Wie die Fleisch­lobby Tier­schutz­ver­stösse verwaltet

Wo meldet man eigent­lich Tier­schutz­ver­stösse? Geht es nach dem Fleisch­ver­band Provi­ande, dann am besten direkt bei ihm. Dass Verstösse damit an Behörden und Öffent­lich­keit vorbei­ge­schleust werden, ist gewollt. 
Die "Ombudsstelle Tierschutz" von Proviande sorgt für Verwirrung bei Tierschutzverstössen. (Foto: Simon Infanger / Unsplash)

Quiz­frage: Wo soll­test du dich melden, wenn du einen Tier­schutz­ver­stoss vermutest?

  1. Bei der Polizei
  2. Beim kanto­nalen Veterinärdienst
  3. Beim Schweizer Tier­schutz STS
  4. Bei Provi­ande, dem Schweizer Fleisch-Branchenverband

Ich kann aus Erfah­rung sagen: Viele Leute haben keine Ahnung. Bei meinem Tier­rechts­verein flat­tern regel­mässig Anfragen ins Post­fach, ob wir nicht da-und-dort bei diesem-und-jenem Bauern kontrol­lieren gehen könnten. Dabei haben wir als privater Verein mit dem Rechts­vollzug über­haupt nichts zu tun.

Wir verweisen dann jeweils – na, richtig getippt? – auf den kanto­nalen Vete­ri­när­dienst oder die Polizei. Denn offi­ziell ist der Kanton für den Vollzug des Tier­schutz­rechts zuständig, die Polizei für die Ermitt­lung von Straftaten.

Die Verwir­rung ist aber durchaus verständ­lich. Sämt­liche oben genannten Insti­tu­tionen nehmen nämlich Meldungen über vermu­tete Tier­schutz­ver­stösse entgegen.

Ja, sämt­liche. Auch Provi­ande, die Lobby-Orga­ni­sa­tion der Schweizer Fleisch­branche. Seit 2020 unter­hält sie ihre soge­nannte Ombuds­stelle Tier­wohl. Hinter diesem amtlich klin­genden Namen versteckt sich ein ziem­lich eigen­ar­tiges Konstrukt.

Selbst erteilter Auftrag

„Die Ombuds­stelle Tier­wohl hat zum Ziel, Tier­schutz­ver­stösse in der Nutz­tier­hal­tung früh zu erkennen und zügig Mass­nahmen einzu­leiten“, heisst es auf der Provi­ande-Webseite.

Ein Flyer beschreibt, wie das System funk­tio­niert. Alles beginnt mit einer Person, die einen Tier­schutz­ver­stoss vermutet. Sie möchte dies aber „nicht gleich dem Vollzug melden und keine Anzeige machen“. Nach der Meldung sieht sich Provi­ande den Fall an.

Die Behörden erscheinen als büro­kra­ti­sche, drako­nisch stra­fende Über­macht, die Tiernutzer*innen als Opfer von Repression.

Je nachdem, um welchen Teil der Fleisch­in­du­strie es geht – Bauern­höfe, Trans­porte, Vieh­märkte, Schlacht­häuser – wird die jewei­lige Bran­chen­or­ga­ni­sa­tion benach­rich­tigt. Eine direkte Meldung an die Voll­zugs­be­hörden gibt es nur bei denen, die keiner Branche ange­hören, zum Beispiel bei Hobbytierhalter*innen.

Ob und wie die benach­rich­tigten Orga­ni­sa­tionen dann die Probleme lösen, ist ihnen über­lassen. Der Name „Ombuds­stelle“ klingt zwar nach Media­tion und syste­ma­ti­scher Problem­lö­sung, bei genauerem Hinsehen ist sie aber im Wesent­li­chen eine Kommu­ni­ka­ti­ons­zweig­stelle – jemand redet mal mit jemandem.

Hier wird dem Tier­schutz­vollzug des Staates ein privates Verfahren an die Seite gestellt. Warum? Das Zauber­wort heisst „nieder­schwellig“. Immer wieder ist auf der Provi­ande-Webseite die Rede davon, dass es doch nicht immer gleich eine „Anzeige“ brauche. Manchmal wünsche man sich eine „unkom­pli­zierte Behe­bung durch die Branche“, so das FAQ.

In einem eigenen „Fakten­blatt“ für Tiernutzer*innen rät die Ombuds­stelle, von Kontrolleur*innen einen Ausweis zu verlangen, den Ausweis immer von der Behörde veri­fi­zieren zu lassen, während Kontrollen selbst Fotos zu machen und die Polizei zu rufen, wenn das Proto­koll nicht verfasst wird wie gewünscht. Die Behörden erscheinen als büro­kra­ti­sche, drako­nisch stra­fende Über­macht, die Tiernutzer*innen als Opfer von Repression.

Wie sehen das die Behörden?

Behörden kaum einbezogen

Ich frage bei fünf Vete­ri­när­dien­sten an – Zürich, Bern, Aargau, Jura sowie die Urkan­tone Obwalden, Nidwalden und Schwyz. Laut Auskunft wissen sie alle von der Provi­ande-Ombuds­stelle, wurden aber nicht vorgängig in deren Aufbau invol­viert. Zudem wurde ihnen noch nie ein Fall weitergeleitet.

Erst bei der Verei­ni­gung der Schweizer Kantonstierärzt*innen werde ich fündig. Der Verein sei in die Konzep­tion der Ombuds­stelle einbe­zogen worden, teilt mir Präsi­dent Dr. Reto Wyss auf Anfrage mit. Zudem pflege man einmal jähr­lich den Austausch und spreche über die geogra­fi­sche Vertei­lung, die Anzahl und die Art der Verstösse.

Aufgrund von 281 Kontrollen in Aargauer Nutz­tier­hal­tungen im Jahr 2022 wurden nur 18 Straf­an­zeigen eingereicht.

„An die Ombuds­stelle können sich insbe­son­dere Leute wenden, die nicht direkt an die Behörden gelangen wollen“, meint Dr. Wyss. „Die Gründe sind vermut­lich viel­fältig – viel­leicht miss­traut jemand den Behörden oder hat Angst, als Melde­person nicht anonym zu bleiben. Oder man ist unsi­cher, ob wirk­lich Mängel bestehen.“

Ein Teil der Bevöl­ke­rung scheint demnach zu denken, dass eine Meldung beim Vete­ri­näramt eine Land­wirtin sofort in ein lang­wie­riges Straf­ver­fahren verwickelt, in dem sie ihre Unschuld beweisen muss. Die Ombuds­stelle verstärkt diese Annahme mit ihrer Rede von „Anzeigen“ und der Unter­stel­lung, der Tier­schutz­vollzug sei kompli­ziert. Aber trifft es denn zu, dass Tier­schutz­mel­dungen direkt zu Anzeigen führen?

Schaut einmal zum Fenster raus, wahr­schein­lich seht ihr bald ein Tier. Sie sind die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung. Doch in der Schweizer Medi­en­land­schaft werden sie meist igno­riert. „Animal Poli­tique“ gibt Gegen­steuer. Nico Müller schreibt über Macht­sy­steme, Medien, Forschung und Lobby­ismus. Und denkt nicht, es gehe immer „nur“ um Tiere. Ihre Unter­drückung hängt oft mit der Unter­drückung von Menschen zusammen. „Animal Poli­tique“, geschrieben von Tier­ethiker Nico Müller, macht das sichtbar.

Vollzug ist bereits kulant

„Nein, nicht jede Meldung führt zu einer Anzeige“, antwortet der Aargauer Vete­ri­när­dienst. Meldungen führten viel­mehr dazu, dass der Vete­ri­när­dienst zur Kontrolle vorbei­komme und nöti­gen­falls Verwal­tungs­mass­nahmen anordne. In gravie­renden Fällen werde Anzeige erstattet.

Wie die Zahlen zeigen, ist das aber eher die Ausnahme: Aufgrund von 281 Kontrollen in Aargauer Nutz­tier­hal­tungen im Jahr 2022 wurden nur 18 Straf­an­zeigen einge­reicht, teilt der Vete­ri­när­dienst mit.

Die Behörden tun zudem mehr als bloss kontrol­lieren und anzeigen, lässt mich der Kantons­tier­arzt der Urkan­tone wissen. „Wenn der Eindruck der Über­for­de­rung besteht, können wir mit der Person auch darüber spre­chen, ob eine Unter­stüt­zung durch die Familie, Nach­barn oder andere Stellen möglich und sinn­voll wäre.“

Er verweist mich auf diverse Ange­bote wie etwa die Burn-out-Hilfe des Land­frau­en­ver­bands, das bäuer­liche Sorgen­te­lefon und mehrere Stif­tungen, die bei finan­zi­ellen Engpässen aushelfen. „Das Ziel ist, Mängel nach­haltig zu beheben, damit die Tier­hal­tung die gesetz­li­chen Anfor­de­rungen erfüllt.“

Die Voll­zugs­be­hörden sind also keines­wegs so drako­nisch, wie die Ombuds­stelle von Provi­ande es klingen lässt. Auch sie behan­deln Fälle „nieder­schwellig“, suchen das direkte Gespräch und verweisen auf bestehende Hilfs­an­ge­bote. In der Tat ist genau das ihre Stärke – in Extrem­fällen wie Hefen­hofen sind sie schnell einmal überfordert.

Ich frage die Vete­ri­när­dienste, ob sie die Ombuds­stelle von Provi­ande kritisch sehen. Wird hier nicht ihre Zustän­dig­keit untergraben?

Klarer Inter­es­sens­kon­flikt

Die Behörden zeigen sich gelassen. Der allge­meine Tenor: Die Fleisch­branche wolle ja auch nur das Beste für die Tiere. So ein bran­chen­in­ternes Melde­sy­stem sei daher eine gute Sache. Mir tun beim Lesen dieser Antworten die Augen vor lauter Verdrehen weh.

Wir würden auch der katho­li­schen Kirche nicht vertrauen, wenn sie uns sagt: „Meldet verdäch­tige Prie­ster lieber uns als den Behörden!“

Einzig der juras­si­sche Vete­ri­när­dienst merkt an: „Ein Inter­es­sen­kon­flikt ist klar erkennbar“. Er fügt jedoch hinzu: „Wenn Provi­ande an seiner Absicht fest­hält, Verstösse früh­zeitig zu erkennen, bei nach­weis­li­chen Mängeln zu helfen und die Behörden zu benach­rich­tigen, dann leistet die Ombuds­stelle eine sinn­volle, ergän­zende Arbeit.“

Ja, wenn. Doch genau darauf sollte man nicht einfach so vertrauen, wenn ein klarer Inter­es­sen­kon­flikt vorliegt. Wir würden auch der katho­li­schen Kirche nicht vertrauen, wenn sie uns sagt: „Meldet verdäch­tige Prie­ster lieber uns als den Behörden!“ Die Kirche hat genau wie Provi­ande das Doppel­in­ter­esse, Rechts­ver­stösse zu verhin­dern und vorge­fal­lene Rechts­ver­stösse zu vertu­schen. Eine Ombuds­stelle kann deshalb nur glaub­würdig sein, wenn sie unab­hängig ist.

Viel­leicht sind die Behörden deshalb so gelassen, weil die Provi­ande-Ombuds­stelle kaum genutzt wird. Auf Anfrage gibt die Orga­ni­sa­tion an, letztes Jahr seien gerade mal sechs Meldungen einge­gangen. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass die Ombuds­stelle ihren Zweck nicht erfüllt.

Verwir­rung gegen Aufklärung

Jetzt eine persön­liche Frage: Wo machst du dir dein Bild von der Tier­hal­tung in der Schweiz?

  1. Idyl­li­sche Bilder auf der Fleischpackung
  2. Steu­er­fi­nan­zierte Fleisch­wer­bung (ja, das gibts)
  3. Bei der*m Bäuer*in meines Vertrauens
  4. Under­cover-Aufnahmen aus Schweizer Ställen

Möch­test du Provi­ande einen Gefallen tun, beschränkst du dich auf a) bis c). Doch in den Jahren, bevor Provi­ande seine Ombuds­stelle schuf, wurden immer mehr unlieb­same Under­cover-Aufnahmen veröf­fent­licht, beson­ders durch den Verein Tier im Fokus (TIF).

Im Sommer 2019 erschienen zum Beispiel Bilder von verdreckten Kühen und Kälbern im Zürcher Ober­land. Kurz darauf veröf­fent­lichte TIF ein Video aus dem Solo­thur­ni­schen, in dem Schweine an Ohren und am Schwanz hoch­ge­hoben und herum­ge­worfen wurden. „Ist doch nicht schlimm“, meinte der Bauer gegen­über SRF. „Haben Sie noch nie eine Sau schreien gehört?“

Das Unwissen, die Fehl­in­for­ma­tion und Konfu­sion, gegen die Tier­rechts­ver­eine wie meiner und TIF ankämpfen, sind nicht natur­ge­geben, sondern menschengemacht.

Im Juni 2020 veröf­fent­lichte TIF verstö­rende Aufnahmen aus drei­zehn Schwei­ne­be­trieben in sieben Kantonen. Neunmal reichte der Verein Anzeige wegen Tier­quä­lerei ein. Das SRF berich­tete erneut.

Und als TIF im Sommer 2021 diverse Aufnahmen aus der Schweizer Hühner­in­du­strie veröf­fent­lichte, schrieb Provi­ande prompt: „Provi­ande möchte an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, dass es für eben­solche Fälle die Ombuds­stelle Tier­wohl gibt.“ TIF habe offenbar „den Fokus verloren“ und es gehe dem Verein nur um Skan­da­li­sie­rung, nicht ums Tier­wohl. Der Ausdruck „belei­digte Leber­wurst“ kommt mir spontan in den Sinn.

Es ist eigent­lich genial: Entweder man meldet Tier­schutz­ver­stösse an die Ombuds­stelle von Provi­ande, dann können sie an Behörden und Öffent­lich­keit vorbei­ge­schleust werden. Oder man meldet sie Behörden und veröf­fent­licht Bilder, dann kann die Fleisch­lobby jammern, man habe ihren selbst geba­stelten Behör­denweg nicht einge­halten. Und als Bonus sind Leute noch etwas verwirrter, wo sie im Zwei­fels­fall einen Tier­schutz­ver­stoss zu melden haben.

Das ist Verwir­rungs­ar­beit, das Gegen­stück zur Aufklä­rungs­ar­beit. Das Unwissen, die Fehl­in­for­ma­tion und Konfu­sion, gegen die Tier­rechts­ver­eine wie meiner und TIF ankämpfen, sind nicht natur­ge­geben, sondern menschengemacht.

Man könnte auch jedem Kind beibringen, dass man Tier­schutz­ver­stösse dem Vete­ri­näramt meldet. Man könnte aufhören, idyl­li­sche Bilder auf Fleisch­packungen zu drucken. Man könnte Provi­ande den Steu­er­hahn zudrehen. Wir werden ja sehen, wie lange wir dafür noch zu verwirrt sind.


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