Wie kann die Linke aus der Geschichte lernen, Bini Adamczak?

Ende Dezember jährt sich das Ende der Sowjet­union zum 30. Mal. Die poli­ti­sche Autorin Bini Adamczak spricht im Inter­view darüber, was die Linke aus der Russi­schen Revo­lu­tion und ihrem Schei­tern lernen kann. 
"Das Erste, das wir aus der Geschichte lernen können, ist, wie schwer es ist, aus der Geschichte zu lernen." (Foto: Moises Gonzales / unsplash)

Das Lamm: Bini Adamczak, Ende Dezember jährt sich das Ende der Sowjet­union zum 30. Mal. Was bedeutet dieses histo­ri­sche Ereignis heute für die poli­ti­sche Linke in Europa?

Bini Adamczak: Die Linke ist noch immer geprägt durch die Nieder­lage der Sowjet­union 1990/1991 und deren vorher­ge­gan­genes Schei­tern. Auch die nicht-auto­ri­täre Linke, die sich nicht positiv, sondern kritisch auf die Sowjet­union bezogen hat, hat unter deren Unter­gang gelitten. Denn mit diesem hat sich die Vorstel­lung durch­ge­setzt, dass mit dem liberal-demo­kra­ti­schen Kapi­ta­lismus das Ende der Geschichte erreicht ist und alle Versuche weiter­ge­hender Verän­de­rung zwecklos sind.

Foto: Chris Grodotzki

Die in Berlin lebende poli­ti­sche Theo­re­ti­kerin, Philo­so­phin und Künst­lerin befasst sich in ihren Werken mit Kommu­nismus, Revo­lu­tion und queerer Sexua­lität. Zuletzt erschienen 2017 Bezie­hungs­weise Revo­lu­tion: 1917, 1968 und kommende und Der schönste Tag im Leben des Alex­ander Berkman: Vom mögli­chen Gelingen der Russi­schen Revo­lu­tion. Ihr 2017 in Englisch erschie­nenes Buch Commu­nism for Kids löste in den USA einen anti­kom­mu­ni­sti­schen Shits­torm aus.

Hat sich das bis heute durchgezogen?

Nein, das hat sich mit der Welt­wirt­schafts­krise 2009 und den darauf­fol­genden sozialen Bewe­gungen und Rebel­lionen rela­ti­viert. Insbe­son­dere mit dem Arabi­schen Früh­ling und der Occupy-Bewe­gung, später mit den welt­weiten Frauen*streiks, Fridays For Future und Black Lives Matter. Dass das Ende der Geschichte selbst an ein Ende gekommen ist, zeigt sich unglück­li­cher­weise auch an der Wieder­kehr des euro­päi­schen Faschismus weit über Europa hinaus. Der Ausgang der Geschichte ist wieder offen, die Zukunft ungewiss.

Was lernten die ange­spro­chenen linken Bewe­gungen nach 1991 aus den geschei­terten auto­ri­tären Struk­turen der Sowjetunion?

In Bewe­gungen wie Occupy konnten wir zunächst histo­ri­sche Lern­pro­zesse beob­achten: Sie orga­ni­sierten sich nicht nach dem leni­ni­sti­schen Modell einer zentra­li­sti­schen Kader­partei und räumten Fragen der Repro­duk­tion (der ganzen Sorge­ar­beit) einen zentralen Platz ein. Später ist dennoch viel des radi­kal­de­mo­kra­ti­schen Aufbruchs verloren gegangen. Er verschwand in der Bildung von Parteien, wie Syriza in Grie­chen­land und Podemos in Spanien, oder wurde vom euro­deut­schen Austeri­täts­re­gime, das Spar­maß­nahmen erzwang, erdrückt.

Heute kehrt die auto­ri­täre Versu­chung inner­halb der Linken vor dem Hinter­grund der extremen Dring­lich­keit der ökolo­gi­schen Kata­strophe zurück. Diese Kata­strophe in kürze­ster Zeit abzu­wenden oder zumin­dest abzu­mil­dern ist unbe­streitbar notwendig. Aber es erscheint unter der Bedin­gung des kapi­ta­li­sti­schen Wachs­tums­zwangs zugleich als unmög­lich. Von hier her bezieht die Idee einer sozia­li­sti­schen Ökodik­tatur ihre Plausibilität.

Die Russi­sche Revo­lu­tion war eine Phase des Umsturzes in Russ­land im Jahre 1917 infolge von Versor­gungs­krisen, mili­tä­ri­schen Verlu­sten während des Ersten Welt­krieges, fehlendem Reform­willen der Zaren­herr­schaft und der Gewalt durch den repres­siven Staats­ap­parat. Einge­leitet wurde sie mit der Febru­ar­re­vo­lu­tion 1917, die das Zaren­reich stürzte. In der Folge bildete sich eine Doppel­herr­schaft zwischen Duma (Parla­ment), die eine Provi­so­ri­sche Regie­rung einsetzte, und dem basis­de­mo­kra­ti­schen Sowjet (Arbeiter- und Solda­tenrat) der Haupt­stadt Petro­grad (heute St. Peters­burg). Während die Provi­so­ri­sche Regie­rung als Koali­tion eines brei­teren poli­ti­schen Spek­trums bestand, gröss­ten­teils aber von libe­ralen Kräften geprägt war, erfuhr der Petro­grader Sowjet nach 1917 einen zuneh­menden Einfluss durch die revo­lu­tio­nären Bolsche­wiki. In der Okto­ber­re­vo­lu­tion 1917 über­nahmen diese die Macht. Dies mündete in einem mehr­jäh­rigen blutigen Bürger­krieg bis 1922 zwischen „Roten“ (Bolsche­wiki) und „Weissen“ (breite Koali­tion von Nationalist:innen bis rechten Sozialist:innen). Im Russi­schen Bürger­krieg übten sowohl die Bolsche­wiki unter staat­li­cher Verord­nung massive Gewalt gegen poli­ti­sche Gegner:innen und Grossgrundbesitzer:innen aus (soge­nannter „Roter Terror“) als auch die Konterrevolutionär:innen („Weisser Terror“).

Mit dem Sieg der Bolsche­wiki im Russi­schen Bürger­krieg über die konter­re­vo­lu­tio­nären „Weissen“ 1922 wurde die Sowjet­union gegründet – der erste kommu­ni­sti­sche Staat der Welt. Das zuvor und seit der Okto­ber­re­vo­lu­tion existie­rende Sowjet­russ­land entfernte sich mit Einsetzen des Russi­schen Bürger­kriegs sowohl von demo­kra­ti­schen als auch marxi­sti­schen Grund­prin­zi­pien und legte somit den Grund­stein für das Einpar­tei­en­sy­stem der Sowjet­union. So lösten die Bolsche­wiki Anfang 1918 die Versamm­lung zur Erar­bei­tung einer Verfas­sung auf (die Konsti­tu­ie­rende Versamm­lung), nachdem sie die Wahlen dazu im November 1917 verloren hatten und über mehrere Monate die Arbeit der Versamm­lung blockierten. Im Zuge der Auflö­sung der Versamm­lung bekämpften die Bolsche­wiki jegliche oppo­si­tio­nellen Bestre­bungen und limi­tierten den Einfluss der Arbeiter- und Solda­ten­räte (Sowjets) zugun­sten der zentralen Führung unter Lenin.

Revo­lu­tio­näre Frak­tion der Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Arbei­ter­partei Russ­lands (SDAPR) unter dem Vorsitz Vladimir Il’ič Lenins. Sie grün­dete sich infolge der Spal­tung der SDAPR 1903 auf dem Partei­kon­gress in London als revo­lu­tio­näre Frak­tion, während sich der refor­mi­sti­sche Teil unter dem Namen Mensche­wiki sammelte. Die Bolsche­wiki verfolgten die Lehre des Marxismus und propa­gierten ab Mitte des Jahres 1917 die „Diktatur des Prole­ta­riats“ zur Erschaf­fung einer kommu­ni­sti­schen Gesell­schafts­ord­nung. Die Partei orga­ni­sierte sich straff hier­ar­chisch und als Kader­partei von Berufsrevolutionär:innen, die ihr Leben voll­um­fäng­lich der revo­lu­tio­nären Umge­stal­tung widmen und so als Vorbild für die prole­ta­ri­sche Masse agieren sollten. In der revo­lu­tio­nären Phase zwischen Februar- und Okto­ber­re­vo­lu­tion wurden die Bolsche­wiki kurz­zeitig durch die Provi­so­ri­sche Regie­rung verboten. Die Bolsche­wiki spra­chen sich als einzige poli­ti­sche Partei voll­um­fäng­lich gegen den Ersten Welt­krieg aus und gewannen so grös­sere Teile der Bevöl­ke­rung für ihre revo­lu­tio­nären Ideen.

Bezeich­nung für das Leben inner­halb der sozia­li­sti­schen Staaten während des Kalten Krieges. Der Begriff bezieht sich auf die unter sowje­ti­schem Einfluss gestan­denen Staaten wie die Deut­sche Demo­kra­ti­sche Repu­blik (DDR), Polen oder Kuba. Die Bezeich­nung „real existie­render Sozia­lismus“ diente Kritiker:innen der auto­ri­tären und repres­siven sozia­li­sti­schen Staaten des Ostblockes als Mittel, um die Kluft zwischen marxi­sti­scher Theorie und realem Leben und Alltag inner­halb der sozia­li­sti­schen Systems aufzuzeigen.

Wie viel Sinn macht es als poli­ti­sche Linke heute noch, sich mit den Erfah­rungen von sozia­li­sti­scher Diktatur und der Sowjet­union zu befassen und daraus mögliche Hand­lungs­weisen abzuleiten?

Nicht die Linken indi­vi­duell, aber die Linke als kollek­tive Bewe­gung muss aus den Erfah­rungen ihres tempo­rären Sieges in der Russi­schen Revo­lu­tion sowie dem darauf­fol­genden Schei­tern lernen. Dass die Abschaf­fung des Kapi­ta­lismus und die Konstruk­tion anderer soli­da­ri­scher Bezie­hungs­weisen notwendig ist, ist in vielen gesell­schaft­li­chen Berei­chen offen­kundig. Entspre­chend weit verbreitet ist diese Einsicht. Dass aber zugleich die Möglich­keit für eine solche Trans­for­ma­tion als sehr gering einge­schätzt wird, liegt nicht zuletzt auch an den Erfah­rungen des real existie­renden Sozia­lismus. Über 70 Jahre lang war das kommu­ni­sti­sche Verspre­chen in den Versu­chen seiner Reali­sie­rung nur in sehr verzerrter Weise wieder­zu­er­kennen. Das Miss­trauen gegen­über kommu­ni­sti­schen Versu­chungen ist also histo­risch gerecht­fer­tigt. Der einzig mögliche Umgang hiermit liegt im Durch­gang durch die Geschichte. Wir müssen versu­chen zu klären, warum diese Versuche nicht geglückt, sondern geschei­tert sind.

In Ihrem Buch Der schönste Tag im Leben des Alex­ander Berkman beschreiben Sie verschie­dene Szena­rien, wie Sozia­lismus inner­halb der neu entste­henden Sowjet­union hätte umge­setzt werden können. Sie sagen, dass wir durch das Erfor­schen von histo­ri­schen Ereig­nissen Entwürfe für eine bessere Politik in der Gegen­wart ableiten können. Wie funk­tio­niert das konkret – aus der Geschichte lernen?

Das Erste, das wir aus der Geschichte lernen können, ist, wie schwer es ist, aus der Geschichte zu lernen. Auch die bolsche­wi­sti­schen Revolutionär:innen etwa verstanden ihre Politik als eine Lehre aus der Geschichte. Vor allem aus der Pariser Kommune. Wie viele revo­lu­tio­näre Versuche davor und danach lehrte die Erfah­rung der Pariser Kommune, dass auf beinahe jede Revo­lu­tion eine Konter­re­vo­lu­tion folgt. Sie lehrte einmal mehr, dass revo­lu­tio­näre huma­ni­sti­sche Ideale nicht notwendig die Konter­re­vo­lu­tion huma­ni­sieren.  Revo­lu­tio­näre Selbst­be­schrän­kungen wie Ehrlich­keit oder gar Fried­lich­keit werden nicht unbe­dingt in glei­cher Weise von der Gegen­seite beant­wortet, sondern meist als Schwäche gedeutet und für die brutale Nieder­schla­gung des revo­lu­tio­nären Versuchs ausgenutzt.

Wie hat diese Erfah­rung das Verhalten der Linken geprägt?

Aus der wieder­holten Erfah­rung der gewalt­vollen Konter­re­vo­lu­tion haben Linke die Schluss­fol­ge­rung gezogen, dass auch die Revo­lu­tion gewalt­voll sein muss. Um die Konter­re­vo­lu­tion präventiv nieder­zu­schlagen, müsse sich die Revo­lu­tion selbst mili­ta­ri­sieren und auto­ri­ta­ri­sieren. Die unmit­tel­baren Resul­tate der Russi­schen Revo­lu­tion geben dieser Schluss­fol­ge­rung recht. Sie hat nicht das gleiche Schicksal erlitten wie beispiels­weise die Spani­sche Repu­blik nach 1939 oder die gewählte sozia­li­sti­sche Repu­blik in Chile von 1970 bis 1973, die beide nieder­ge­schlagen wurden.

Gleich­zeitig hat die Russi­sche Revo­lu­tion demon­striert, dass der Sieg über die Konter­re­vo­lu­tion nicht auto­ma­tisch im Erfolg des Sozia­lismus mündet. Im Kampf gegen die Konterrevolutionär:innen hat sich die Revo­lu­tion der Konter­re­vo­lu­tion ange­gli­chen. Die Russi­sche Revo­lu­tion war also sieg­reich, aber nicht erfolg­reich. Sie schei­terte an ihren eigenen kommu­ni­sti­schen Maßstäben. Entweder Nieder­lage oder Schei­tern – darin besteht das revo­lu­tio­näre Dilemma, in dem sich alle eman­zi­pa­to­ri­schen Trans­for­ma­ti­ons­ver­suche seitdem befinden.

Liegt in dieser auto­ri­tären Anglei­chung an die Konter­re­vo­lu­tion der Ursprung der Spal­tung der Linken?

Die Inter­na­tio­nale Arbeiter:innenbewegung hatte prokla­miert, dass ihre Soli­da­rität univer­sell sei, dass das Prole­ta­riat kein Vater­land kenne, dass die Grenze nicht zwischen Nationen verlaufe, sondern zwischen oben und unten. Dieses Verspre­chen wurde am Vorabend des Ersten Welt­kriegs 1914 durch die Mehr­heits­frak­tionen der euro­päi­schen Sozi­al­de­mo­kratie verraten, insbe­son­dere durch die deut­sche, die im Reichstag ganz ohne Zwang den Kriegs­kre­diten zustimmte.

Im Zuge des 1914 eintre­tenden Ersten Welt­krieges zogen sich mehrere Bruch­li­nien durch die inter­na­tio­nale Linke, vor allem jene zwischen Kriegsbefürworter:innen und Kriegsgegner:innen. Inner­halb der deut­schen Sozi­al­de­mo­kratie (SPD) äusserte sich der Konflikt 1914 im Rahmen der Abstim­mung im Reichstag zur Bewil­li­gung von Kriegs­kre­diten für den Kampf des Deut­schen Reiches gegen Frank­reich und Russ­land. Von der SPD stimmte einzig der Abge­ord­nete und spätere Mitgründer der Kommu­ni­sti­schen Partei Deutsch­lands (KPD) Karl Lieb­knecht mit Nein. In den Augen der linken Sozialdemokrat:innen stimmte die SPD damit für Krieg, Natio­na­lismus und Patrio­tismus und verriet das marxi­sti­sche Ideal des Inter­na­tio­na­lismus und des inter­na­tio­nalen Kampfes des Prole­ta­riats. In der Folge spal­tete sich ein Teil der SPD von der Partei ab. Dieser Konflikt sorgt inner­halb der deut­schen Linken heute noch für Diskussionsstoff.

Die Bedeu­tung dieser Entschei­dung lässt sich schwer über­schätzen. Für die russi­schen Revolutionär:innen war die deut­sche Sozi­al­de­mo­kratie – die stärkste sozia­li­sti­sche Partei der Welt – das Vorbild schlechthin. Entspre­chend gewaltig war die Enttäu­schung ange­sichts ihres natio­na­li­sti­schen Verrats. Russi­sche Revolutionär:innen hatten schon zuvor, zumal nach der nieder­ge­schla­genen Revo­lu­tion von 1905, versucht, dem zari­sti­schen Auto­ri­ta­rismus mit einer auto­ri­tären Politik beizu­kommen. Aber die weit verbrei­tete Verbit­te­rung und Verhär­tung, der Versuch, die eigenen Reihen geschlossen zu halten und die Demo­kratie dem Zentra­lismus zu opfern, erklärt sich auch aus dieser inter­na­tio­nalen Enttäuschung.

Wie hat sich das in den kommenden Jahren ausgewirkt?

Die Jahre 1917 bis 1921 sind die zentralen Jahre der Russi­schen Revo­lu­tion. In dieser Zeit spitze sich die Konfron­ta­tion zwischen Bolsche­wiki und refor­mi­sti­scheren sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Parteien wie den Mensche­wiki und den Rechten Sozialrevolutionär:innen zu. Diese wurden aus dem revo­lu­tio­nären Prozess heraus­ge­drängt und schlossen sich häufig der Konter­re­vo­lu­tion an, woraufhin die Ausein­an­der­set­zungen mili­tä­risch ausge­tragen wurden.

Die Spal­tung erschwerte es dann auch Sozialdemokrat:innen in anderen Teilen der Welt, die den sozia­li­sti­schen Revo­lu­ti­ons­ver­such ohnehin als „verfrüht“ ablehnten, sich soli­da­risch auf die Russi­sche Revo­lu­tion zu beziehen. Kurz darauf verschlech­terten sich auch die Bezie­hungen der Bolsche­wiki zu anderen linken Kräften wie beispiels­weise den Anarchist:innen. Dass die Bolsche­wiki ihre anar­chi­sti­schen Verbün­deten, etwa die Mach­nowtschina in der Ukraine, verrieten und den Versuch des Matros:innenaufstandes von Kron­stadt, die Revo­lu­tion zu ihren anti­au­to­ri­tären Anfängen zurück­zu­führen, blutig nieder­schlugen, prägt die Bezie­hungen zwischen marxi­sti­schen und anar­chi­sti­schen Kommunist:innen bis heute.

Was kann die heutige Linke aus dieser Spal­tung lernen?

Daraus können wir zum einen lernen, wie triftig die Gründe für die Spal­tung häufig sind, und zum anderen, wie notwendig es trotzdem oft gewesen wäre, sie zu über­winden. Der Hass auf die Sozi­al­de­mo­kratie etwa – für die Unter­stüt­zung des Welt­kriegs und den Verrat der inter­na­tio­nalen Soli­da­rität, später für die Zerstö­rung der deut­schen Novem­ber­re­vo­lu­tion, die Ermor­dung von Luxem­burg und Lieb­knecht – lässt sich beinahe unmög­lich anfechten. Trotzdem wäre es notwendig gewesen, linke wie auch rech­tere Sozialist:innen, wo diese das über­haupt irgendwie zuge­lassen hätten, in ein brei­teres sozia­li­sti­sches Projekt einzu­betten. Bereits aus instru­men­tellen Gründen. Einer­seits, um den konter­re­vo­lu­tio­nären Bürger­krieg in Russ­land abzu­schwä­chen, ande­rer­seits, später, um eine brei­tere anti­fa­schi­sti­sche Allianz in Deutsch­land oder Spanien aufbauen zu können.

Wie sehr ist die poli­ti­sche Linke in Europa von diesem Hass und dieser Spal­tung heute noch geprägt?

Natür­lich sind die Spal­tungen zwischen refor­mi­sti­scher und radi­kaler Linken sowie inner­halb dieser noch heute deut­lich spürbar. Aller­dings wurde die Zerklüf­tung der Linken noch durch andere histo­ri­sche Prozesse poten­ziert. Wo die Linke an Stärke verloren hat, wächst die Versu­chung, sich auf inner­linke Strei­tig­keiten zu konzen­trieren. Denn dort lässt sich noch ein gewisser Einfluss finden: Wenn jemand ein Flug­blatt gegen die Regie­rung schreibt, inter­es­siert das meist relativ wenige Leute. Wenn jemand aber ein Flug­blatt gegen die linke Gruppe schreibt, die im Nach­bar­zimmer tagt, wird sich zumin­dest diese Gruppe zur Reak­tion genö­tigt sehen.

Zudem führt das Gefühl von Ohnmacht im poli­ti­schen Feld nicht selten zur Sehn­sucht nach einem Ort, wo du wenig­stens mit einer kleinen Anzahl von Leuten über­ein­stimmst, einen Safe Space findest. Die Diffe­renzen hier erscheinen, obwohl sie häufig klein sind, als sehr viel bedroh­li­cher als dieje­nigen zu Leuten, mit denen du ohnehin nicht viel zu tun hast. Daher die leiden­schaft­liche Inve­sti­tion in diese Auseinandersetzungen.

Die Linke befindet sich seit 1990 in einem Prozess des Rück­zuges und dreht sich immer mehr um sich selbst. Doch die Auflö­sung der Sowjet­union kann doch nicht der einzige Grund dafür sein…

Die Linke ist auch auf vielen Berei­chen in der histo­ri­schen Offen­sive. Aber für den beschrie­benen Prozess ist natür­lich auch die neoli­be­rale Konter­re­vo­lu­tion entschei­dend, die sich mit der Nieder­lage der UdSSR welt­weit durch­setzen konnte. Sie entstand als Antwort auf den anti­au­to­ri­tären Aufbruch von 1968. Dessen Forde­rung nach Frei­heit und Diffe­renz wird im Neoli­be­ra­lismus zu Indi­vi­dua­li­sie­rung und Frag­men­tie­rung verkehrt. Berühmt in der Formu­lie­rung von Margaret That­cher, es gäbe keine Gesell­schaft, sondern nur „indi­vi­du­elle Männer und Frauen und Fami­lien“. Dieser neoli­be­rale Prozess durch­zieht auch die Linke, die sich in unzäh­lige Unter­grup­pie­rungen aufteilt: Anti­ras­si­sti­sche Linke, anti­se­xi­sti­sche Linke, Linke, die gegen Ablei­smus kämpfen, Linke, die für eine ökolo­gi­sche Wende streiten und so weiter. Linke Gruppen besetzen parti­ku­lare Posi­tionen und gehen wenig Koope­ra­tionen ein.

Wie könnten sie das?

Es ist hilf­reich, die mate­ri­ellen Bedin­gungen zu analy­sieren, unter denen Politik in der Gegen­wart statt­findet. Das Projekt des neoli­be­ralen Kapi­ta­lismus zielt darauf, Bezie­hungen zu zerschlagen, also das Soziale zu indi­vi­dua­li­sieren bezie­hungs­weise zu fami­lia­ri­sieren und die versprengten Einheiten dem Ideal nach nur noch über das Geld zu verbinden. In dieser Situa­tion geraten Menschen in Versu­chung, sich auf sich selbst zurück­zu­ziehen und die Posi­tion, die sie in der Gesell­schaft einnehmen, wie ein Eigentum gegen andere zu vertei­digen. Etwa in Form einer natio­nalen, geschlecht­li­chen, sexu­ellen, einer subkul­tu­rellen oder einer poli­ti­schen Iden­tität. Dieser Prozess findet haupt­säch­lich auf der Seite der Rechten statt, aber auch andere Teile der Gesell­schaft sind davon nicht frei.

Das Bedürfnis nach Iden­tität wie ihre Rele­vanz ist also selbst histo­risch. Ein Blick auf die Russi­sche Revo­lu­tion, wie auf Revo­lu­tionen im Allge­meinen, kann hier zeigen, dass die poli­ti­sche Iden­tität von einzelnen Gruppen – zusam­men­ge­fasst unter dem Namen einer Partei – wenig aussa­ge­kräftig ist. Nicht nur die Zusam­men­set­zungen der Parteien, auch ihre jewei­ligen poli­ti­schen Posi­tionen ändern sich ständig. Das passiert sonst auch, aber inner­halb eines revo­lu­tio­nären Prozesses geschieht es in hoch beschleu­nigter Weise. Dieselben Namen stehen in sich verän­dernden Kräf­te­ver­hält­nissen, in wech­selnden Bezie­hungs­weisen, für sehr unter­schied­liche Poli­tiken. Wer auf Iden­ti­täten fokus­siert, über­sieht das.

Wie kann also die iden­ti­täre Frag­men­tie­rung zwischen linken Gruppen über­wunden werden?

Der neoli­be­ralen Frag­men­tie­rung kann eine Politik entge­gen­ge­setzt werden, die weniger an Iden­ti­täten inter­es­siert ist als an Bezie­hungen, die weniger auf Posi­tionen oder Haltungen fokus­siert und mehr auf die Verknüp­fung von verschie­denen Kämpfen. Statt idea­li­sti­schen Fragen treten dann solche der Praxis, etwa der Orga­ni­sie­rung, in den Vorder­grund. Das Bürgertum kann gegen­über inhalt­li­chen Diffe­renzen, den soge­nannten Werte­fragen, oft Tole­ranz predigen. Es hat sich nach der Erfah­rung des Engli­schen Bürger­krieges (1649–1651) und den folgenden Macht­kämpfen bis zur Engli­schen Revo­lu­tion (1689) gewis­ser­massen darauf geei­nigt, reli­giösen Unter­schieden nicht allzu viel Bedeu­tung zuzu­messen: Sollen doch alle im Privaten glauben, was sie wollen, solange die Grund­lage, auf der Politik ausge­tragen wird, erhalten bleibt: das Privat­ei­gentum. Ist es nicht verwun­der­lich, dass eine mate­ria­li­sti­sche Linke, der es ja weniger um Ideen als um die tatsäch­li­chen Lebens­ver­hält­nisse geht, nicht allzu viel Vergleich­bares (Commons etwa) anzu­bieten hat?


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