Wie meine Freun­dinnen ausge­schafft wurden

Keine zwei Tage Zeit bekommen Erika und ihre Tochter von der Migra­ti­ons­be­hörde, um ihr Leben in der Schweiz hinter sich zu lassen. Unsere Autorin, die mit den beiden befreundet ist, schreibt über die Unmög­lich­keit des Abschieds – und über die Wut und den Schmerz, die bleiben. 
Erika und ihre Tochter müssen die Schweiz verlassen, auch wenn sie in Kolumbien nicht sicher sind. (Illustration: Iris Weidmann)

„Leider müssen wir euch mitteilen, dass Erika und ihre Tochter am Mitt­woch Morgen ausge­schafft werden“ – eine Nach­richt, die ich niemals hätte versenden wollen, erst recht nicht an einem Montagnachmittag. 

Vor zwei­ein­halb Jahren habe ich Erika und ihre Tochter kennen­ge­lernt. Die beiden waren aus Kolum­bien geflüchtet und wohnten danach in Aarau. Hier besuchte Erika den frei­wil­ligen Deutsch­kurs der Caritas, den meine Mutter ehren­amt­lich unter­rich­tete. Erika und meine Mutter freun­deten sich an und meine Mutter lud die beiden immer öfters zu unseren Fami­li­en­zu­sam­men­künfte ein. So lernte ich sie kennen und wir wurden zu Freundinnen. 

Erika und ich teilen viele gemein­same Inter­essen. Deshalb kamen sie und ihre Tochter oft zu mir nach Bern. Wir verbrachten gemeinsam das Wochen­ende, gingen mit dem Kind in Museen und besuchten oder orga­ni­sierten poli­ti­sche Veran­stal­tungen. Da die beiden jeweils bei uns in der WG über­nach­teten, haben sie auch meine Mitbewohner*innen, mein Partner und mein Umfeld schnell ins Herz geschlossen.

Nun mussten wir uns die schmerz­hafte Frage stellen: Wie bricht man ein Leben inner­halb von weniger als zwei Tagen ab?

Keine 48 Stunden

Als Erstes muss die Nach­richt verschickt werden. Die Freund*innen und Bekannten von Erika und ihrer Tochter reagieren mit Trauer, Schmerz und Wut. Danach gilt es, den Schul­schluss der Tochter abzu­warten, um ihr zu sagen: Das war dein letzter Schultag. Über­morgen müsst ihr gehen. Du musst dich morgen von deinen Freund*innen verab­schieden. Deinen Schul­ruck­sack lassen wir hier, damit ein anderes geflüch­tetes Kind ihn haben kann. 

Sollen wir sie verstecken? Nein, der regu­läre Aufent­halt in der Schweiz war bereits Stra­paze und Trauma genug.

Viele Menschen bieten ihre Hilfe an: Brau­chen Erika und ihre Tochter Geld? Geht jemand mit zum Flug­hafen? Sollen wir sie verstecken? Nein, verstecken wollen sie sich nicht; der regu­läre Aufent­halt in der Schweiz war bereits Stra­paze und Trauma genug, ein Leben in der Ille­ga­lität mit dem stän­digen Risiko der gewalt­samen Ausschaf­fung will Erika ihrem Kind nicht antun. Statt­dessen werden QR-Codes herum­ge­schickt – wie lädt man Geld auf eine Travel Cash Card? Sogar Freund*innen, die selbst nicht viel haben, geben grosszügig. 

Meine Mutter orga­ni­siert den Abschied. Meine Mutter, die Erika und ihr Kind über­haupt erst in unser Leben brachte. Als Tochter einer starken Mutter erkennt sie eine andere starke Mutter sofort. So schloss sie Erika, die bei ihr den frei­wil­ligen Deutsch­kurs besuchte, sofort ins Herz. Seither waren die beiden Teil unserer Familie, verbrachten die meiste Zeit im Haus meiner Eltern, in dem alle ein Zuhause finden, die gerade eines brauchen. 

Doch selbst mit diesem Zuhause ging es Erika nie gut in der Schweiz. Sich in ihrer Mutter­sprache über Politik und Gesell­schaft austau­schen, poli­tisch aktiv zu sein, sich für Gerech­tig­keit und Frei­heit einzu­setzen, aber auch die Musik, unbe­schwertes Tanzen und Feiern, all das fehlte ihr hier deutlich. 

Als sich Erika in Kolum­bien noch als Akti­vi­stin und Menschen­rechts­an­wältin gegen Unge­rech­tig­keit einsetzte, schätzte der Schweizer Staat ihre Arbeit. Eine der NGOs, für die sie arbei­tete, wurde von der Schweizer Botschaft in Kolum­bien unterstützt. 

Noch 2018 wurde sie als Koor­di­na­torin des „Comité Perma­nente por la Defensa de los Derechos Humanos“ an den Sitz der UNO in die Schweiz einge­laden, um auf die kriti­sche Situa­tion der kolum­bia­ni­schen Menschenrechtsaktivist*innen aufmerksam zu machen. Sie nahm an den Frie­dens­ver­hand­lungen zwischen der kolum­bia­ni­schen Regie­rung und der Fuerzas Armadas Revo­lu­cio­na­rias de Colombia (FARC) teil. Sie half, den Falsos-Posi­tivos-Skandal aufzu­decken, brachte die für ein Massaker verant­wort­li­chen Polizei- und Mili­tär­ge­neräle vor Gericht und pran­gerte die Korrup­tion in der kolum­bia­ni­schen Regie­rung an. 

Der Falsos-Posi­tivos-Skandal in Kolum­bien (2002–2008) betraf ausser­ge­richt­liche Hinrich­tungen von Zivi­li­sten durch die Streit­kräfte, die als gefal­lene Gueril­la­kämpfer darge­stellt wurden, um Erfolge im Kampf gegen Rebellen vorzu­täu­schen und Beloh­nungen zu erhalten. Soldaten lockten Zivi­li­sten unter falschen Verspre­chungen in entle­gene Gebiete, töteten sie und stellten sie als Kombat­tanten dar. Die Enthül­lung des Skan­dals führte zu natio­naler und inter­na­tio­naler Empö­rung, Verur­tei­lungen von Mili­tärs und Reformen unter Präsi­dent Juan Manuel Santos, um Menschen­rechts­ver­let­zungen zu verhin­dern und das Vertrauen in die Streit­kräfte wiederherzustellen.

Und jetzt haben die Schweizer Gerichte in letzter Instanz entschieden: Das Leben von Erika und ihrer Tochter ist in Kolum­bien zwar bedroht, der Staat sei jedoch fähig und gewillt, sie zu schützen. Ein Hohn für die beiden: Das letzte Jahr in Kolum­bien verbrachten Erika und ihr Kind drinnen. Sie erhielten Mord­dro­hungen, durften nicht aus dem Fenster schauen, da Leute ihr Haus beob­ach­teten. Und jetzt sollten sie dort hin zurück­gehen. Da der Feind auch die Regie­rung selber ist, wird ihre Ankunft bestimmt nicht unbe­merkt bleiben.

Unmög­li­cher Abschied

Meine Mutter navi­giert tapfer zwischen lähmenden Gefühlen und logi­sti­schen To-do’s: Erika lässt 16 Eier zurück, die am Montag­morgen in der Migros für den Akti­ons­preis von acht Franken ange­boten wurden. Acht Franken, der Betrag, den Asyl­su­chende pro Tag zu Verfü­gung haben. Dann bäckt meine Mutter Muffins, die das Kind zum Abschied in die Schule bringt. Und einen Zitro­nen­ku­chen für das Abschieds­essen mit Spaghetti Carbonara.

Was hinter­lässt man alles, wenn man unfrei­willig das Land verlassen muss? (Illu­stra­tion: Iris Weidmann)

Erika und ihr Kind hinter­lassen zudem einen Berg an zusam­men­ge­wür­felter gespen­deter Klei­dung. Davon werden zwei Koffer gepackt, der Rest weiter­ge­geben. Die Lehr­person des Kindes wird infor­miert, das Kind bleibt am Diens­tag­morgen „zu Hause“ und kommt am Nach­mittag zur Verab­schie­dung ein letztes Mal in die Schule. 

Als näch­stes muss das Gepäck der beiden im Camp abge­holt werden. Es versteht sich von selbst, dass die beiden keine Sekunde mehr als nötig dort verbrachten und wenn immer möglich bei meinen Eltern wohnten. Im Camp hören wir als Erstes, wie eine Mitar­bei­terin des Sozi­al­dien­stes eine Bewoh­nerin von oben herab mit starkem Schweizer Akzent belehrt: „Ich habe Ihnen schon vor zwei Wochen gesagt, dass sie den Wäsche­ständer nicht im Gang stehen lassen dürfen!“

Wir lernen über die Jahre viel über die Rohrer­strasse, wo Erika und ihre Tochter offi­ziell unter­ge­bracht wurden. Zum Beispiel, dass die Bewohner*innen in dem grossen Haus weder Keller noch Estrich benutzen dürfen, um ihr Hab und Gut einzu­la­gern; die geschlos­sene Garage ist von den Autos der Mitar­bei­tenden des Sozi­al­dien­stes besetzt. Wir erfahren, dass Erika und ihr Kind ihren Wasser­konsum jeweils auf einen Liter beschränkten, da Erika das geteilte, stark verschmutzte WC vor jedem Gebrauch neu putzen musste. Aber wir erfahren auch, dass einer der ehema­ligen Bewohner inzwi­schen ein afgha­ni­sches Restau­rant in Zürich betreibt und immer wieder zurück­kommt, um Essen, Möbel und Klei­dung vorbeizubringen. 

Sowieso kommen viele der ehema­ligen Bewohner*innen, die es aus diesem depri­mie­renden Gebäude raus­ge­schafft haben, zurück und helfen, wo sie können. 

Die Betreuerin, die nie beson­ders nett zu Erika und ihrem Kind war, sagt zum Abschied zu Erika: „Schade, dass du gehst, du warst immer gut, du hast nie Probleme gemacht, lass uns Briefe schreiben.“ Dann fügt sie noch hinzu: „Bitte seid koope­rativ! Ich will nicht, dass die Polizei euch holt, das wäre schlimm.“

Danach verbringe ich ein paar Stunden mit einem Auge auf Flightradar24. Wofür eigent­lich? Keine Verspä­tung der Welt wird den beiden eine Chance auf ein sicheres Zuhause bieten. 

Es folgt eine kurze Verab­schie­dung vom Camp, das nie ein Zuhause hätte sein können. Zurück bleiben ein paar Abfall­säcke, Pfannen, Zeich­nungen an der Wand des kleinen, been­genden Zimmers. Gandalf und Gollum mit Blei­stift an die Wand skiz­ziert. Am Eingang: ein kleines Herz, ein winziges „L+E=Stern“. Über dem Bett des Kindes steht in verschie­denen Farben: „Resi­stance. Wider­stand. Amistad. Friend­ship. Freund­schaft. Soli­da­ridad. Soli­da­rité. Azadî. Huma­nity. La fuerza del amor. Die Kraft der Liebe. Ez ji te hez dikim. Jin, Jiyan, Azadî.“

Als näch­stes zeigt uns das Kind die Geschenke, die ihr die Schulkamerad*innen zum Abschied mitgaben. Ihr Lehrer hatte nur wenige Stunden Zeit, um sich und seine Schul­klasse während des laufenden Schul­be­triebs auf die Ausschaf­fung vorzu­be­reiten. Nichts­de­sto­trotz: Das Kind kriegt Fotos von sich und ihren Gspändli der Gruppe „Deutsch als Zusatz­sprache“ (wo sie doch Fotos so hasst!). 

Erikas Tochter lässt ihren Schul­ruck­sack zurück, damit ihn ein anderes geflüch­tetes Kind benutzen kann. (Illu­stra­tion: Iris Weidmann)

Sie erhält einen Brief einer Lehrerin, der die Ausschaf­fung spürbar nahe­geht. Und ein Freund*innenbuch, in dem die Schul­kinder und Lehr­per­sonen sich mit Abschieds­grüssen einge­tragen haben. Hier wird deut­lich, dass das SEM den Lehr­per­sonen und Eltern keine Zeit liess, um den Kindern das Konzept einer Ausschaf­fung zu erklären und die plötz­liche Abreise des Kindes entspre­chend zu begleiten. Seite um Seite findet man im Buch lieb gemeinten Wünsche wie etwa „Viel Spass in Kolum­bien!“. Als ginge es in die Ferien.

Während all dem darf man nicht vergessen, sich immer wieder zu umarmen, solange man noch kann. Man darf aber auch nicht vergessen, die Umar­mungen wieder aufzu­lösen – es gibt ja noch so viel zu tun, der letzte Tag ist fast schon wieder vorüber. 

Als näch­stes unter­nehmen Erika und ihr Kind eine Tour durch die Stadt, um sich von den verschie­denen Freund*innen zu verab­schieden, die es nicht ans Abschieds­essen schaffen. Das Abschieds­essen selbst ist fröh­lich, laut, traurig, still. Anek­doten aus der gemeinsam verbrachten Zeit werden geteilt.

Das Flug­zeug hebt pünkt­lich ab

Es wird ein letztes Mal mit den Katzen gespielt. Meine Mutter händigt den beiden je vier Kopien aus, auf denen verschie­dene Tele­fon­num­mern aufge­li­stet sind. Das Kind hat die letzten Monate bereits einen Badge zur Ortung in der Jacke rumge­tragen, da insbe­son­dere mein Vater die plötz­liche Verhaf­tung des Kindes fürch­tete. Zum Ortungs­badge gesellt sich nun die Travel Cash Card und die zuge­hö­rigen PIN-Codes – in der Hoff­nung, dass sie dem Kind nicht wegge­nommen wird. 

Vom Abschied will ich gar nicht spre­chen. Wer kann so was beschreiben? 

Das Mädchen zieht sich ein letztes Mal in ihr Zimmer bei meinen Eltern im Haus zurück, das sie mit meiner Mutter liebe­voll einge­richtet hatte. Lange spricht sie über Video­call mit meinem Vater. Er ist zwei Tage zuvor nach Phil­adel­phia abge­reist und ist untröst­lich, dass er nicht da sein kann. Wäre die Ausschaf­fung früher ange­kün­digt worden, wäre er selbst­ver­ständ­lich nicht verreist. 

Mein Herz bricht an diesem Abend auch für ihn. Alle mögli­chen Leute sind gekommen, am Tisch wird Spanisch, Italie­nisch und Hollän­disch gespro­chen. Ich sage dem Kind: Das Zimmer am Ende des Gangs wird für mich immer dein Zimmer sein.

Vom Abschied will ich gar nicht spre­chen. Wer kann so was beschreiben? Meine Mutter ist wie immer der Fels in der Bran­dung. Löst die Umar­mungen auf, Tränen in den Augen, „sonst verpasst ihr den Zug“. 

Was kommt als nächstes? 

Am näch­sten Morgen im Büro auf der Website des Flug­ha­fens Zürich nehme ich zur Kenntnis, dass der Flug der Edel­weiss um 09:35 Uhr nach Bogotá pünkt­lich abhebt. Danach verbringe ich ein paar Stunden mit einem Auge auf Flightradar24. Wofür eigent­lich? Keine Verspä­tung der Welt wird den beiden eine Chance auf ein sicheres Zuhause bieten. 

Was kann man machen? Einen Flug buchen, um die beiden möglichst bald zu besu­chen? Unmög­lich. Nicht einmal Erika weiss, wo es für sie nach ihrer Landung in Bogotá hingeht, wo sie Sicher­heit finden können.

Als näch­stes können wir also nur auf ein Lebens­zei­chen warten. In Gedanken wieder­hole ich immer und immer wieder: Resi­stencia, Amistad, Solidaridad.


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