Quizfrage: Wo solltest du dich melden, wenn du einen Tierschutzverstoss vermutest?
- Bei der Polizei
- Beim kantonalen Veterinärdienst
- Beim Schweizer Tierschutz STS
- Bei Proviande, dem Schweizer Fleisch-Branchenverband
Ich kann aus Erfahrung sagen: Viele Leute haben keine Ahnung. Bei meinem Tierrechtsverein flattern regelmässig Anfragen ins Postfach, ob wir nicht da-und-dort bei diesem-und-jenem Bauern kontrollieren gehen könnten. Dabei haben wir als privater Verein mit dem Rechtsvollzug überhaupt nichts zu tun.
Wir verweisen dann jeweils – na, richtig getippt? – auf den kantonalen Veterinärdienst oder die Polizei. Denn offiziell ist der Kanton für den Vollzug des Tierschutzrechts zuständig, die Polizei für die Ermittlung von Straftaten.
Die Verwirrung ist aber durchaus verständlich. Sämtliche oben genannten Institutionen nehmen nämlich Meldungen über vermutete Tierschutzverstösse entgegen.
Ja, sämtliche. Auch Proviande, die Lobby-Organisation der Schweizer Fleischbranche. Seit 2020 unterhält sie ihre sogenannte Ombudsstelle Tierwohl. Hinter diesem amtlich klingenden Namen versteckt sich ein ziemlich eigenartiges Konstrukt.
Selbst erteilter Auftrag
„Die Ombudsstelle Tierwohl hat zum Ziel, Tierschutzverstösse in der Nutztierhaltung früh zu erkennen und zügig Massnahmen einzuleiten“, heisst es auf der Proviande-Webseite.
Ein Flyer beschreibt, wie das System funktioniert. Alles beginnt mit einer Person, die einen Tierschutzverstoss vermutet. Sie möchte dies aber „nicht gleich dem Vollzug melden und keine Anzeige machen“. Nach der Meldung sieht sich Proviande den Fall an.
Je nachdem, um welchen Teil der Fleischindustrie es geht – Bauernhöfe, Transporte, Viehmärkte, Schlachthäuser – wird die jeweilige Branchenorganisation benachrichtigt. Eine direkte Meldung an die Vollzugsbehörden gibt es nur bei denen, die keiner Branche angehören, zum Beispiel bei Hobbytierhalter*innen.
Ob und wie die benachrichtigten Organisationen dann die Probleme lösen, ist ihnen überlassen. Der Name „Ombudsstelle“ klingt zwar nach Mediation und systematischer Problemlösung, bei genauerem Hinsehen ist sie aber im Wesentlichen eine Kommunikationszweigstelle – jemand redet mal mit jemandem.
Hier wird dem Tierschutzvollzug des Staates ein privates Verfahren an die Seite gestellt. Warum? Das Zauberwort heisst „niederschwellig“. Immer wieder ist auf der Proviande-Webseite die Rede davon, dass es doch nicht immer gleich eine „Anzeige“ brauche. Manchmal wünsche man sich eine „unkomplizierte Behebung durch die Branche“, so das FAQ.
In einem eigenen „Faktenblatt“ für Tiernutzer*innen rät die Ombudsstelle, von Kontrolleur*innen einen Ausweis zu verlangen, den Ausweis immer von der Behörde verifizieren zu lassen, während Kontrollen selbst Fotos zu machen und die Polizei zu rufen, wenn das Protokoll nicht verfasst wird wie gewünscht. Die Behörden erscheinen als bürokratische, drakonisch strafende Übermacht, die Tiernutzer*innen als Opfer von Repression.
Wie sehen das die Behörden?
Behörden kaum einbezogen
Ich frage bei fünf Veterinärdiensten an – Zürich, Bern, Aargau, Jura sowie die Urkantone Obwalden, Nidwalden und Schwyz. Laut Auskunft wissen sie alle von der Proviande-Ombudsstelle, wurden aber nicht vorgängig in deren Aufbau involviert. Zudem wurde ihnen noch nie ein Fall weitergeleitet.
Erst bei der Vereinigung der Schweizer Kantonstierärzt*innen werde ich fündig. Der Verein sei in die Konzeption der Ombudsstelle einbezogen worden, teilt mir Präsident Dr. Reto Wyss auf Anfrage mit. Zudem pflege man einmal jährlich den Austausch und spreche über die geografische Verteilung, die Anzahl und die Art der Verstösse.
„An die Ombudsstelle können sich insbesondere Leute wenden, die nicht direkt an die Behörden gelangen wollen“, meint Dr. Wyss. „Die Gründe sind vermutlich vielfältig – vielleicht misstraut jemand den Behörden oder hat Angst, als Meldeperson nicht anonym zu bleiben. Oder man ist unsicher, ob wirklich Mängel bestehen.“
Ein Teil der Bevölkerung scheint demnach zu denken, dass eine Meldung beim Veterinäramt eine Landwirtin sofort in ein langwieriges Strafverfahren verwickelt, in dem sie ihre Unschuld beweisen muss. Die Ombudsstelle verstärkt diese Annahme mit ihrer Rede von „Anzeigen“ und der Unterstellung, der Tierschutzvollzug sei kompliziert. Aber trifft es denn zu, dass Tierschutzmeldungen direkt zu Anzeigen führen?
Schaut einmal zum Fenster raus, wahrscheinlich seht ihr bald ein Tier. Sie sind die Mehrheit der Bevölkerung. Doch in der Schweizer Medienlandschaft werden sie meist ignoriert. „Animal Politique“ gibt Gegensteuer. Nico Müller schreibt über Machtsysteme, Medien, Forschung und Lobbyismus. Und denkt nicht, es gehe immer „nur“ um Tiere. Ihre Unterdrückung hängt oft mit der Unterdrückung von Menschen zusammen. „Animal Politique“, geschrieben von Tierethiker Nico Müller, macht das sichtbar.
Vollzug ist bereits kulant
„Nein, nicht jede Meldung führt zu einer Anzeige“, antwortet der Aargauer Veterinärdienst. Meldungen führten vielmehr dazu, dass der Veterinärdienst zur Kontrolle vorbeikomme und nötigenfalls Verwaltungsmassnahmen anordne. In gravierenden Fällen werde Anzeige erstattet.
Wie die Zahlen zeigen, ist das aber eher die Ausnahme: Aufgrund von 281 Kontrollen in Aargauer Nutztierhaltungen im Jahr 2022 wurden nur 18 Strafanzeigen eingereicht, teilt der Veterinärdienst mit.
Die Behörden tun zudem mehr als bloss kontrollieren und anzeigen, lässt mich der Kantonstierarzt der Urkantone wissen. „Wenn der Eindruck der Überforderung besteht, können wir mit der Person auch darüber sprechen, ob eine Unterstützung durch die Familie, Nachbarn oder andere Stellen möglich und sinnvoll wäre.“
Er verweist mich auf diverse Angebote wie etwa die Burn-out-Hilfe des Landfrauenverbands, das bäuerliche Sorgentelefon und mehrere Stiftungen, die bei finanziellen Engpässen aushelfen. „Das Ziel ist, Mängel nachhaltig zu beheben, damit die Tierhaltung die gesetzlichen Anforderungen erfüllt.“
Die Vollzugsbehörden sind also keineswegs so drakonisch, wie die Ombudsstelle von Proviande es klingen lässt. Auch sie behandeln Fälle „niederschwellig“, suchen das direkte Gespräch und verweisen auf bestehende Hilfsangebote. In der Tat ist genau das ihre Stärke – in Extremfällen wie Hefenhofen sind sie schnell einmal überfordert.
Ich frage die Veterinärdienste, ob sie die Ombudsstelle von Proviande kritisch sehen. Wird hier nicht ihre Zuständigkeit untergraben?
Klarer Interessenskonflikt
Die Behörden zeigen sich gelassen. Der allgemeine Tenor: Die Fleischbranche wolle ja auch nur das Beste für die Tiere. So ein brancheninternes Meldesystem sei daher eine gute Sache. Mir tun beim Lesen dieser Antworten die Augen vor lauter Verdrehen weh.
Einzig der jurassische Veterinärdienst merkt an: „Ein Interessenkonflikt ist klar erkennbar“. Er fügt jedoch hinzu: „Wenn Proviande an seiner Absicht festhält, Verstösse frühzeitig zu erkennen, bei nachweislichen Mängeln zu helfen und die Behörden zu benachrichtigen, dann leistet die Ombudsstelle eine sinnvolle, ergänzende Arbeit.“
Ja, wenn. Doch genau darauf sollte man nicht einfach so vertrauen, wenn ein klarer Interessenkonflikt vorliegt. Wir würden auch der katholischen Kirche nicht vertrauen, wenn sie uns sagt: „Meldet verdächtige Priester lieber uns als den Behörden!“ Die Kirche hat genau wie Proviande das Doppelinteresse, Rechtsverstösse zu verhindern und vorgefallene Rechtsverstösse zu vertuschen. Eine Ombudsstelle kann deshalb nur glaubwürdig sein, wenn sie unabhängig ist.
Vielleicht sind die Behörden deshalb so gelassen, weil die Proviande-Ombudsstelle kaum genutzt wird. Auf Anfrage gibt die Organisation an, letztes Jahr seien gerade mal sechs Meldungen eingegangen. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass die Ombudsstelle ihren Zweck nicht erfüllt.
Verwirrung gegen Aufklärung
Jetzt eine persönliche Frage: Wo machst du dir dein Bild von der Tierhaltung in der Schweiz?
- Idyllische Bilder auf der Fleischpackung
- Steuerfinanzierte Fleischwerbung (ja, das gibts)
- Bei der*m Bäuer*in meines Vertrauens
- Undercover-Aufnahmen aus Schweizer Ställen
Möchtest du Proviande einen Gefallen tun, beschränkst du dich auf a) bis c). Doch in den Jahren, bevor Proviande seine Ombudsstelle schuf, wurden immer mehr unliebsame Undercover-Aufnahmen veröffentlicht, besonders durch den Verein Tier im Fokus (TIF).
Im Sommer 2019 erschienen zum Beispiel Bilder von verdreckten Kühen und Kälbern im Zürcher Oberland. Kurz darauf veröffentlichte TIF ein Video aus dem Solothurnischen, in dem Schweine an Ohren und am Schwanz hochgehoben und herumgeworfen wurden. „Ist doch nicht schlimm“, meinte der Bauer gegenüber SRF. „Haben Sie noch nie eine Sau schreien gehört?“
Im Juni 2020 veröffentlichte TIF verstörende Aufnahmen aus dreizehn Schweinebetrieben in sieben Kantonen. Neunmal reichte der Verein Anzeige wegen Tierquälerei ein. Das SRF berichtete erneut.
Und als TIF im Sommer 2021 diverse Aufnahmen aus der Schweizer Hühnerindustrie veröffentlichte, schrieb Proviande prompt: „Proviande möchte an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, dass es für ebensolche Fälle die Ombudsstelle Tierwohl gibt.“ TIF habe offenbar „den Fokus verloren“ und es gehe dem Verein nur um Skandalisierung, nicht ums Tierwohl. Der Ausdruck „beleidigte Leberwurst“ kommt mir spontan in den Sinn.
Es ist eigentlich genial: Entweder man meldet Tierschutzverstösse an die Ombudsstelle von Proviande, dann können sie an Behörden und Öffentlichkeit vorbeigeschleust werden. Oder man meldet sie Behörden und veröffentlicht Bilder, dann kann die Fleischlobby jammern, man habe ihren selbst gebastelten Behördenweg nicht eingehalten. Und als Bonus sind Leute noch etwas verwirrter, wo sie im Zweifelsfall einen Tierschutzverstoss zu melden haben.
Das ist Verwirrungsarbeit, das Gegenstück zur Aufklärungsarbeit. Das Unwissen, die Fehlinformation und Konfusion, gegen die Tierrechtsvereine wie meiner und TIF ankämpfen, sind nicht naturgegeben, sondern menschengemacht.
Man könnte auch jedem Kind beibringen, dass man Tierschutzverstösse dem Veterinäramt meldet. Man könnte aufhören, idyllische Bilder auf Fleischpackungen zu drucken. Man könnte Proviande den Steuerhahn zudrehen. Wir werden ja sehen, wie lange wir dafür noch zu verwirrt sind.
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