäh­lung, die tief in der kapi­ta­li­sti­schen Logik verwur­zelt ist. Marx beschreibt diesen Mecha­nismus als Waren­fe­ti­schismus: Ein Produkt wird nicht mehr nur für seinen unmit­tel­baren Nutzen geschätzt, sondern mit einer symbo­li­schen Bedeu­tung aufge­laden, die weit über seine eigent­liche Funk­tion hinausgeht. 

Diese Verwand­lung von Ware in symbol­hafte Bedeu­tung zeigt sich beson­ders deut­lich in den eingangs beschrie­benen TikTok-Videos über Spass­ge­tränke. Während die Konsument*innen in diesen Videos im Mittel­punkt stehen, bleiben die Produk­ti­ons­ver­hält­nisse hinter den vermeint­li­chen Spass­ge­tränken unsichtbar. Die Menschen in den Abfüll­an­lagen, die Fabrikarbeiter*innen, die LKW-Fahrer*innen, die das Produkt in die Super­märkte und Spätis bringen, die wiederum kurze Zeit später die Leistung anderer Arbeiter*innen stei­gern sollen – all diese reale Arbeit verschwindet hinter der glän­zenden Ober­fläche der Marken­äs­thetik. Das Werbe­ver­spre­chen lautet Energie- und Leistungs­stei­ge­rung, doch die Frage, wer die eigent­liche Arbeit hinter diesen Produkten verrichtet, bleibt ebenso ausge­blendet, wie die Frage nach der Sinn­haf­tig­keit der unend­li­chen Steigerung.

Spass­ge­tränke befreien uns nicht

Die Popu­la­rität der soge­nannten Spass­ge­tränke ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer Verwer­tungs­logik, in der der Körper nicht als leben­diges Wesen mit natür­li­chen Grenzen gilt, sondern als Maschine, die jeder­zeit funk­tio­nieren muss. Müdig­keit und Erschöp­fung werden nicht als sinn­volles Signal ernst genommen, sondern als Störung, die es zu über­brücken gilt. Personen, die chro­nisch unter Erschöp­fung leiden, dürfen in dieser Logik nicht existieren und werden daher syste­ma­tisch ausge­blendet, verharm­lost und negiert.

Mit koffe­in­hal­tigen Spass­ge­tränken gelingt es dem Kapi­ta­lismus einmal mehr, selbst die Symptome seiner eigens produ­zierten Über­for­de­rung in eine Ware zu verwan­deln und sie gewinn­brin­gend an jene zurück zu verkaufen, die darunter leiden. Spass­ge­tränke erleich­tern das Leben nicht – sie sind ein Mittel, um einen Alltag zu über­stehen, der ohne perma­nente Stimu­lan­zien kaum zu bewäl­tigen ist, und dehnen die Grenzen des Mach­baren aus. Die eigent­liche Frage sollte daher nicht sein, wie wir uns noch besser anpassen und aufput­schen können, sondern wie wir aus diesem System gemeinsam heraus­finden können.


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