Das Lamm: Bini Adamczak, Ende Dezember jährt sich das Ende der Sowjetunion zum 30. Mal. Was bedeutet dieses historische Ereignis heute für die politische Linke in Europa?
Bini Adamczak: Die Linke ist noch immer geprägt durch die Niederlage der Sowjetunion 1990/1991 und deren vorhergegangenes Scheitern. Auch die nicht-autoritäre Linke, die sich nicht positiv, sondern kritisch auf die Sowjetunion bezogen hat, hat unter deren Untergang gelitten. Denn mit diesem hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass mit dem liberal-demokratischen Kapitalismus das Ende der Geschichte erreicht ist und alle Versuche weitergehender Veränderung zwecklos sind.
Die in Berlin lebende politische Theoretikerin, Philosophin und Künstlerin befasst sich in ihren Werken mit Kommunismus, Revolution und queerer Sexualität. Zuletzt erschienen 2017 Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende und Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman: Vom möglichen Gelingen der Russischen Revolution. Ihr 2017 in Englisch erschienenes Buch Communism for Kids löste in den USA einen antikommunistischen Shitstorm aus.
Hat sich das bis heute durchgezogen?
Nein, das hat sich mit der Weltwirtschaftskrise 2009 und den darauffolgenden sozialen Bewegungen und Rebellionen relativiert. Insbesondere mit dem Arabischen Frühling und der Occupy-Bewegung, später mit den weltweiten Frauen*streiks, Fridays For Future und Black Lives Matter. Dass das Ende der Geschichte selbst an ein Ende gekommen ist, zeigt sich unglücklicherweise auch an der Wiederkehr des europäischen Faschismus weit über Europa hinaus. Der Ausgang der Geschichte ist wieder offen, die Zukunft ungewiss.
Was lernten die angesprochenen linken Bewegungen nach 1991 aus den gescheiterten autoritären Strukturen der Sowjetunion?
In Bewegungen wie Occupy konnten wir zunächst historische Lernprozesse beobachten: Sie organisierten sich nicht nach dem leninistischen Modell einer zentralistischen Kaderpartei und räumten Fragen der Reproduktion (der ganzen Sorgearbeit) einen zentralen Platz ein. Später ist dennoch viel des radikaldemokratischen Aufbruchs verloren gegangen. Er verschwand in der Bildung von Parteien, wie Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien, oder wurde vom eurodeutschen Austeritätsregime, das Sparmaßnahmen erzwang, erdrückt.
Heute kehrt die autoritäre Versuchung innerhalb der Linken vor dem Hintergrund der extremen Dringlichkeit der ökologischen Katastrophe zurück. Diese Katastrophe in kürzester Zeit abzuwenden oder zumindest abzumildern ist unbestreitbar notwendig. Aber es erscheint unter der Bedingung des kapitalistischen Wachstumszwangs zugleich als unmöglich. Von hier her bezieht die Idee einer sozialistischen Ökodiktatur ihre Plausibilität.
Die Russische Revolution war eine Phase des Umsturzes in Russland im Jahre 1917 infolge von Versorgungskrisen, militärischen Verlusten während des Ersten Weltkrieges, fehlendem Reformwillen der Zarenherrschaft und der Gewalt durch den repressiven Staatsapparat. Eingeleitet wurde sie mit der Februarrevolution 1917, die das Zarenreich stürzte. In der Folge bildete sich eine Doppelherrschaft zwischen Duma (Parlament), die eine Provisorische Regierung einsetzte, und dem basisdemokratischen Sowjet (Arbeiter- und Soldatenrat) der Hauptstadt Petrograd (heute St. Petersburg). Während die Provisorische Regierung als Koalition eines breiteren politischen Spektrums bestand, grösstenteils aber von liberalen Kräften geprägt war, erfuhr der Petrograder Sowjet nach 1917 einen zunehmenden Einfluss durch die revolutionären Bolschewiki. In der Oktoberrevolution 1917 übernahmen diese die Macht. Dies mündete in einem mehrjährigen blutigen Bürgerkrieg bis 1922 zwischen „Roten“ (Bolschewiki) und „Weissen“ (breite Koalition von Nationalist:innen bis rechten Sozialist:innen). Im Russischen Bürgerkrieg übten sowohl die Bolschewiki unter staatlicher Verordnung massive Gewalt gegen politische Gegner:innen und Grossgrundbesitzer:innen aus (sogenannter „Roter Terror“) als auch die Konterrevolutionär:innen („Weisser Terror“).
Mit dem Sieg der Bolschewiki im Russischen Bürgerkrieg über die konterrevolutionären „Weissen“ 1922 wurde die Sowjetunion gegründet – der erste kommunistische Staat der Welt. Das zuvor und seit der Oktoberrevolution existierende Sowjetrussland entfernte sich mit Einsetzen des Russischen Bürgerkriegs sowohl von demokratischen als auch marxistischen Grundprinzipien und legte somit den Grundstein für das Einparteiensystem der Sowjetunion. So lösten die Bolschewiki Anfang 1918 die Versammlung zur Erarbeitung einer Verfassung auf (die Konstituierende Versammlung), nachdem sie die Wahlen dazu im November 1917 verloren hatten und über mehrere Monate die Arbeit der Versammlung blockierten. Im Zuge der Auflösung der Versammlung bekämpften die Bolschewiki jegliche oppositionellen Bestrebungen und limitierten den Einfluss der Arbeiter- und Soldatenräte (Sowjets) zugunsten der zentralen Führung unter Lenin.
Revolutionäre Fraktion der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) unter dem Vorsitz Vladimir Il’ič Lenins. Sie gründete sich infolge der Spaltung der SDAPR 1903 auf dem Parteikongress in London als revolutionäre Fraktion, während sich der reformistische Teil unter dem Namen Menschewiki sammelte. Die Bolschewiki verfolgten die Lehre des Marxismus und propagierten ab Mitte des Jahres 1917 die „Diktatur des Proletariats“ zur Erschaffung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung. Die Partei organisierte sich straff hierarchisch und als Kaderpartei von Berufsrevolutionär:innen, die ihr Leben vollumfänglich der revolutionären Umgestaltung widmen und so als Vorbild für die proletarische Masse agieren sollten. In der revolutionären Phase zwischen Februar- und Oktoberrevolution wurden die Bolschewiki kurzzeitig durch die Provisorische Regierung verboten. Die Bolschewiki sprachen sich als einzige politische Partei vollumfänglich gegen den Ersten Weltkrieg aus und gewannen so grössere Teile der Bevölkerung für ihre revolutionären Ideen.
Bezeichnung für das Leben innerhalb der sozialistischen Staaten während des Kalten Krieges. Der Begriff bezieht sich auf die unter sowjetischem Einfluss gestandenen Staaten wie die Deutsche Demokratische Republik (DDR), Polen oder Kuba. Die Bezeichnung „real existierender Sozialismus“ diente Kritiker:innen der autoritären und repressiven sozialistischen Staaten des Ostblockes als Mittel, um die Kluft zwischen marxistischer Theorie und realem Leben und Alltag innerhalb der sozialistischen Systems aufzuzeigen.
Wie viel Sinn macht es als politische Linke heute noch, sich mit den Erfahrungen von sozialistischer Diktatur und der Sowjetunion zu befassen und daraus mögliche Handlungsweisen abzuleiten?
Nicht die Linken individuell, aber die Linke als kollektive Bewegung muss aus den Erfahrungen ihres temporären Sieges in der Russischen Revolution sowie dem darauffolgenden Scheitern lernen. Dass die Abschaffung des Kapitalismus und die Konstruktion anderer solidarischer Beziehungsweisen notwendig ist, ist in vielen gesellschaftlichen Bereichen offenkundig. Entsprechend weit verbreitet ist diese Einsicht. Dass aber zugleich die Möglichkeit für eine solche Transformation als sehr gering eingeschätzt wird, liegt nicht zuletzt auch an den Erfahrungen des real existierenden Sozialismus. Über 70 Jahre lang war das kommunistische Versprechen in den Versuchen seiner Realisierung nur in sehr verzerrter Weise wiederzuerkennen. Das Misstrauen gegenüber kommunistischen Versuchungen ist also historisch gerechtfertigt. Der einzig mögliche Umgang hiermit liegt im Durchgang durch die Geschichte. Wir müssen versuchen zu klären, warum diese Versuche nicht geglückt, sondern gescheitert sind.
In Ihrem Buch Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman beschreiben Sie verschiedene Szenarien, wie Sozialismus innerhalb der neu entstehenden Sowjetunion hätte umgesetzt werden können. Sie sagen, dass wir durch das Erforschen von historischen Ereignissen Entwürfe für eine bessere Politik in der Gegenwart ableiten können. Wie funktioniert das konkret – aus der Geschichte lernen?
Das Erste, das wir aus der Geschichte lernen können, ist, wie schwer es ist, aus der Geschichte zu lernen. Auch die bolschewistischen Revolutionär:innen etwa verstanden ihre Politik als eine Lehre aus der Geschichte. Vor allem aus der Pariser Kommune. Wie viele revolutionäre Versuche davor und danach lehrte die Erfahrung der Pariser Kommune, dass auf beinahe jede Revolution eine Konterrevolution folgt. Sie lehrte einmal mehr, dass revolutionäre humanistische Ideale nicht notwendig die Konterrevolution humanisieren. Revolutionäre Selbstbeschränkungen wie Ehrlichkeit oder gar Friedlichkeit werden nicht unbedingt in gleicher Weise von der Gegenseite beantwortet, sondern meist als Schwäche gedeutet und für die brutale Niederschlagung des revolutionären Versuchs ausgenutzt.
Wie hat diese Erfahrung das Verhalten der Linken geprägt?
Aus der wiederholten Erfahrung der gewaltvollen Konterrevolution haben Linke die Schlussfolgerung gezogen, dass auch die Revolution gewaltvoll sein muss. Um die Konterrevolution präventiv niederzuschlagen, müsse sich die Revolution selbst militarisieren und autoritarisieren. Die unmittelbaren Resultate der Russischen Revolution geben dieser Schlussfolgerung recht. Sie hat nicht das gleiche Schicksal erlitten wie beispielsweise die Spanische Republik nach 1939 oder die gewählte sozialistische Republik in Chile von 1970 bis 1973, die beide niedergeschlagen wurden.
Gleichzeitig hat die Russische Revolution demonstriert, dass der Sieg über die Konterrevolution nicht automatisch im Erfolg des Sozialismus mündet. Im Kampf gegen die Konterrevolutionär:innen hat sich die Revolution der Konterrevolution angeglichen. Die Russische Revolution war also siegreich, aber nicht erfolgreich. Sie scheiterte an ihren eigenen kommunistischen Maßstäben. Entweder Niederlage oder Scheitern – darin besteht das revolutionäre Dilemma, in dem sich alle emanzipatorischen Transformationsversuche seitdem befinden.
Liegt in dieser autoritären Angleichung an die Konterrevolution der Ursprung der Spaltung der Linken?
Die Internationale Arbeiter:innenbewegung hatte proklamiert, dass ihre Solidarität universell sei, dass das Proletariat kein Vaterland kenne, dass die Grenze nicht zwischen Nationen verlaufe, sondern zwischen oben und unten. Dieses Versprechen wurde am Vorabend des Ersten Weltkriegs 1914 durch die Mehrheitsfraktionen der europäischen Sozialdemokratie verraten, insbesondere durch die deutsche, die im Reichstag ganz ohne Zwang den Kriegskrediten zustimmte.
Im Zuge des 1914 eintretenden Ersten Weltkrieges zogen sich mehrere Bruchlinien durch die internationale Linke, vor allem jene zwischen Kriegsbefürworter:innen und Kriegsgegner:innen. Innerhalb der deutschen Sozialdemokratie (SPD) äusserte sich der Konflikt 1914 im Rahmen der Abstimmung im Reichstag zur Bewilligung von Kriegskrediten für den Kampf des Deutschen Reiches gegen Frankreich und Russland. Von der SPD stimmte einzig der Abgeordnete und spätere Mitgründer der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) Karl Liebknecht mit Nein. In den Augen der linken Sozialdemokrat:innen stimmte die SPD damit für Krieg, Nationalismus und Patriotismus und verriet das marxistische Ideal des Internationalismus und des internationalen Kampfes des Proletariats. In der Folge spaltete sich ein Teil der SPD von der Partei ab. Dieser Konflikt sorgt innerhalb der deutschen Linken heute noch für Diskussionsstoff.
Die Bedeutung dieser Entscheidung lässt sich schwer überschätzen. Für die russischen Revolutionär:innen war die deutsche Sozialdemokratie – die stärkste sozialistische Partei der Welt – das Vorbild schlechthin. Entsprechend gewaltig war die Enttäuschung angesichts ihres nationalistischen Verrats. Russische Revolutionär:innen hatten schon zuvor, zumal nach der niedergeschlagenen Revolution von 1905, versucht, dem zaristischen Autoritarismus mit einer autoritären Politik beizukommen. Aber die weit verbreitete Verbitterung und Verhärtung, der Versuch, die eigenen Reihen geschlossen zu halten und die Demokratie dem Zentralismus zu opfern, erklärt sich auch aus dieser internationalen Enttäuschung.
Wie hat sich das in den kommenden Jahren ausgewirkt?
Die Jahre 1917 bis 1921 sind die zentralen Jahre der Russischen Revolution. In dieser Zeit spitze sich die Konfrontation zwischen Bolschewiki und reformistischeren sozialdemokratischen Parteien wie den Menschewiki und den Rechten Sozialrevolutionär:innen zu. Diese wurden aus dem revolutionären Prozess herausgedrängt und schlossen sich häufig der Konterrevolution an, woraufhin die Auseinandersetzungen militärisch ausgetragen wurden.
Die Spaltung erschwerte es dann auch Sozialdemokrat:innen in anderen Teilen der Welt, die den sozialistischen Revolutionsversuch ohnehin als „verfrüht“ ablehnten, sich solidarisch auf die Russische Revolution zu beziehen. Kurz darauf verschlechterten sich auch die Beziehungen der Bolschewiki zu anderen linken Kräften wie beispielsweise den Anarchist:innen. Dass die Bolschewiki ihre anarchistischen Verbündeten, etwa die Machnowtschina in der Ukraine, verrieten und den Versuch des Matros:innenaufstandes von Kronstadt, die Revolution zu ihren antiautoritären Anfängen zurückzuführen, blutig niederschlugen, prägt die Beziehungen zwischen marxistischen und anarchistischen Kommunist:innen bis heute.
Was kann die heutige Linke aus dieser Spaltung lernen?
Daraus können wir zum einen lernen, wie triftig die Gründe für die Spaltung häufig sind, und zum anderen, wie notwendig es trotzdem oft gewesen wäre, sie zu überwinden. Der Hass auf die Sozialdemokratie etwa – für die Unterstützung des Weltkriegs und den Verrat der internationalen Solidarität, später für die Zerstörung der deutschen Novemberrevolution, die Ermordung von Luxemburg und Liebknecht – lässt sich beinahe unmöglich anfechten. Trotzdem wäre es notwendig gewesen, linke wie auch rechtere Sozialist:innen, wo diese das überhaupt irgendwie zugelassen hätten, in ein breiteres sozialistisches Projekt einzubetten. Bereits aus instrumentellen Gründen. Einerseits, um den konterrevolutionären Bürgerkrieg in Russland abzuschwächen, andererseits, später, um eine breitere antifaschistische Allianz in Deutschland oder Spanien aufbauen zu können.
Wie sehr ist die politische Linke in Europa von diesem Hass und dieser Spaltung heute noch geprägt?
Natürlich sind die Spaltungen zwischen reformistischer und radikaler Linken sowie innerhalb dieser noch heute deutlich spürbar. Allerdings wurde die Zerklüftung der Linken noch durch andere historische Prozesse potenziert. Wo die Linke an Stärke verloren hat, wächst die Versuchung, sich auf innerlinke Streitigkeiten zu konzentrieren. Denn dort lässt sich noch ein gewisser Einfluss finden: Wenn jemand ein Flugblatt gegen die Regierung schreibt, interessiert das meist relativ wenige Leute. Wenn jemand aber ein Flugblatt gegen die linke Gruppe schreibt, die im Nachbarzimmer tagt, wird sich zumindest diese Gruppe zur Reaktion genötigt sehen.
Zudem führt das Gefühl von Ohnmacht im politischen Feld nicht selten zur Sehnsucht nach einem Ort, wo du wenigstens mit einer kleinen Anzahl von Leuten übereinstimmst, einen Safe Space findest. Die Differenzen hier erscheinen, obwohl sie häufig klein sind, als sehr viel bedrohlicher als diejenigen zu Leuten, mit denen du ohnehin nicht viel zu tun hast. Daher die leidenschaftliche Investition in diese Auseinandersetzungen.
Die Linke befindet sich seit 1990 in einem Prozess des Rückzuges und dreht sich immer mehr um sich selbst. Doch die Auflösung der Sowjetunion kann doch nicht der einzige Grund dafür sein…
Die Linke ist auch auf vielen Bereichen in der historischen Offensive. Aber für den beschriebenen Prozess ist natürlich auch die neoliberale Konterrevolution entscheidend, die sich mit der Niederlage der UdSSR weltweit durchsetzen konnte. Sie entstand als Antwort auf den antiautoritären Aufbruch von 1968. Dessen Forderung nach Freiheit und Differenz wird im Neoliberalismus zu Individualisierung und Fragmentierung verkehrt. Berühmt in der Formulierung von Margaret Thatcher, es gäbe keine Gesellschaft, sondern nur „individuelle Männer und Frauen und Familien“. Dieser neoliberale Prozess durchzieht auch die Linke, die sich in unzählige Untergruppierungen aufteilt: Antirassistische Linke, antisexistische Linke, Linke, die gegen Ableismus kämpfen, Linke, die für eine ökologische Wende streiten und so weiter. Linke Gruppen besetzen partikulare Positionen und gehen wenig Kooperationen ein.
Wie könnten sie das?
Es ist hilfreich, die materiellen Bedingungen zu analysieren, unter denen Politik in der Gegenwart stattfindet. Das Projekt des neoliberalen Kapitalismus zielt darauf, Beziehungen zu zerschlagen, also das Soziale zu individualisieren beziehungsweise zu familiarisieren und die versprengten Einheiten dem Ideal nach nur noch über das Geld zu verbinden. In dieser Situation geraten Menschen in Versuchung, sich auf sich selbst zurückzuziehen und die Position, die sie in der Gesellschaft einnehmen, wie ein Eigentum gegen andere zu verteidigen. Etwa in Form einer nationalen, geschlechtlichen, sexuellen, einer subkulturellen oder einer politischen Identität. Dieser Prozess findet hauptsächlich auf der Seite der Rechten statt, aber auch andere Teile der Gesellschaft sind davon nicht frei.
Das Bedürfnis nach Identität wie ihre Relevanz ist also selbst historisch. Ein Blick auf die Russische Revolution, wie auf Revolutionen im Allgemeinen, kann hier zeigen, dass die politische Identität von einzelnen Gruppen – zusammengefasst unter dem Namen einer Partei – wenig aussagekräftig ist. Nicht nur die Zusammensetzungen der Parteien, auch ihre jeweiligen politischen Positionen ändern sich ständig. Das passiert sonst auch, aber innerhalb eines revolutionären Prozesses geschieht es in hoch beschleunigter Weise. Dieselben Namen stehen in sich verändernden Kräfteverhältnissen, in wechselnden Beziehungsweisen, für sehr unterschiedliche Politiken. Wer auf Identitäten fokussiert, übersieht das.
Wie kann also die identitäre Fragmentierung zwischen linken Gruppen überwunden werden?
Der neoliberalen Fragmentierung kann eine Politik entgegengesetzt werden, die weniger an Identitäten interessiert ist als an Beziehungen, die weniger auf Positionen oder Haltungen fokussiert und mehr auf die Verknüpfung von verschiedenen Kämpfen. Statt idealistischen Fragen treten dann solche der Praxis, etwa der Organisierung, in den Vordergrund. Das Bürgertum kann gegenüber inhaltlichen Differenzen, den sogenannten Wertefragen, oft Toleranz predigen. Es hat sich nach der Erfahrung des Englischen Bürgerkrieges (1649–1651) und den folgenden Machtkämpfen bis zur Englischen Revolution (1689) gewissermassen darauf geeinigt, religiösen Unterschieden nicht allzu viel Bedeutung zuzumessen: Sollen doch alle im Privaten glauben, was sie wollen, solange die Grundlage, auf der Politik ausgetragen wird, erhalten bleibt: das Privateigentum. Ist es nicht verwunderlich, dass eine materialistische Linke, der es ja weniger um Ideen als um die tatsächlichen Lebensverhältnisse geht, nicht allzu viel Vergleichbares (Commons etwa) anzubieten hat?
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