„Es ist schon grotesk, dass wir auf der ganzen Welt rumjetten, aber hier bei uns mit dem Fremden nicht umgehen können“

Dieses Wochen­ende feierte die Sans-Papiers-Komödie Usgrächnet Gähwi­lers an den Solo­thurner Film­tagen Premiere. Ihr Regis­seur Martin Guggis­berg hat mir verraten, wie Humor uns dabei helfen kann, die Angst vor dem Fremden abzu­legen und welche Rolle das Kino dabei spielt. 
(Foto: Screenshot / Philippe Goeldin)

„You are illegal!“, wirft der entsetzte FDP-Lokal­po­li­tiker Ralph Gähwiler seinem Gärtner Ngundu vor, der nach einem Arbeits­un­fall das Wohn­zimmer der Familie Gähwiler voll­blutet. Ngundu stammt aus dem Südsudan. Wegen des Krieges ist er in die Schweiz geflohen. Mit dem Asyl­ver­fahren klappt es aller­dings nicht, und so lebt er ohne die notwen­digen Papiere unter einer Auto­bahn­brücke. Dies hindert Ralphs Frau Therese aller­dings nicht daran, Ngundus gärt­ne­ri­sches Geschick zu bean­spru­chen. Denn die reni­tente Buchs­baum­hecke ist ihrem Schat­zeli schon lange ein Dorn im Auge. Dumm nur, dass Ngundu sich bei der Garten­ar­beit ins Bein schneidet. Ralphs grösste Sorge: „Stell dir vor, wenn die von der SP das erfahren!“ Also was tun? Vorhänge zu und den Tier­arzt um Hilfe bitten. Das Chaos ist vorprogrammiert.

Der Film Usgrächnet Gähwi­lers, der diese Woche in den Kinos anläuft, beleuchtet die Proble­matik der in der Schweiz wohn­haften Sans-Papiers aus einer unge­wohnt humor­vollen Perspek­tive. Worin das Poten­zial von Humor liegt, wenn es um solch schwere Themen geht, wollte ich von Martin Guggis­berg, dem Regis­seur und Dreh­buch­autor von Usgrächnet Gähwi­lers, wissen.

das Lamm: Martin Guggis­berg, was war das Ziel deines Films Usgrächnet Gähwi­lers?

Guggis­berg: Wir wollten etwas machen, das gut verpackt ist und das man essen kann, aber einen bitteren Abgang hat. Etwas, das nicht nur süss ist. Wie ein feines Praliné mit einem inter­es­santen Nach­ge­schmack. Um die Leute ins Kino zu holen, muss die Verpackung stimmen, aber dann sollte man auch merken, dass mehr dahinter steckt; dass der Film eine Botschaft hat.

Was ist denn die Botschaft, die du mit deinem aktu­ellen Film verbreiten möchtest?

Es ist eine viel­schich­tige Botschaft. Es geht unter anderem darum, dass wir die verschie­denen Welten und ihre Unter­schiede kennen­lernen und richtig benennen können. Der Film soll dazu moti­vieren, sich mit unserer aktu­ellen Situa­tion ausein­an­der­zu­setzen und zu fragen, was eigent­lich dahinter steckt. Es ist kein mora­li­sie­render Film, da er nicht sagt, was man denken soll oder was man falsch macht. Es ist eine Einla­dung, sich Gedanken darüber zu machen, was eigent­lich bei uns gerade passiert. Dazu braucht es einen Dialog. Und der Film soll dazu beitragen, diesen Dialog über einen humor­vollen Zugang zu eröffnen. Denn die Leich­tig­keit des Humors bietet die Möglich­keit, über ein schweres Thema zu spre­chen. Inso­fern ist die Botschaft nicht: ‚Denkt das hier!‘, sondern: ‚Beginnt selber zu denken!‘

Willst du die Zuschaue­rinnen und Zuschauer mit deinem Film irritieren?

Das hoffe ich schwer. Die Irri­ta­tion soll genug gross sein, um etwas auszu­lösen. Auch wenn es wehtut: Man soll sich wieder einmal bewusst werden, in welchem Wohl­stand wir leben, wie behütet wir sind.

Unter­hal­tung und Irri­ta­tion – klingt nach einer Gratwanderung.

Es ist zwei­schneidig. Natür­lich sollen die Unter­hal­tung und die span­nende Geschichte nicht zu kurz kommen. Ande­rer­seits geht es aber auch immer um das Zwischen­mensch­liche, um die Frage, wie wir mitein­ander umgehen. Es ist ein Film über die Angst vor dem Fremden, gleich­zeitig aber auch ein Film über die Angst vor der Nähe. Die Gähwi­lers haben zunächst Angst vor den Schwarzen, am Schluss fürchten sie sich aber viel stärker vor den Nachbarn.

Und wie bist du auf dieses Thema gekommen?

Ich reiste als Foto­graf für ein Schweizer Magazin in einem Luxuszug von Tansania über Sambia nach Bots­wana. Das ist eine sehr exklu­sive Reise, man sitzt im Spei­se­wagen und isst ein Fünf-Gang-Menu. Dann hält man an einem Bahnhof und alle Leute von draussen schauen rein. Mir war das höchst unan­ge­nehm. Als ich diese Begeg­nungen zwischen Touri­sten und der lokalen Bevöl­ke­rung sah, wurde mir klar, dass einen das Fremde inter­es­siert. Kaum ist man aber wieder zuhause, ist dies nicht mehr der Fall. Respek­tive: Solange die Afri­kaner dort unten bleiben, ist es gut. Hier aber wollen wir nichts von ihnen wissen. Es ist schon grotesk, dass wir auf der ganzen Welt rumjetten, aber hier bei uns mit dem Fremden nicht umgehen können. Du sitzt im Raucher­salon dieses Zuges und hörst ein Referat über Skla­verei im 19. Jahr­hun­dert. Während­dessen merkst du, dass Skla­verei immer noch ein Thema ist. Die Situa­tion im Zug war so absurd, dass man nur noch darüber lachen kann.

Dann hast du dir vorge­nommen, das auf die Schweiz zu übertragen?

Ich wollte schon immer einen Film über dieses Thema drehen, am lieb­sten einen Science-Fiction-Film auf diesen Container-Schiffen. Das hätte als Erst­lings­werk aber den Rahmen gesprengt. Also habe ich mir über­legt, wie ich das einfa­cher gestalten könnte. Es musste in einem Haus spielen und es durften nicht zu viele Schau­spieler invol­viert sein. Folg­lich habe ich den Film um das Schau­spie­ler­paar aufge­baut, mit dem ich bei meinem Kurz­film Buumes bereits gute Erfah­rungen gesam­melt hatte.

Dieses Ehepaar ist ziem­lich inter­es­sant. Ihre Unbe­hol­fen­heit löst eine Ehekrise aus.

Ihre Ehe gerät ins Wanken, weil sie unter­schied­liche Ansichten haben. Sie würde gerne helfen und etwas ändern, aber er will nicht. Sie reprä­sen­tieren als Paar das Dilemma, in dem sich die Schweiz befindet. Ich glaube, dass viele Leute helfen wollen, aber nicht können. Man ist sich bewusst, wo man steht, aber man kann nichts dagegen tun.

Weil man sich vor den Konse­quenzen fürchtet?

Genau. Wir würden gerne eine andere Welt haben, aber das geht leider nicht. Im Film geht es um Fassaden, um Aussen- und Innen­welten oder um das, was man gegen aussen zeigen möchte. Das hat sehr viel mit der Schweiz zu tun. Man möchte gegen aussen stets den Schein wahren, aber hinter den Fassaden wäre man eigent­lich bereit, etwas zu ändern. Denn eigent­lich kommen die Figuren im Film zu dritt gut mitein­ander aus. Man isst zusammen zu Abend. Die Fenster­läden sind aber geschlossen, da sie Angst vor den Nach­barn haben. Man hat Angst davor, was der andere über einen sagen könnte. Dabei bräuchte es so wenig. Man muss nur mitein­ander spre­chen und einander zuhören. Es gibt eine Szene gegen Ende des Films, in der die Suda­nesen Ralph sagen wollen, dass sie gehen. Und Ralph antwortet: „No, no, no, I don’t want to listen, I don’t want to hear.“ Er müsste ledig­lich zuhören. Er könnte ja auch mit den Nach­barn spre­chen, um sich Rat zu holen. Er macht es aber nicht. Es ist wich­tiger, dass man den Schein aufrecht erhält, als zu etwas anderem zu stehen.

Ein Schweizer Film also für Schweizer?

Nein, das ist ein euro­päi­sches Problem. Wenn ich den Popu­lismus in Europa betrachte, habe ich das Gefühl, die Leute spre­chen nicht mehr mitein­ander. Deshalb verstehen sie sich auch nicht. Es gibt einen tref­fenden Spruch über Popu­lismus: Popu­lismus ist, wenn man aufge­for­dert wird, Leute zu hassen, die man nicht kennt, und Sachen beju­belt, die man gar nicht voll­bracht hat. Man verur­teilt Leute, von denen man nichts weiss, weil man nicht mit ihnen spricht. Dabei wäre das der Schlüssel zu allem. Ich muss aller­dings auch anfügen: Es gibt zahl­reiche Beispiele von Menschen, die zuhören und Brücken bauen. Man sollte eigent­lich mehr von ihnen berichten. Dann kommt es aber trotzdem wieder wie eine Lawine runter. Diese ganze Burka-Diskus­sion, ist das eine Satire oder was passiert hier? In solchen Fällen merke ich wieder, dass wir nicht mitein­ander spre­chen. Man muss den Leuten helfen, ihnen Instru­mente geben, um das zu thematisieren.

Das Kino als geschützter Diskussionsraum?

Eher als ein psycho­lo­gi­sches Modell, das man neben sich aufstellen kann, um zu schauen, wie etwas funk­tio­niert. So muss man nicht von sich spre­chen, sondern kann auf diese Figuren verweisen.

Es gab Kommen­tare, der Film könnte noch bissiger sein. Teilst du diese Meinung?

Höch­stens bezogen auf das Ende des Films, da bin ich ein wenig hin- und herge­rissen. Aber ich denke, der Film hat insge­samt genü­gend Biss. Jemanden im Natio­nal­park auszu­setzen oder in einer Ikea-Kiste auszu­schaffen, finde ich schon ziem­lich gemein.

Was für Reak­tionen hast du von Leuten erhalten, die sich aktiv mit der Flücht­lings­krise auseinandersetzen?

Mich erstaunte die geringe Aufmerk­sam­keit von NGOs wie zum Beispiel Soli­da­rité sans fron­tières. Ich habe gedacht, die Reak­tionen würden grösser ausfallen. Da kam aber nichts, was mich ein biss­chen enttäuscht hat.

Was für Projekte stehen in Zukunft an?

Ich wünschte, es gäbe schon was Konkretes. Ich schreibe gerade an verschie­denen Stücken. Wir haben uns auch über­legt, ob wir eine Fort­set­zung von Gähwi­lers drehen sollen. Nun muss ich aller­dings abwarten und schauen, was mit dem aktu­ellen Film passiert.

P.S.: Wer noch Fragen zum Film oder zur Lage der Nation hat, kann Ralph Gähwiler direkt auf Face­book anschreiben. Wenn er nicht gerade Gedichte an seine Frau verfasst, kommen­tiert er gerne den Schweizer Politikbetrieb.

Zur Person:

Martin Guggis­berg wurde 1971 in Bern geboren. Er besuchte die London Film School, drehte Kurz­filme als Regis­seur und schrieb Dreh­bü­cher. Usgrächnet Gähwi­lers ist sein erster Kino­film. Guggis­berg arbei­tete als Foto­graf für verschie­dene inter­na­tio­nale Publi­ka­tionen. Er ist Mitgründer der Produk­ti­ons­firma so&so gmbh und lebt und arbeitet in Zürich und Bern.[/mailquote]

 


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