„You are illegal!“, wirft der entsetzte FDP-Lokalpolitiker Ralph Gähwiler seinem Gärtner Ngundu vor, der nach einem Arbeitsunfall das Wohnzimmer der Familie Gähwiler vollblutet. Ngundu stammt aus dem Südsudan. Wegen des Krieges ist er in die Schweiz geflohen. Mit dem Asylverfahren klappt es allerdings nicht, und so lebt er ohne die notwendigen Papiere unter einer Autobahnbrücke. Dies hindert Ralphs Frau Therese allerdings nicht daran, Ngundus gärtnerisches Geschick zu beanspruchen. Denn die renitente Buchsbaumhecke ist ihrem Schatzeli schon lange ein Dorn im Auge. Dumm nur, dass Ngundu sich bei der Gartenarbeit ins Bein schneidet. Ralphs grösste Sorge: „Stell dir vor, wenn die von der SP das erfahren!“ Also was tun? Vorhänge zu und den Tierarzt um Hilfe bitten. Das Chaos ist vorprogrammiert.
Der Film Usgrächnet Gähwilers, der diese Woche in den Kinos anläuft, beleuchtet die Problematik der in der Schweiz wohnhaften Sans-Papiers aus einer ungewohnt humorvollen Perspektive. Worin das Potenzial von Humor liegt, wenn es um solch schwere Themen geht, wollte ich von Martin Guggisberg, dem Regisseur und Drehbuchautor von Usgrächnet Gähwilers, wissen.
das Lamm: Martin Guggisberg, was war das Ziel deines Films Usgrächnet Gähwilers?
Guggisberg: Wir wollten etwas machen, das gut verpackt ist und das man essen kann, aber einen bitteren Abgang hat. Etwas, das nicht nur süss ist. Wie ein feines Praliné mit einem interessanten Nachgeschmack. Um die Leute ins Kino zu holen, muss die Verpackung stimmen, aber dann sollte man auch merken, dass mehr dahinter steckt; dass der Film eine Botschaft hat.
Was ist denn die Botschaft, die du mit deinem aktuellen Film verbreiten möchtest?
Es ist eine vielschichtige Botschaft. Es geht unter anderem darum, dass wir die verschiedenen Welten und ihre Unterschiede kennenlernen und richtig benennen können. Der Film soll dazu motivieren, sich mit unserer aktuellen Situation auseinanderzusetzen und zu fragen, was eigentlich dahinter steckt. Es ist kein moralisierender Film, da er nicht sagt, was man denken soll oder was man falsch macht. Es ist eine Einladung, sich Gedanken darüber zu machen, was eigentlich bei uns gerade passiert. Dazu braucht es einen Dialog. Und der Film soll dazu beitragen, diesen Dialog über einen humorvollen Zugang zu eröffnen. Denn die Leichtigkeit des Humors bietet die Möglichkeit, über ein schweres Thema zu sprechen. Insofern ist die Botschaft nicht: ‚Denkt das hier!‘, sondern: ‚Beginnt selber zu denken!‘
Willst du die Zuschauerinnen und Zuschauer mit deinem Film irritieren?
Das hoffe ich schwer. Die Irritation soll genug gross sein, um etwas auszulösen. Auch wenn es wehtut: Man soll sich wieder einmal bewusst werden, in welchem Wohlstand wir leben, wie behütet wir sind.
Unterhaltung und Irritation – klingt nach einer Gratwanderung.
Es ist zweischneidig. Natürlich sollen die Unterhaltung und die spannende Geschichte nicht zu kurz kommen. Andererseits geht es aber auch immer um das Zwischenmenschliche, um die Frage, wie wir miteinander umgehen. Es ist ein Film über die Angst vor dem Fremden, gleichzeitig aber auch ein Film über die Angst vor der Nähe. Die Gähwilers haben zunächst Angst vor den Schwarzen, am Schluss fürchten sie sich aber viel stärker vor den Nachbarn.
Und wie bist du auf dieses Thema gekommen?
Ich reiste als Fotograf für ein Schweizer Magazin in einem Luxuszug von Tansania über Sambia nach Botswana. Das ist eine sehr exklusive Reise, man sitzt im Speisewagen und isst ein Fünf-Gang-Menu. Dann hält man an einem Bahnhof und alle Leute von draussen schauen rein. Mir war das höchst unangenehm. Als ich diese Begegnungen zwischen Touristen und der lokalen Bevölkerung sah, wurde mir klar, dass einen das Fremde interessiert. Kaum ist man aber wieder zuhause, ist dies nicht mehr der Fall. Respektive: Solange die Afrikaner dort unten bleiben, ist es gut. Hier aber wollen wir nichts von ihnen wissen. Es ist schon grotesk, dass wir auf der ganzen Welt rumjetten, aber hier bei uns mit dem Fremden nicht umgehen können. Du sitzt im Rauchersalon dieses Zuges und hörst ein Referat über Sklaverei im 19. Jahrhundert. Währenddessen merkst du, dass Sklaverei immer noch ein Thema ist. Die Situation im Zug war so absurd, dass man nur noch darüber lachen kann.
Dann hast du dir vorgenommen, das auf die Schweiz zu übertragen?
Ich wollte schon immer einen Film über dieses Thema drehen, am liebsten einen Science-Fiction-Film auf diesen Container-Schiffen. Das hätte als Erstlingswerk aber den Rahmen gesprengt. Also habe ich mir überlegt, wie ich das einfacher gestalten könnte. Es musste in einem Haus spielen und es durften nicht zu viele Schauspieler involviert sein. Folglich habe ich den Film um das Schauspielerpaar aufgebaut, mit dem ich bei meinem Kurzfilm Buumes bereits gute Erfahrungen gesammelt hatte.
Dieses Ehepaar ist ziemlich interessant. Ihre Unbeholfenheit löst eine Ehekrise aus.
Ihre Ehe gerät ins Wanken, weil sie unterschiedliche Ansichten haben. Sie würde gerne helfen und etwas ändern, aber er will nicht. Sie repräsentieren als Paar das Dilemma, in dem sich die Schweiz befindet. Ich glaube, dass viele Leute helfen wollen, aber nicht können. Man ist sich bewusst, wo man steht, aber man kann nichts dagegen tun.
Weil man sich vor den Konsequenzen fürchtet?
Genau. Wir würden gerne eine andere Welt haben, aber das geht leider nicht. Im Film geht es um Fassaden, um Aussen- und Innenwelten oder um das, was man gegen aussen zeigen möchte. Das hat sehr viel mit der Schweiz zu tun. Man möchte gegen aussen stets den Schein wahren, aber hinter den Fassaden wäre man eigentlich bereit, etwas zu ändern. Denn eigentlich kommen die Figuren im Film zu dritt gut miteinander aus. Man isst zusammen zu Abend. Die Fensterläden sind aber geschlossen, da sie Angst vor den Nachbarn haben. Man hat Angst davor, was der andere über einen sagen könnte. Dabei bräuchte es so wenig. Man muss nur miteinander sprechen und einander zuhören. Es gibt eine Szene gegen Ende des Films, in der die Sudanesen Ralph sagen wollen, dass sie gehen. Und Ralph antwortet: „No, no, no, I don’t want to listen, I don’t want to hear.“ Er müsste lediglich zuhören. Er könnte ja auch mit den Nachbarn sprechen, um sich Rat zu holen. Er macht es aber nicht. Es ist wichtiger, dass man den Schein aufrecht erhält, als zu etwas anderem zu stehen.
Ein Schweizer Film also für Schweizer?
Nein, das ist ein europäisches Problem. Wenn ich den Populismus in Europa betrachte, habe ich das Gefühl, die Leute sprechen nicht mehr miteinander. Deshalb verstehen sie sich auch nicht. Es gibt einen treffenden Spruch über Populismus: Populismus ist, wenn man aufgefordert wird, Leute zu hassen, die man nicht kennt, und Sachen bejubelt, die man gar nicht vollbracht hat. Man verurteilt Leute, von denen man nichts weiss, weil man nicht mit ihnen spricht. Dabei wäre das der Schlüssel zu allem. Ich muss allerdings auch anfügen: Es gibt zahlreiche Beispiele von Menschen, die zuhören und Brücken bauen. Man sollte eigentlich mehr von ihnen berichten. Dann kommt es aber trotzdem wieder wie eine Lawine runter. Diese ganze Burka-Diskussion, ist das eine Satire oder was passiert hier? In solchen Fällen merke ich wieder, dass wir nicht miteinander sprechen. Man muss den Leuten helfen, ihnen Instrumente geben, um das zu thematisieren.
Das Kino als geschützter Diskussionsraum?
Eher als ein psychologisches Modell, das man neben sich aufstellen kann, um zu schauen, wie etwas funktioniert. So muss man nicht von sich sprechen, sondern kann auf diese Figuren verweisen.
Es gab Kommentare, der Film könnte noch bissiger sein. Teilst du diese Meinung?
Höchstens bezogen auf das Ende des Films, da bin ich ein wenig hin- und hergerissen. Aber ich denke, der Film hat insgesamt genügend Biss. Jemanden im Nationalpark auszusetzen oder in einer Ikea-Kiste auszuschaffen, finde ich schon ziemlich gemein.
Was für Reaktionen hast du von Leuten erhalten, die sich aktiv mit der Flüchtlingskrise auseinandersetzen?
Mich erstaunte die geringe Aufmerksamkeit von NGOs wie zum Beispiel Solidarité sans frontières. Ich habe gedacht, die Reaktionen würden grösser ausfallen. Da kam aber nichts, was mich ein bisschen enttäuscht hat.
Was für Projekte stehen in Zukunft an?
Ich wünschte, es gäbe schon was Konkretes. Ich schreibe gerade an verschiedenen Stücken. Wir haben uns auch überlegt, ob wir eine Fortsetzung von Gähwilers drehen sollen. Nun muss ich allerdings abwarten und schauen, was mit dem aktuellen Film passiert.
P.S.: Wer noch Fragen zum Film oder zur Lage der Nation hat, kann Ralph Gähwiler direkt auf Facebook anschreiben. Wenn er nicht gerade Gedichte an seine Frau verfasst, kommentiert er gerne den Schweizer Politikbetrieb.
Zur Person:
Martin Guggisberg wurde 1971 in Bern geboren. Er besuchte die London Film School, drehte Kurzfilme als Regisseur und schrieb Drehbücher. Usgrächnet Gähwilers ist sein erster Kinofilm. Guggisberg arbeitete als Fotograf für verschiedene internationale Publikationen. Er ist Mitgründer der Produktionsfirma so&so gmbh und lebt und arbeitet in Zürich und Bern.[/mailquote]
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