Kurz vor Weihnachten stiess eine Lamm-Redaktorin per Zufall auf eine braune Box. Sie war etwa so gross wie die Gesamtausgabe von Friends auf DVD. Aber ein wenig schwerer. Sie lag in der Nähe der nobelsten Zürcher Shopping-Meile, der Bahnhofstrasse. Im Gestrüpp. Doch trotz des Gewichts erwies sie sich als leer. Lediglich ein beissender Plastikgeruch stieg der Lamm-Reporterin beim Öffnen der Box in die Nase. Wofür die Box mit den vier Einbuchtungen auf der Seite und dem Loch in der Mitte als Verpackung hätte dienen können, war ihr schleierhaft – da half auch der Schriftzug „NAKED“ auf der Box nicht weiter.
Nach einer kurzen Onlinesuche war klar: Ich hatte eine Verpackung für Schminke der Marke Urban Decay aus dem Hause L’Oréal vor mir. „Naked Urban Decay 4some“ lautet die genaue Bezeichnung des Produkts. Bei der fraglichen Verpackung handelt es sich um die Überbleibsel eines Weihnachtsspecials, das 48 verschiedene Lidschatten à 1,3 Gramm enthielt. Angeordnet in vier Farbpaletten. Stellt man die leere Verpackung auf die Waage, erscheint auf dem Display ein Gewicht von 733 Gramm. 733 Gramm Plastik für 63 Gramm Schminke. Ist das nicht ein wenig übertrieben?
Das dekorative Türmchen sollte eigentlich nützlich sein...
Nicht unbedingt, denn das Ding ist laut der Website eines Verkäufers nicht nur eine Verpackung, sondern ein nützliches „dekoratives Türmchen“, das sich als ultra-edles SammlerInnen-Set präsentiert. Die vier Paletten bilden die Aussenwände, innen bleibt Platz für Pinsel, Bürsten und Stifte.
Das Plastikmonster ist also nicht nur als Verpackung gedacht, sondern auch als Aufbewahrungsort für die edle Schminke. Als Zuhause für die Lidschattenpaletten und die zum Auftragen der Schminke benötigten Utensilien soll es langfristig das heimische Badezimmer zieren. Nur: Das versteht niemand. Nicht einmal die eingefleischten Urban-Decay-Fans, wie etliche Videos beweisen.
Der Blick dieser Influencerin in das Loch in der Mitte der Verpackung sagt mehr als tausend Worte. Dieser Lady kann man fast 1,5 Minuten dabei zuschauen, wie sie versucht, die Lidschattenboxen wieder in der Verpackung zu verstauen. Und die Youtuberin im folgenden Video, die hell begeistert ist von Urban Decay, sagt: „There is a middle part in here… we don‚t know why…”:
https://www.youtube.com/watch?v=2ovaxrhW1mI&feature=youtu.be&t=2m52s
Vielleicht interpretieren wir da zu viel rein. Aber ausgehend von den Gesichtsausdrücken dieser Damen könnte man durchaus auf die Idee kommen, dass sich der Verwendungszweck dieses Loches nicht intuitiv erschliesst. Und eine Anleitung für den Gebrauch der Plastikbox sucht man auf der Verpackung vergebens. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die ursprüngliche Besitzerin die Box im Gebüsch entsorgte – und diese nun unser Lamm-Büro ziert. Oder aber sie wollte das Plastikding mit dem echt strengen Geruch schlichtweg nicht in ihrem Badezimmer rumstehen haben. Wie dem auch sei: An der Zürcher Bahnhofstrasse wurde am besagten Abend achtlos fast ein Kilogramm Plastik weggeschmissen, ohne je wirklich seinen Zweck erfüllt zu haben.
... wiegt aber schwer auf meinem CO2-Tagesbudget
Wäre es nicht von einem wohlwollenden Lamm gerettet worden, so hätte das Plastiktürmchen in der Kehrichtverbrennungsanlage sein Ende gefunden. Dort hätte es sich vorwiegend in das Klimagas CO2 verwandelt. Laut Marco Jenni von der Klimaschutzorganisation myclimate entstehen dabei je nach Plastiksorte zwischen zwei und drei Kilogramm CO2 pro Kilogramm Plastikmüll. Meine Box wiegt 733 Gramm. Ihre Verbrennung hätte die Atmosphäre dementsprechend mit 1,5 bis 2,2 Kilogramm CO2 belastet.
myclimate geht davon aus, dass jede Person auf dieser Welt maximal eine bis zwei Tonnen CO2 pro Jahr in die Atmosphäre pusten darf, wenn wir wollen, dass die Klimaveränderung die Welt nicht total auf den Kopf stellt. Das sind 2,7 bis 5,5 Kilogramm CO2 pro Tag. Man rechne: Auch im wohlwollendsten Szenario verbraucht das Verbrennen der gefundenen Schminkbox über einen Viertel meines CO2-Tagesbudgets, nämlich 27 %. Unter dem schlechtesten Szenario ist mein Tagesbudget gleich fast ganz (zu 81%) aufgebraucht.
Leider habe ich dann aber noch nichts gegessen, bin noch keinen Meter mit dem Auto gefahren und konnte noch keine einzige Seite meiner Bettlektüre im Schein der Nachttischlampe geniessen. Denn auch diese Dinge produzieren CO2. Und wenn schon das Verbrennen einer einzigen Verpackung einen Viertel aufgezehrt hat, scheint es so gut wie unmöglich, innerhalb des verträglichen Tagesbudgets zu bleiben. Dass die beim Verbrennen entstehende Energie von den BetreiberInnen der Verbrennungsanlage in Form von Fernwärme verkauft und damit immerhin für eine warme Dusche genutzt werden kann, ändert daran nicht viel.
Ist ein solch sorgloser Umgang mit CO2-Emissionen heute noch vertretbar?
Ist es in Zeiten, wo man in Bern Bäume aus Zagreb pflanzen muss, weil das Klima immer wärmer wird oder sich die Regierung der Fidschi-Inseln nach einem Plätzchen umhört, wohin man die Bevölkerung umsiedeln kann, weil der Meeresspiegel ansteigt, noch ok, solche Plastikmonster auf den Markt zu bringen? Darf man für die Verpackung von 63 Gramm Lidschatten 733 Gramm Plastik verwenden? Wir haben diejenigen gefragt, die es wissen sollten, denn sie haben das Verpackungsmonster konzipiert: L’Oréal.
Guten Tag
Ich arbeitete während der Adventszeit an einem Glühweinstand in der Zürcher Innenstadt. Dabei räumte ich immer wieder Sachen weg, welche die Leute nach ihren Shoppingtouren bei uns liegen gelassen haben: vorige Plastiktüten, leere Verpackungen und abgeschnittene Etiketten. Speziell aufgefallen ist mir die Verpackung von NAKED 4some von Urban Decay. Die Verpackung wiegt 733g. Beinhalten tut sie 63g Schminke. Sie verkaufen hier also mehr als 10mal so viel Verpackungsmaterial wie Inhalt.
Auf ihrer Webseite habe ich gelesen, dass diese Verpackung eben nicht nur Verpackung sein soll, sondern auch ein Aufbewahrungsort für die Schminke: „Das ultra-edel designte Sammler-Set präsentiert sich als dekoratives Türmchen: Die 4 Paletten bilden die Außenwände, sodass innen Platz für Pinsel, Bürsten und Stifte ist. Das MUST HAVE des Jahres für Hardcore Makeup-Junkies!“
Einige Ihrer KundInnen wollen sich das Türmchen aber offensichtlich nicht ins Badezimmer stellen, sondern entsorgen es lieber direkt noch in der Innenstadt. Ich fand das irgendwie komisch. Sollte man wirklich so viel wertvolles Erdöl für etwas verwenden, dass vielleicht direkt in der Müllverbrennung landet und dort zu CO2 wird?
Was meinen Sie dazu? Würde man solche Verpackungen in der Zeit des Klimawandels nicht besser aus dem Sortiment nehmen?
Vielen Dank für eine kurze Antwort, freundliche Grüsse und einen guten Start ins neue Jahr wünscht Ihnen
Das Lamm
Nach mehrmaligem Nachhaken erhielt das Lamm eine Antwort.
Guten Tag,
Vielen Dank für Ihre Nachricht, die unsere volle Aufmerksamkeit erregt hat.
Urban Decay Naked 4some ist ein limitiertes Box-Set mit 4 Paletten Lidschatten, das letztes Jahr während der Weihnachtszeit vermarktet wurde.
L’Oréals Verpackungspolitik ist einer der Grundpfeiler unseres Umweltschutzprogramms. Seit mehreren Jahren schult der Konzern seine Teams für Verpackung, Entwicklung, Marketing und Beschaffung in den Grundsätzen des umweltfreundlichen Ecodesigns mit dem Ziel, Verpackungen weniger schwer und ausladend zu machen und generell ihre Auswirkungen auf die Umwelt zu verringern. Seit mehreren Jahren lässt L’Oréal nur noch Verpackungen mit Waldzertifizierung zu, die zu mindestens 90% aus verantwortungsvoller Waldbewirtschaftung stammen und zu mindestens 50% die Zertifizierung des FSC® (Forest Stewardship Council) tragen.
Die Verpackung und die Formulierung eines Kosmetikprodukts bilden ein dynamisches Paar, das gemeinsam betrachtet werden muss. Die primäre Rolle der Verpackung besteht darin, die Integrität und Qualität der Formulierung zu gewährleisten. Mehrere Parameter tragen zur Auswahl der am besten geeigneten Verpackung bei. Das Gewicht einer Verpackung in Relation zum Gewicht eines Produkts zu setzen, ist nicht immer ein relevantes Kriterium, insbesondere bei einem Lidschatten, einem der leichtesten, aber auch empfindlichsten Kosmetikprodukte.
Urban Decay ist Teil des Nachhaltigkeitsansatzes des Konzerns. 2017 hat die Marke z. B. Pro UD Contour Shapeshifter entwickelt, ein professioneller Make-up Pinsel dessen Griff aus Recycling-Aluminium und Haare aus Recycling-Plastikflaschen besteht.
Für Fragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.
Freundliche Grüsse,
Ihr Urban Decay Switzerland Team
Dass Urban Decay kürzlich Schminkpinsel aus Recycling-Alu produziert hat oder dass das Papier an den Verpackungen zu 50% aus Wäldern mit einem Nachhaltigkeitslabel stammen muss, welches auf unserer Verpackung nebenbei erwähnt aber fehlt, ist zwar nett. Erweckt aber gleichzeitig den Anschein, als wollten hier ein paar MarketingspezialistInnen mit viel Greenwashing-Make-Up die unschöne Wahrheit überschminken, dass die EcodesignerInnen von L’Oréal hier schlichtweg versagt haben. Denn an den enormen Mengen an CO2, welche diese Schminkbox dereinst produzieren wird, ändert auch der umweltfreundlichste Pinsel nichts.
So sieht echtes Ecodesign aus, liebe Leute von L’Oréal
Wie man es besser macht, zeigt das finnische Start-up Sulapac. Es hat Verpackungen für Make-up, Seifen und Cremes auf der Basis von Holz entwickelt, die zu 100 % ökologisch abbaubar sind. Zu feilen haben die Gründerinnen Suvi Haimi und Laura Kyllönen laut einem Artikel in der Zeitschrift enorm noch an der Mindesthaltbarkeit ihrer Verpackungen. Eben weil sie sich vollständig natürlich abbauen lassen, kann für das beinhaltete Produkt nur eine limitierte Lebensdauer gewährleistet werden. Diese liegt momentan bei einem Jahr. Die Entwicklerinnen streben aber eine Mindesthaltbarkeit von drei Jahren an.
Auch wenn das Produkt noch nicht ganz ausgereift ist: Das, was diese zwei Ladys hier entwickelt haben, ist echtes Ecodesign. Im angeblichen Ecodesign von L’Oréal ist im Vergleich noch sehr viel Luft nach oben. Wäre es dem Riesenkonzern L’Oréal ernst mit seinem Umweltschutzprogramm, hätte auch er längst eine Verpackung auf der Basis von Holz entwickelt. Denn die Forschungsabteilung und das dazugehörige Budget übertrifft dasjenige von Sulapac um ein Mehrfaches.
Der derzeit grösste Kosmetikhersteller der Welt mit einem Jahresgewinn von fast vier Milliarden Euro (2014) hat aber offensichtlich andere Prioritäten. Eine ernüchternde Einsicht, die dadurch untermauert wird, dass L’Oréal unsere weiteren Nachfragen zu ihrer Haltung gegenüber überdimensionalen Plastikverpackungen bis dato ignoriert hat – kein Wunder: Dann nämlich müsste der Make-up-Goliath über seinen eigenen, dick aufgetragenen Lidschatten springen und zugeben, dass dieses Verpackungsmonster unangebracht ist. Denn das, liebe Pseudo-EcodesignerInnen von L’Oréal, ist die ungeschminkte Wahrheit.
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