733 Gramm Plastik­ver­packung für 63 Gramm Kosmetik

Sie ist fast ein Kilo schwer, stinkt wider­lich und trägt den Schriftzug „NAKED“. Die Rede ist von einer Verpackung aus dem Hause L’Oréal, die zehnmal mehr wiegt als das, was sie verpackt. Trotzdem findet L’Oréal die Verpackung okay. 
Füllt den Gepäckträger gut aus – die Verpackung für 63 Gramm Lidschatten von L'Oréal mit dem Namen „Naked – Urban Decay 4some". (Foto: Alexandra Tiefenbacher)

Kurz vor Weih­nachten stiess eine Lamm-Redak­torin per Zufall auf eine braune Box. Sie war etwa so gross wie die Gesamt­aus­gabe von Friends auf DVD. Aber ein wenig schwerer. Sie lag in der Nähe der nobel­sten Zürcher Shop­ping-Meile, der Bahn­hofstrasse. Im Gestrüpp. Doch trotz des Gewichts erwies sie sich als leer. Ledig­lich ein beis­sender Plastik­ge­ruch stieg der Lamm-Repor­terin beim Öffnen der Box in die Nase. Wofür die Box mit den vier Einbuch­tungen auf der Seite und dem Loch in der Mitte als Verpackung hätte dienen können, war ihr schlei­er­haft – da half auch der Schriftzug „NAKED“ auf der Box nicht weiter.

Nach einer kurzen Online­suche war klar: Ich hatte eine Verpackung für Schminke der Marke Urban Decay aus dem Hause L’Oréal vor mir. „Naked Urban Decay 4some“ lautet die genaue Bezeich­nung des Produkts. Bei der frag­li­chen Verpackung handelt es sich um die Über­bleibsel eines Weih­nachts­spe­cials, das 48 verschie­dene Lidschatten à 1,3 Gramm enthielt. Ange­ordnet in vier Farb­pa­letten. Stellt man die leere Verpackung auf die Waage, erscheint auf dem Display ein Gewicht von 733 Gramm. 733 Gramm Plastik für 63 Gramm Schminke. Ist das nicht ein wenig übertrieben?

Das deko­ra­tive Türm­chen sollte eigent­lich nütz­lich sein...

Nicht unbe­dingt, denn das Ding ist laut der Website eines Verkäu­fers nicht nur eine Verpackung, sondern ein nütz­li­ches „deko­ra­tives Türm­chen“, das sich als ultra-edles Samm­le­rInnen-Set präsen­tiert. Die vier Paletten bilden die Aussen­wände, innen bleibt Platz für Pinsel, Bürsten und Stifte.

Das Plastik­mon­ster ist also nicht nur als Verpackung gedacht, sondern auch als Aufbe­wah­rungsort für die edle Schminke. Als Zuhause für die Lidschat­ten­pa­letten und die zum Auftragen der Schminke benö­tigten Uten­si­lien soll es lang­fri­stig das heimi­sche Bade­zimmer zieren. Nur: Das versteht niemand. Nicht einmal die einge­fleischten Urban-Decay-Fans, wie etliche Videos beweisen.

Der Blick dieser Influen­cerin in das Loch in der Mitte der Verpackung sagt mehr als tausend Worte. Dieser Lady kann man fast 1,5 Minuten dabei zuschauen, wie sie versucht, die Lidschat­ten­boxen wieder in der Verpackung zu verstauen. Und die Youtuberin im folgenden Video, die hell begei­stert ist von Urban Decay, sagt: „There is a middle part in here… we don‚t know why…”:

https://www.youtube.com/watch?v=2ovaxrhW1mI&feature=youtu.be&t=2m52s

Viel­leicht inter­pre­tieren wir da zu viel rein. Aber ausge­hend von den Gesichts­aus­drücken dieser Damen könnte man durchaus auf die Idee kommen, dass sich der Verwen­dungs­zweck dieses Loches nicht intuitiv erschliesst. Und eine Anlei­tung für den Gebrauch der Plastikbox sucht man auf der Verpackung verge­bens. Viel­leicht ist das der Grund, weshalb die ursprüng­liche Besit­zerin die Box im Gebüsch entsorgte – und diese nun unser Lamm-Büro ziert. Oder aber sie wollte das Plastik­ding mit dem echt strengen Geruch schlichtweg nicht in ihrem Bade­zimmer rumstehen haben. Wie dem auch sei: An der Zürcher Bahn­hofstrasse wurde am besagten Abend achtlos fast ein Kilo­gramm Plastik wegge­schmissen, ohne je wirk­lich seinen Zweck erfüllt zu haben.

... wiegt aber schwer auf meinem CO2-Tagesbudget

Wäre es nicht von einem wohl­wol­lenden Lamm gerettet worden, so hätte das Plastik­türm­chen in der Kehricht­ver­bren­nungs­an­lage sein Ende gefunden. Dort hätte es sich vorwie­gend in das Klimagas CO2 verwan­delt. Laut Marco Jenni von der Klima­schutz­or­ga­ni­sa­tion mycli­mate entstehen dabei je nach Plastik­sorte zwischen zwei und drei Kilo­gramm CO2 pro Kilo­gramm Plastik­müll. Meine Box wiegt 733 Gramm. Ihre Verbren­nung hätte die Atmo­sphäre dementspre­chend mit 1,5 bis 2,2 Kilo­gramm CO2 belastet.

mycli­mate geht davon aus, dass jede Person auf dieser Welt maximal eine bis zwei Tonnen CO2 pro Jahr in die Atmo­sphäre pusten darf, wenn wir wollen, dass die Klima­ver­än­de­rung die Welt nicht total auf den Kopf stellt. Das sind 2,7 bis 5,5 Kilo­gramm CO2 pro Tag. Man rechne: Auch im wohl­wol­lend­sten Szenario verbraucht das Verbrennen der gefun­denen Schminkbox über einen Viertel meines CO2-Tages­bud­gets, nämlich 27 %. Unter dem schlech­te­sten Szenario ist mein Tages­budget gleich fast ganz (zu 81%) aufgebraucht.

Leider habe ich dann aber noch nichts gegessen, bin noch keinen Meter mit dem Auto gefahren und konnte noch keine einzige Seite meiner Bett­lek­türe im Schein der Nacht­tisch­lampe geniessen. Denn auch diese Dinge produ­zieren CO2. Und wenn schon das Verbrennen einer einzigen Verpackung einen Viertel aufge­zehrt hat, scheint es so gut wie unmög­lich, inner­halb des verträg­li­chen Tages­bud­gets zu bleiben. Dass die beim Verbrennen entste­hende Energie von den Betrei­be­rInnen der Verbren­nungs­an­lage in Form von Fern­wärme verkauft und damit immerhin für eine warme Dusche genutzt werden kann, ändert daran nicht viel.

Ist ein solch sorg­loser Umgang mit CO2-Emis­sionen heute noch vertretbar?

Ist es in Zeiten, wo man in Bern Bäume aus Zagreb pflanzen muss, weil das Klima immer wärmer wird oder sich die Regie­rung der Fidschi-Inseln nach einem Plätz­chen umhört, wohin man die Bevöl­ke­rung umsie­deln kann, weil der Meeres­spiegel ansteigt, noch ok, solche Plastik­mon­ster auf den Markt zu bringen? Darf man für die Verpackung von 63 Gramm Lidschatten 733 Gramm Plastik verwenden? Wir haben dieje­nigen gefragt, die es wissen sollten, denn sie haben das Verpackungs­mon­ster konzi­piert: L’Oréal.

Guten Tag

Ich arbei­tete während der Advents­zeit an einem Glüh­wein­stand in der Zürcher Innen­stadt. Dabei räumte ich immer wieder Sachen weg, welche die Leute nach ihren Shop­ping­touren bei uns liegen gelassen haben: vorige Plastik­tüten, leere Verpackungen und abge­schnit­tene Etiketten. Speziell aufge­fallen ist mir die Verpackung von NAKED 4some von Urban Decay. Die Verpackung wiegt 733g. Beinhalten tut sie 63g Schminke. Sie verkaufen hier also mehr als 10mal so viel Verpackungs­ma­te­rial wie Inhalt.

Auf ihrer Webseite habe ich gelesen, dass diese Verpackung eben nicht nur Verpackung sein soll, sondern auch ein Aufbe­wah­rungsort für die Schminke: „Das ultra-edel designte Sammler-Set präsen­tiert sich als deko­ra­tives Türm­chen: Die 4 Paletten bilden die Außen­wände, sodass innen Platz für Pinsel, Bürsten und Stifte ist. Das MUST HAVE des Jahres für Hard­core Makeup-Junkies!“

Einige Ihrer KundInnen wollen sich das Türm­chen aber offen­sicht­lich nicht ins Bade­zimmer stellen, sondern entsorgen es lieber direkt noch in der Innen­stadt. Ich fand das irgendwie komisch. Sollte man wirk­lich so viel wert­volles Erdöl für etwas verwenden, dass viel­leicht direkt in der Müll­ver­bren­nung landet und dort zu CO2 wird?

Was meinen Sie dazu? Würde man solche Verpackungen in der Zeit des Klima­wan­dels nicht besser aus dem Sorti­ment nehmen?

Vielen Dank für eine kurze Antwort, freund­liche Grüsse und einen guten Start ins neue Jahr wünscht Ihnen
Das Lamm

Nach mehr­ma­ligem Nach­haken erhielt das Lamm eine Antwort.

Guten Tag,

Vielen Dank für Ihre Nach­richt, die unsere volle Aufmerk­sam­keit erregt hat.

Urban Decay Naked 4some ist ein limi­tiertes Box-Set mit 4 Paletten Lidschatten, das letztes Jahr während der Weih­nachts­zeit vermarktet wurde.

L’Oréals Verpackungs­po­litik ist einer der Grund­pfeiler unseres Umwelt­schutz­pro­gramms. Seit mehreren Jahren schult der Konzern seine Teams für Verpackung, Entwick­lung, Marke­ting und Beschaf­fung in den Grund­sätzen des umwelt­freund­li­chen Ecode­signs mit dem Ziel, Verpackungen weniger schwer und ausla­dend zu machen und gene­rell ihre Auswir­kungen auf die Umwelt zu verrin­gern. Seit mehreren Jahren lässt L’Oréal nur noch Verpackungen mit Wald­zer­ti­fi­zie­rung zu, die zu minde­stens 90% aus verant­wor­tungs­voller Wald­be­wirt­schaf­tung stammen und zu minde­stens 50% die Zerti­fi­zie­rung des FSC® (Forest Steward­ship Council) tragen.

Die Verpackung und die Formu­lie­rung eines Kosme­tik­pro­dukts bilden ein dyna­mi­sches Paar, das gemeinsam betrachtet werden muss. Die primäre Rolle der Verpackung besteht darin, die Inte­grität und Qualität der Formu­lie­rung zu gewähr­lei­sten. Mehrere Para­meter tragen zur Auswahl der am besten geeig­neten Verpackung bei. Das Gewicht einer Verpackung in Rela­tion zum Gewicht eines Produkts zu setzen, ist nicht immer ein rele­vantes Krite­rium, insbe­son­dere bei einem Lidschatten, einem der leich­te­sten, aber auch empfind­lich­sten Kosmetikprodukte.

Urban Decay ist Teil des Nach­hal­tig­keits­an­satzes des Konzerns. 2017 hat die Marke z. B. Pro UD Contour Shapes­hifter entwickelt, ein profes­sio­neller Make-up Pinsel dessen Griff aus Recy­cling-Alumi­nium und Haare aus Recy­cling-Plastik­fla­schen besteht.

Für Fragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.

Freund­liche Grüsse,
Ihr Urban Decay Switz­er­land Team

Dass Urban Decay kürz­lich Schmink­pinsel aus Recy­cling-Alu produ­ziert hat oder dass das Papier an den Verpackungen zu 50% aus Wäldern mit einem Nach­hal­tig­keits­label stammen muss, welches auf unserer Verpackung nebenbei erwähnt aber fehlt, ist zwar nett. Erweckt aber gleich­zeitig den Anschein, als wollten hier ein paar Marke­ting­spe­zia­li­stInnen mit viel Green­wa­shing-Make-Up die unschöne Wahr­heit über­schminken, dass die Ecode­si­gne­rInnen von L’Oréal hier schlichtweg versagt haben. Denn an den enormen Mengen an CO2, welche diese Schminkbox dereinst produ­zieren wird, ändert auch der umwelt­freund­lichste Pinsel nichts.

So sieht echtes Ecode­sign aus, liebe Leute von L’Oréal

Wie man es besser macht, zeigt das finni­sche Start-up Sulapac. Es hat Verpackungen für Make-up, Seifen und Cremes auf der Basis von Holz entwickelt, die zu 100 % ökolo­gisch abbaubar sind. Zu feilen haben die Grün­de­rinnen Suvi Haimi und Laura Kyllönen laut einem Artikel in der Zeit­schrift enorm noch an der Mindest­halt­bar­keit ihrer Verpackungen. Eben weil sie sich voll­ständig natür­lich abbauen lassen, kann für das beinhal­tete Produkt nur eine limi­tierte Lebens­dauer gewähr­lei­stet werden. Diese liegt momentan bei einem Jahr. Die Entwick­le­rinnen streben aber eine Mindest­halt­bar­keit von drei Jahren an.

Auch wenn das Produkt noch nicht ganz ausge­reift ist: Das, was diese zwei Ladys hier entwickelt haben, ist echtes Ecode­sign. Im angeb­li­chen Ecode­sign von L’Oréal ist im Vergleich noch sehr viel Luft nach oben. Wäre es dem Riesen­kon­zern L’Oréal ernst mit seinem Umwelt­schutz­pro­gramm, hätte auch er längst eine Verpackung auf der Basis von Holz entwickelt. Denn die Forschungs­ab­tei­lung und das dazu­ge­hö­rige Budget über­trifft dasje­nige von Sulapac um ein Mehrfaches.

Der derzeit grösste Kosme­tik­her­steller der Welt mit einem Jahres­ge­winn von fast vier Milli­arden Euro (2014) hat aber offen­sicht­lich andere Prio­ri­täten. Eine ernüch­ternde Einsicht, die dadurch unter­mauert wird, dass L’Oréal unsere weiteren Nach­fragen zu ihrer Haltung gegen­über über­di­men­sio­nalen Plastik­ver­packungen bis dato igno­riert hat – kein Wunder: Dann nämlich müsste der Make-up-Goliath über seinen eigenen, dick aufge­tra­genen Lidschatten springen und zugeben, dass dieses Verpackungs­mon­ster unan­ge­bracht ist. Denn das, liebe Pseudo-Ecode­si­gne­rInnen von L’Oréal, ist die unge­schminkte Wahrheit.

 


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