Wer in der Schweiz einen Asylantrag stellt, muss sich zunächst ausweisen: Name, Geburtstag, Herkunftsland. Für viele Menschen auf der Flucht ist das nicht möglich. Ohne Pass oder Geburtsurkunde können sie nicht beweisen, dass ihre Angaben stimmen. Laut dem Staatssekretariat für Migration (SEM) ist das in drei von vier Fällen so – und offenbar ein Problem.
Vor vier Jahren reichte SVP-Nationalrat Gregor Rutz deswegen eine parlamentarische Initiative ein, die das ändern soll. Die Forderung: Elektronische Geräte wie Handy, Tablet und PC sollen im Rahmen der gesetzlichen „Mitwirkungspflicht“ von den Behörden durchsucht werden dürfen, um die Identität Asylsuchender festzustellen. Vergangene Woche wurde die Initiative im Parlament angenommen.
Was bedeutet das?
Das Schweizer Asylgesetz besagt, dass Asylsuchende eine „Mitwirkungspflicht“ haben, um den Behörden das Asylverfahren zu erleichtern. Namentlich heisst das, sie sind verpflichtet zu folgenden Dingen:
- Identität offenlegen
- Identitätsausweise abgeben
- Angeben, warum sie Asyl beantragen
- Beweismittel bezeichnen und einreichen
- Biometrische Daten erheben lassen (zum Beispiel Fingerabdrücke)
- Sich einer medizinischen Untersuchung unterziehen
Diesem Gesetz wird jetzt ein Punkt hinzufügefügt. Neu soll es auch „die Pflicht umfassen, die entsprechenden [elektronischen] Geräte herauszugeben, wenn die Identität des Gesuchstellers nicht auf anderem Wege festgestellt werden kann“.
Laut Rutz birgt die aktuelle Situation nicht nur ein Problem für die innere Sicherheit, sondern auch zivilrechtliche Schwierigkeiten, etwa wenn Asylsuchende Kinder bekommen. Er fügte seinem Antrag im Parlament sarkastisch hinzu, dass Mobiltelefone „erstaunlicherweise“ seltener verloren gingen als Ausweise.
Ähnliche Regelungen sind etwa in Deutschland bereits in Kraft. Die Software, die dafür angewandt wird, kann laut eines Berichts der Gesellschaft für Freiheitsrechte zum Beispiel folgende Informationen auswerten:
- Ländercodes von gespeicherten Nummern
- Eingehende und ausgehende Anrufe inklusive Ländercode und Länge des Anrufs
- Eingehende und ausgehende SMS inklusive Ländercode
- Die benutzte Sprache in SMS
- Die Ländercodes von besuchten Webseiten
- Log-In Namen und Mailadressen, die für Apps benutzt werden
- Lokalisierungsdaten von Fotos, möglicherweise auch von Apps
Auf Anfrage listet der Mediensprecher des SEM zusätzliche Daten auf, die ausgewertet werden könnten: Geolokalisierungsdaten (GPS), Kontaktlisten und Fotodateien. Die Details müsse der Bundesrat aber noch festlegen, so der Pressesprecher.
An der Vorlage gab es unter Expert:innen Kritik. Der erste Kritikpunkt ist rechtlich begründet: Die Flüchtlingshilfe etwa stellte in der Vernehmlassung zur Vorlage fest, dass die gesetzliche Grundlage für einen derartigen Eingriff in die Grundrechte nicht gegeben sei. Sie kritisierten zudem, dass es für die Durchsuchung des Smartphones kein richterliches Urteil bräuchte, wie es etwa in einer Strafuntersuchung der Fall ist. So würden Asylsuchende benachteiligt gegenüber Menschen, gegen die ermittelt wird.
Streit gab es auch darüber, ob Asylsuchende mit dem Gesetz gezwungen werden könnten, sich durchleuchten zu lassen. Die Kommission schreibt dazu, dass zunächst andere Methoden zur Feststellung der Identität angewandt werden sollen, wenn diese weniger aufwändig sind. Daher sieht Rutz im Gesetz keinen Zwang.
Ein Bericht des Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (EDÖB) entgegnet: Die automatisierte und standardgemässe Auswertung von Smartphones sei voraussichtlich nicht aufwändiger als die anderen Methoden zur Identitätsfeststellung. Und betont: „Die Effizienz darf nicht über die Wahrung fundamentaler Freiheitsrechte gestellt werden.“ Der EDÖB lehnt die Vorlage auch aus diesem Grund ab. Der Bericht des EDÖB mahnt zudem, „dass freiheitseinschränkende Massnahmen oft zunächst gegenüber Minderheiten eingeführt werden, bevor sie schrittweise in anderen Zusammenhängen auf breite Bevölkerungskreise ausgeweitet werden“.
Der zweite Kritikpunkt betrifft die Umsetzung: Das UNHCR gab in ihrer Stellungnahme zu Bedenken, dass Smartphones auf dem Fluchtweg oft von vielen unterschiedlichen Personen benutzt würden. Es sei unklar, wie die Behörden zwischen den für das Asylgesuch relevanten und anderen Daten unterscheiden wird. Schliesslich ist nicht jedes Selfie mit Freund:innen, nicht jedes Telefongespräch mit Verwandten für ein Asylgesuch relevant.
Auch der Anwalt und Datenschutzexperte Martin Steiger sieht hier Fragezeichen, und zwar „wie immer bei der wirksamen Aufsicht“, wie er auf Anfrage sagt. Wie wird kontrolliert und durchgesetzt, dass keine willkürliche Datensammelei losgeht? Es käme auf die Anwält:innen von Asylsuchenden an, bei der Auswertung von Daten die Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen, so Steiger.
In der Schlussbestimmung des Parlaments steht zudem, dass Daten von Drittpersonen ebenfalls ausgewertet werden können, falls es auf anderem Wege nicht gelinge, die Identitäten der Asylsuchenden zweifelsfrei festzustellen.
Der dritte Kritikpunkt betrifft die Wirksamkeit: Die links-grüne Minderheit im Parlament sprach sich gegen die Vorlage aus und bezog sich dabei auf einen Testlauf. Während eines halben Jahres wurde die Vorlage in zwei Migrationsämtern in der Schweiz umgesetzt. Das Resultat: Nur in 15 Prozent der Fälle lieferte die Durchsuchung die gewünschten Informationen.
Ähnliche Resultate gibt es auch aus der aktuellen Praxis in Deutschland. Diese Erfolgsrate reiche nicht aus, um einen derartigen Eingriff in die Privatsphäre so vieler Menschen und derart hohe Kosten zu rechtfertigen, fand etwa Grünen-Nationalrat Balthasar Glättli.
Der Vorstoss passt zu einer allgemeinen Tendenz, asylrechtliche und strafrechtliche Methoden zu vermischen. Auch das Polizeimassnahmen Gesetz (PMT), das im vergangenen Sommer von der Bevölkerung angenommen wurde, macht das. So kommen die Methoden der „Eingrenzung“ und der „Ausgrenzung“ ursprünglich aus dem Migrationsbereich und werden neu auch in der Terrorbekämpfung angewendet. Dabei wird Menschen das Verlassen oder Betreten gewisser Orte verboten. Bei der Erweiterung der Mitwirkungspflicht ist es andersrum: Eine polizeiliche Methode wird auf Asylsuchende angewandt, ohne dass diese je in Konflikt mit dem Gesetz geraten sind.
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