Seit dieser Woche gelten die neuen Corona-Massnahmen, was eigentlich bedeutet: Es gelten praktisch keine Massnahmen mehr. Einzig im ÖV sind Masken noch Pflicht, Konzerte können wieder uneingeschränkt stattfinden und im Coop und in der Migros kann man einander wieder ins ganze Gesicht schauen. Das haben „wir“ uns schliesslich verdient. Bloss: Wer sind eigentlich „wir“?
In der Schweiz leben über zwei Millionen Menschen mit einer chronischen Krankheit. Rund jede:r Vierte in diesem Land hat also Diabetes, Demenz, Lungenkrankheiten, Krebs, Herz-Kreislauf-Probleme, Depressionen, Rheuma oder andere Schmerzen. Rund 1.8 Millionen Menschen in der Schweiz haben eine Behinderung, etwa eine halbe Million davon lebt mit starker Behinderung. Also nochmal ungefähr jede:r Vierte. Hier noch nicht mitgezählt sind Menschen, die eine Autoimmunkrankheit wie zum Beispiel Morbus Crohn, Zöliakie oder Schuppenflechten haben oder aus anderen Gründen immungeschwächt sind.
Es sind vor allem diese Menschen, die wir mit „vulnerabel“ meinen. Und es sind folglich diese Menschen, an die sich der Bundesrat an der gestrigen Pressekonferenz richtete, als es hiess: Einkaufen könne man ja zur Not online erledigen oder man könne halt zu Randzeiten gehen. Menschen mit Behinderungen sind verletzlicher als andere, das war schon vor Corona so. Für sie ist unter Umständen auch eine Grippe gefährlicher als für Menschen ohne chronische Krankheiten oder Behinderungen.
Und nicht nur das: Diese Menschen sind in allen Bereichen des öffentlichen Lebens benachteiligt. Sie wissen genau, wie schwer der Zugang zu einer ausreichenden IV-Rente oder anderweitiger Unterstützung vom Staat sein kann. Mit dem Rollstuhl dauert es auch mal eine halbe Stunde länger, um pünktlich in der Uni-Vorlesung zu sein. Auch viele andere Einrichtungen sind nicht barrierefrei. Und die Arbeitswelt ist überhaupt nicht auf Menschen mit mentalen Krankheiten ausgelegt.
Mit der Kommunikation des Bundesrates wird aber nun einmal mehr gesagt: Ihr seid eine Randgruppe, um euch kümmern wir uns später, irgendwann, oder naja, vielleicht gar nie. Bloss: Diese Menschen sind keine Randgruppe. Immungeschwächte oder Leute mit einer chronischen Krankheit oder Behinderung sind in der Gesellschaft genauso vertreten wie Menschen, die von alledem nicht betroffen sind: Sie sind auch Lehrer:innen, Baristas, Kassierer:innen, Banker:innen – ihnen zu raten, sie sollen halt zu Hause bleiben, wenn es geht, ist unrealistisch und auch ein bisschen peinlich von einer Regierung.
Die vielbeschworene „Solidarität“ jedenfalls – mit der ist jetzt erst einmal genug. Daran ändert auch eine leise Erinnerung daran, man könne die Masken aber trotzdem noch tragen, nichts. Das zeigt: Ein „wir“ gibt es nicht. Es gibt die vermeintliche Mehrheit und es gibt die „anderen“. Auf welche Personengruppen wir als Gesellschaft Rücksicht nehmen, sagt einiges über unser Verständnis von Demokratie und Menschenwürde aus und wird in einer Pandemie nochmals verschärft. Dass in der Schweiz relativ schnell Menschenleben gegen den Erhalt der Wirtschaft aufgerechnet wurden, ist im Prinzip faschistisch: Dieser Überlegung liegt zugrunde, dass das Leben von den einen mehr wert ist als das von den anderen.
Plötzlich war es salonfähig, zu sagen: „Es sterben ja vor allem die Alten und die Kranken, die wären vielleicht sowieso gestorben.“ Es ist also kein Wunder, dass diejenigen, die am lautesten gegen die Massnahmen schimpften, oft auch keine Probleme mit Äusserungen und Einstellungen dieser Art haben. Das hat sich vor allem in den letzten Wochen gezeigt: An Coronagegner:innen-Demos liefen Nazis ganz offen und zuvorderst mit.
Aber abgesehen von der Verantwortung des Individuums: Es wäre jetzt die Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass eben nicht wieder bloss die vermeintliche Mehrheit heil aus der Sache herauskommt. Es wäre jetzt dringend nötig, eine klare Strategie aufzugleisen, nicht nur für Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen, sondern auch für Betroffene von Long Covid: Unser Sozialsystem ist schon jetzt nicht auf die Menschen ausgelegt, die es in Anspruch nehmen müssen. Und es ist schon gar nicht bereit, in den nächsten Jahren eine noch ungewisse Anzahl Leute mehr aufzunehmen. Unser Gesundheitssystem übrigens auch nicht, denn bis die Pflegeinitiative ihre Wirkung entfalten kann, dauert es noch ein paar Mutationen. Und dass es noch nicht einmal verlässliche Zahlen zu Betroffenen zu Long Covid gibt, spricht für sich.
Es wäre jetzt wichtig, klar zu kommunizieren: Ihr müsst keine Masken mehr tragen, aber wenn ihr sie tragt, schützt ihr weiterhin diejenigen, die besonderen Schutz benötigen. Was wir bis dahin tun können? Betroffenen zuhören und von ihnen lernen. Es gibt zum Beispiel auf Instagram Aktivist:innnen, die sich zum Thema äussern und es gibt ganz neu einen Account von verschiedenen Betroffenen, die sich zu einem solidarischen Netzwerk zusammenschliessen.
Die letzten zwei Jahre haben gezeigt: Ein „wir“ gibt es nicht, dieses Boot, in dem wir angeblich alle sitzen, gibt es nicht. Es gibt verschiedene Boote: Arme, Kranke, Alte, Obdachlose, anderweitig Gefährdete, Menschen, die sich illegal in der Schweiz aufhalten müssen, Menschen, die sich ihre Arbeit nicht aussuchen können und die durch die Massnahmen erheblich bestraft wurden, wie etwa Sexarbeiter:innen.
Wenn eine Normalität also wieder möglich sein soll, muss die anders aussehen als vor Corona: empathisch, solidarisch und nachhaltig. Sonst steht die Schweiz in der nächsten Pandemie wieder am genau gleichen Punkt. Und dann bleiben „wir“ alle wieder zu Hause.
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