Wenn Bundes­bern gegen unten tritt

Mit der Erhö­hung der Mindest­fran­chise stei­gert Bundes­bern den Druck auf Kran­ken­ver­si­cherte, die mit wenig Geld auskommen müssen, weiter. Gleich­zeitig geraten die Prämi­en­ver­bil­li­gungen in den Kantonen weiter in Bedrängnis. Das alles spielt denje­nigen Parteien in die Karten, die seit jeher am letzten Sicher­heits­netz der Schweiz zehren – der Sozi­al­hilfe. Ein Kommentar. 
Hier wird über das Leben der vielen entschieden - manche werden auch vergessen (Foto: Claudio Schwarz / Unsplash)

Als Philo­mena Colat­rella (49), Chefin der CSS-Kran­ken­kasse, am 14.04.2018 in einem Blick-Inter­view an die Eigen­ver­ant­wor­tung der Versi­cherten appel­lierte und die Idee von einer Erhö­hung der fixen Mindest­fran­chise von 300 Franken auf „5000 Franken oder 10’000 Franken“ ins Spiel brachte, erntete sie nur Kopfschütteln.

Dabei wollte Colat­rella mit ihrem Vorschlag nach eigenen Aussagen nur darauf aufmerksam machen, dass die stei­genden Kosten der Grund­ver­si­che­rung durch eine höhere Mindest­fran­chise abge­fe­dert werden könnten. Die Mindest­fran­chise ist die kleinste mögliche Fran­chise, die sich Versi­cherte aussu­chen können. Hinter der Fran­chise steckt die Idee, dass Versi­cherte weniger schnell zum Arzt rennen, wenn sie die ersten 300 Franken ihrer Gesund­heits­ko­sten selber über­nehmen müssen. Die Fran­chise ist ab einem Betrag von 300 Franken frei wählbar: Wer eine tiefere Kran­ken­kas­sen­prämie möchte, wählt eine höhere Fran­chise. Ist die Fran­chise einmal bezahlt, zahlen Versi­cherte pro Behand­lung einen Selbst­be­halt von 10 %.

Nach Berech­nungen der CSS wäre das Spar­po­ten­zial einer solchen Erhö­hung bei bis zu einer Milli­arde Franken. So würde die Eigen­ver­ant­wor­tung der Versi­cherten gestärkt. Und man fordere ja nicht nur eine Erhö­hung der Mindest­fran­chise, hielt die Medi­en­spre­cherin der CSS-Versi­che­rung fest: „Wir wollen die Soli­da­rität nicht aushe­beln, es braucht eine finan­zi­elle Abfe­de­rung für sozial Schwächere.“

Dass Frau Colat­rella mit ihrem Rekord­lohn von 743’766 Franken im Jahr sich den Konse­quenzen ihrer Aussage nicht bewusst gewesen ist, bekam die CSS in den Tagen, die auf das Inter­view folgten, auch von ihren Kundinnen und Kunden zu spüren (nicht Frau Colat­rella natür­lich, sondern die schlechter bezahlten Call­center-Ange­stellten): Viele riefen besorgt bei der CSS-Versi­che­rung an und fragten, ob sie mit einer stei­genden Mindest­fran­chise rechnen müssen. Es stellte sich nämlich wenig über­ra­schend heraus, dass für viele Menschen in der Schweiz eine Erhö­hung der Fran­chise auf minde­stens 10’000 Franken eine massive finan­zi­elle Bela­stung wäre – und dass die Aussage, welche die CSS-Chefin mit einer gewissen Noncha­lance im Inter­view tätigte, bei vielen Versi­cherten existen­zi­elle Ängste auslöste.

Dies ist wenig über­ra­schend: Es ist bekannt, dass viele Menschen in der Schweiz gerade durch die stei­genden Kran­ken­kas­sen­prä­mien in finan­zi­elle Schwie­rig­keiten geraten. Stei­gende Fixaus­gaben durch die Fran­chise würden die sonst schon klammen Haus­halts­kassen weiter unter Druck setzen.

Auto­ma­tismus für die Franchise

Die Empö­rung über den über­am­bi­tio­nierten Vorschlag einer Kran­ken­kassen-Chefin flachte relativ schnell ab. Ganz erfolglos war aber ihr reso­lutes Vorpre­schen nicht: Die Idee, dass eine Fran­chisen­er­hö­hung ein prak­ti­sches Mittel zur Dämp­fung der immer stei­genden Gesund­heits­ko­sten sein könnte, hat sich in den Köpfen der Gesund­heits­po­li­ti­ke­rInnen eingenistet.

Jetzt hat der Bundesrat eine abge­schwächte Version des Vorschlages dem Parla­ment vorge­legt. Neu soll nicht mehr der Bundesrat über die Höhe der Mindest­fran­chise bestimmen. Diese soll neu auto­ma­tisch an die Kosten­ent­wick­lung in der obli­ga­to­ri­schen Grund­ver­si­che­rung ange­passt werden. Konkret schlägt der Bundesrat vor, jedes Mal, wenn die durch­schnitt­li­chen Brut­to­ko­sten für die Leistungen einer Person das 13-Fache der Mindest­fran­chise über­steigen, diese um 50 Franken zu erhöhen.

Was kompli­ziert klingt, lässt sich mit einem einfa­chen Rechen­bei­spiel illu­strieren: 2016 waren die durch­schnitt­li­chen Brut­to­ko­sten der Leistungen pro Person bei 3777 Franken; die Mindest­fran­chise liegt seit 2004 unver­än­dert bei 300 Franken. Das ergibt ein Verhältnis von 1:12. Doch die durch­schnitt­li­chen Brut­to­ko­sten steigen stetig, wie eine Stati­stik des Bundes zeigt: Durch­schnitt­lich steigen die Kosten um etwa 4 % pro Jahr. Stimmt das Parla­ment also dem Auto­ma­tismus zu, ist alle drei bis vier Jahre mit einer Erhö­hung von 50 Franken zu rechnen.

Der Bundesrat begründet diese weit­rei­chende Ände­rung des Bundes­ge­setzes über die Kran­ken­ver­si­che­rung auf die gleiche Weise, wie es Philo­mena Colat­rella bei ihrem miss­ra­tenen Vorschlag anfangs Jahr tat: Durch die Erhö­hung der Mindest­fran­chise soll die Eigen­ver­ant­wor­tung der Versi­cherten geför­dert werden und „die Höhe der von ihnen verur­sachten Kosten ins Bewusst­sein bringen“. Die Spar­wir­kung der Mass­nahme sieht der Bundesrat aller­dings verhalten. Bei früheren Prämi­en­er­hö­hungen sei kein solcher Effekt fest­ge­stellt worden, sagte er. „Man darf keine Wunder erwarten“, sagte Alain Berset.

Prämi­en­ver­bil­li­gungen sollen es richten

Im Natio­nalrat nahmen SVP, FDP und CVP den Ball trotzdem dankend auf und wollten sogar über eine direkte Erhö­hung der Mindest­fran­chise auf 500 Franken abstimmen. Aus Zeit­mangel wurde dieser Entscheid aber vertagt.

Wie bereits Philo­mena Colat­rella, wiesen auch bürger­liche Poli­ti­ke­rInnen darauf hin, dass es eine soziale Abfe­de­rung für soziale Schwä­chere brauche; etwa die kanto­nalen Prämi­en­ver­bil­li­gungen. So meinte etwa Chri­stian Lohr von der CVP: „Wir sind über­zeugt davon, dass es genü­gend Mittel gibt, um diesen Menschen Unter­stüt­zung zu bieten.“

Die gesetz­li­chen Prämi­en­ver­bil­li­gungen stehen allen Menschen zu, die in „beschei­denen wirt­schaft­li­chen Verhält­nissen“ leben. Wer diese Defi­ni­tion erfüllt, bestimmen die Kantone selber. Und diese Defi­ni­tion schliesst bei stei­gendem Spar­druck in den Kantonen vermehrt Menschen der unteren Mittel­schicht aus.  Seit 2012 haben über 163’000 Menschen ihr Anrecht auf diese Prämi­en­ver­bil­li­gungen verloren.

Gleich­zeitig nehmen die Kosten für die Kantone für die Prämi­en­ver­bil­li­gungen weiter zu. Was zuerst paradox klingt, kann einfach erklärt werden: Die Prämi­en­ver­bil­li­gungen sind an die Entwick­lung der Kran­ken­kas­sen­prä­mien gekop­pelt. Je höher die Kran­ken­kas­sen­prämie, desto höher müssen auch die Ausgaben für Kran­ken­kas­sen­prä­mien sein. Aber das ist nicht der einzige Grund. Können Versi­cherte ihre Prämie nicht bezahlen, dann kann die Kran­ken­kasse beim Kanton bis zu 85 % der ausste­henden Prämien mit Verlust­scheinen zurück­for­dern. Und diese Verlust­scheine haben durch die stei­genden Kran­ken­kas­sen­prä­mien weiter zuge­nommen: Zwischen 2013 bis 2017 sind die Gesamt­ko­sten für diese um 60 % oder 130 Millionen gestiegen. Ausserdem zahlen die Kantone aus dem Topf der Prämi­en­ver­bil­li­gungen auch die Prämi­en­ver­bil­li­gungen für die Ergän­zungs­lei­stungs- und Sozi­al­hil­fe­be­zü­ge­rInnen – beides Kosten­po­sten, die stetig steigen.

Am Ende zahlt die Sozialhilfe

Obwohl also immer weniger Menschen aus dem unteren Mittel­stand Anspruch auf kanto­nale Prämi­en­ver­bil­li­gungen haben, steigen dort die Kosten. Die Kantone sind indes nicht bereit, die Budget­po­sten für Prämi­en­ver­bil­li­gungen entspre­chend zu erhöhen. „Viele Kantone vernach­läs­sigen die Prämi­en­ver­bil­li­gungen und ihre finan­zi­ellen Beiträge bleiben hinter der allge­meinen Entwick­lung der Kran­ken­kas­sen­prä­mien zurück“, stellt Caritas Schweiz konster­niert fest. „Eine solche Entwick­lung bestraft die Haus­halte des unteren Mittel­standes und führt viele Fami­lien in die Verarmung.“

Durch die Vorlage, welcher der Natio­nalrat zustimmte, soll die Mindest­fran­chise – und somit der finan­zi­elle Druck auf einkom­mens­schwache Haus­halte – jetzt noch weiter erhöht werden. Daraus werden zwangs­läufig höhere Kosten für die Sozi­al­hilfe entstehen, wie der Bundesrat in seiner Vorlage selber zugibt. Die Erhö­hung der Fran­chise könnte mehr Versi­cherte dazu veran­lassen, Sozi­al­hilfe zu bean­tragen. „Aus diesem Grund sind tenden­ziell höhere Sozi­al­hil­fe­aus­gaben zu erwarten.“

So sieht die soziale Abfe­de­rung aus, von welcher die Versi­che­rungs­ver­tre­te­rInnen und bürger­liche Poli­ti­ke­rInnen spre­chen. Der finan­zi­elle Druck der stei­genden Gesund­heits­ko­sten wird in einem ersten Schritt auf die Prämi­en­ver­bil­li­gungen abge­wälzt. Da die klammen Kantons­kassen mit den Prämi­en­ver­bil­li­gungen aber sowohl die Kosten­stei­ge­rung der Kran­ken­kas­sen­prämie als auch die daraus entste­hende Explo­sion der Verlust­scheine berappen müssen, werden in Zukunft zwangs­läufig noch mehr Menschen ihren Anspruch auf Prämi­en­ver­bil­li­gungen verlieren. Auffangen muss das Ganze – wie bereits die Leistungs­sen­kungen der IV – die Sozialhilfe.

So wird der finan­zi­elle Druck von einer poli­ti­schen Ebene auf die nächste weiter­ge­geben, bis er im letzten Siche­rungs­netz landet. Bundesrat und Natio­nalrat liefern ihren kanto­nalen Toch­ter­par­teien, welche in den Kantonen die Erhö­hung der Prämi­en­ver­bil­li­gungen bekämpfen und die Kosten der Sozi­al­hilfe poli­tisch instru­men­ta­li­sieren, gross­zügig die erfor­der­li­chen Argumente.

Aller­dings muss man dem Bundesrat zugute halten, dass die Erhö­hung der Mindest­fran­chise nicht sein einziger Vorschlag ist, um die Gesund­heits­ko­sten in den Griff zu bekommen: Mit seinem Mass­nah­men­paket für die Dämp­fung von Gesund­heits­ko­sten, welches bis Ende Jahr in der Vernehm­las­sung bei den Kantonen ist, versucht er, alle entschei­denden Akteure (also auch Bund, Kanton, Phar­ma­in­du­strie und Kran­ken­ver­si­che­rungen) zur „Wahr­neh­mung ihrer Verant­wor­tung“ zu verpflichten. Man darf gespannt sein.

 


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