Mario Fehr

Wir dulden keine Fehr-einnahmung

Mario Fehr zeigt sich in einem Kommentar in der NZZ besorgt über die Sicher­heit der jüdi­schen Gemeinden. Doch dabei werden jüdi­sche Menschen für die rassi­sti­sche Ausgren­zung von Muslim*innen instru­men­ta­li­siert. Eine Antwort. 

„Wir dulden keine Isla­mi­sten”, beti­telte der SP-Regie­rungsrat Mario Fehr seinen Gast­kom­mentar in der NZZ zum Anschlag in Wien. In diesem zeichnet er ein Bild eines jüdisch-christ­li­chen, mora­lisch erha­benen ‚Wir’, welches sich von einem isla­mi­sti­schen ‚Anderen’ bedroht sieht. Um die vermeint­liche Harmonie zu erhalten, schlägt er eine rassi­sti­sche Politik der Ausgren­zung vor. 

Am 2. November fielen die ersten Schüsse des isla­mi­sti­schen Anschlags unweit der Wiener Haupt­syn­agoge. Nach aktu­ellen Kennt­nissen und entgegen ersten Meldungen war die Synagoge aber nicht Ziel des Angriffs und es ist kein anti­se­mi­ti­sches Motiv ersicht­lich. Dies hinderte Fehr nicht daran, die Angst und Verun­si­che­rung zu nutzen, um sich als höch­sten Beschützer der jüdi­schen Minder­heit in Zürich vor isla­mi­sti­schem Terror zu gerieren. Wie er sagte, nahm man den Anschlag in Wien zum Anlass, die Sicher­heits­vor­keh­rungen der jüdi­schen Gemeinden in Zürich zu über­prüfen und zu verstärken.

Damit bedient sich der Vorsteher der Zürcher Sicher­heits­di­rek­tion einer gefähr­li­chen Argu­men­ta­ti­ons­stra­tegie: Er instru­men­ta­li­siert die jüdi­sche Bevöl­ke­rung für rassi­sti­sche Ausgren­zung. Unter dem Vorwand, jüdi­sche Gemeinden schützen zu wollen, fordert er vom Bund unter anderem, „dass Ausschaf­fungen in Länder wie Alge­rien und Marokko endlich wieder möglich werden”. Wir, als Teil der jüdi­schen Bevöl­ke­rung Zürichs, bekommen in Fehrs Welt­bild die Rolle der stillen, schutz­be­dürf­tigen Opfer.

Rechts­extreme Gewalt bleibt in Fehrs Kommentar unbe­achtet. Obwohl diese sowohl jüdi­sche als auch musli­mi­sche Menschen bedroht. Im Gegen­teil, sie wird durch den Kommentar befeuert. Sowohl gegen die falsche Konstruk­tion einer jüdisch-christ­li­chen Harmonie als auch gegen das Herauf­be­schwören eines jüdisch-musli­mi­schen Gegen­satzes möchten wir uns wehren.

Verges­sene Geschichte, neue Weltbilder

Wir begrüssen es, dass reli­giöse Einrich­tungen zusätz­lich geschützt werden, beson­ders jene reli­giöser Minder­heiten. Noch im November 2016 liess der Bundesrat verlauten, der Bund sei nicht dafür zuständig, finan­ziell für die Sicher­heit jüdi­scher Einrich­tungen aufzu­kommen. Statt­dessen empfahl die Landes­re­gie­rung den jüdi­schen Gemeinden – wie die NZZ schreibt: „lapidar” –, zur Deckung der Sicher­heits­ko­sten eine Stif­tung einzurichten.

Fehr hat recht mit seiner Warnung, die Schweiz ist keine Insel in Europa. Er selber posi­tio­niert sich mit seinem Text in einem euro­pa­weiten Diskurs, der die Ausgren­zung der musli­mi­schen Bevöl­ke­rung über den Kampf gegen Anti­se­mi­tismus recht­fer­tigt. Fehr sugge­riert zwar Verständnis für jüdi­sche Erfah­rungen, stärkt aber vor allem anti­mus­li­mi­sche Ressen­ti­ments. Er reiht sich damit ein in eine lange Liste rechter und rechts­extremer Orga­ni­sa­tionen, die versu­chen, aus isla­mi­sti­schem Terror Profit zu schlagen – für eine rassi­sti­sche Politik der Ausgren­zung. Dafür schiebt er den Schutz der jüdi­schen Bevöl­ke­rung vor.

Die Autoren

Max Arendt und Benjamin Kauf­mann sind Gast­au­toren. Sie wuchsen beide in säkular jüdi­schen Fami­lien auf, leben und arbeiten in der Stadt Zürich.

Als Basis der Hetze dient eine angeb­liche jüdisch-christ­liche Leit­kultur. Diese Idee bekam in den letzten Jahren in weiten Teil West­eu­ropas grossen Aufschwung. So sagte Öster­reichs Bundes­kanzler Kurz kürz­lich: „Europa ohne Juden ist nicht mehr Europa.” Das stimmt. Doch schön ist die Geschichte der jüdi­schen Menschen in Europa nicht. Als hätte man vergessen, dass in Deutsch­land, Frank­reich, Belgien, Öster­reich, Luxem­burg und den Nieder­landen im Holo­caust zwischen 30 % und 50 % der jüdi­schen Menschen ermordet wurden. Von jenen, die über­lebten, verliessen viele West­eu­ropa. Es ist heuch­le­risch, das jüdisch-christ­liche Zusam­men­leben in Europa als grund­sätz­lich harmo­nisch zu beurteilen. 

Die jüdi­sche Bevöl­ke­rung wurde in diesen Ländern vor allem aus zwei Gründen wieder zahl­rei­cher: Zum einen mussten kurz nach Ende des Holo­causts viele jüdi­sche Osteuropäer:innen vor Pogromen flüchten; zum anderen nahm Deutsch­land nach dem Zerfall der Sowjet­union Tausende jüdi­sche „Kontin­gent­flücht­linge” auf, um sich nach den Verbre­chen des Holo­causts zu rehabilitieren.

Erica Zingher, die als Kontin­gents­ge­flüch­tete aus Moldau nach Deutsch­land kam, verwendet in diesem Zusam­men­hang in der taz den Begriff der „Wieder­gut­ma­chungs­juden”. Zingher zufolge sei damals erwartet worden, dass durch jüdi­sche Immi­gra­tion jüdi­sches Leben in West­eu­ropa repa­riert werden könne. Auch Kanzler Kurz scheint diese Vorstel­lung zu teilen. Als ob jüdi­sche Menschen eine einheit­liche Masse wären, die sich beliebig austau­schen liesse. 

Die Rede von der jüdisch-christ­li­chen „Leit­kultur” ist reha­bi­li­tie­rend und ausgren­zend zugleich. Wer von ihr spricht, will sich von expli­zitem Anti­se­mi­tismus abgrenzen und stärkt rassi­fi­zierte Feind­bilder. So wie Fehr die Sicher­heit der jüdi­schen Bevöl­ke­rung Zürichs miss­braucht, repro­du­ziert er diese Argu­men­ta­ti­ons­mu­ster und verdeut­licht damit die Nähe der Schweiz zum Diskurs in Deutsch­land oder Österreich. 

Als jüdi­sche Personen fühlten wir uns zusätz­lich betroffen, als es hiess, die Wiener Haupt­syn­agoge sei das Anschlags­ziel gewesen. Tatsäch­lich wird ange­nommen, dass der Täter das Wiener Ausgeh­viertel als Tatort aussuchte, weil es am Vorabend des Corona-Lock­downs beson­ders belebt war. Die Synagoge war zum Zeit­punkt des Atten­tats längst geschlossen. Aber scheinbar reicht die zufäl­lige geogra­phi­sche Nähe eines isla­mi­sti­schen Anschlags zu einer Synagoge, um Anti­se­mi­tismus zu wittern und zu twit­tern. Jüdi­sche Menschen werden als Opfer gedacht und instrumentalisiert.

Die Gesell­schaft des „Abend­lands“ als Gefahr

Dabei setzte sich der Vorsteher der Sicher­heits­di­rek­tion in der Vergan­gen­heit kaum öffent­lich für die Sicher­heit der jüdi­schen Bevöl­ke­rung ein. Insbe­son­dere versäumte er es bei rechts­extremer Gewalt: Als ein Rechts­extremer 2019 am höch­sten jüdi­schen Feiertag Jom Kippur in der Stadt Halle mithilfe von Hand­gra­naten in eine Synagoge eindringen wollte, waren dies­be­züg­lich keinerlei Kommen­tare vom SP-Poli­tiker in der Zeitung zu lesen. Aber nun nutzt Fehr ohne Weiteres jüdi­sche Menschen als angeb­lich schwei­gende Opfer und befeuert gleich­zeitig gesell­schaft­li­chen Rassismus. 

Dabei ist die Gefahr eines rechts­extremen Anschlags auf jüdi­sche Insti­tu­tionen real, wie der Anti­se­mi­tis­mus­be­richt 2019 der Stif­tung gegen Rassismus und Anti­se­mi­tismus und des Schwei­ze­ri­schen Israe­li­ti­schen Gemein­de­bunds fest­hält und verschie­dene Vorkomm­nisse zeigen. So wurde 2015 in Zürich ein ortho­doxer Jude von bekannten Neonazis aus Hombrech­tikon ange­griffen. Isla­mi­stisch moti­vierte Angriffe kämen hingegen vor allem im Internet vor. Doch von jüdi­scher Hand mitver­fasste Risi­ko­be­richte passen nicht zur Erzäh­lung, dass Muslim:innen das anson­sten fried­liche jüdisch-christ­liche Abend­land stören würden.

Der Gast­kom­mentar von Mario Fehr spielt in einen viel­schich­tigen Diskurs, in dem es um vieles geht, jedoch nicht um das Wohl­be­finden jüdi­scher Menschen. Er instru­men­ta­li­siert die jüdi­sche Bevöl­ke­rung und konstru­iert so einen Gegen­satz zwischen einem vermeint­lich zivi­li­sierten Selbst und einem gewalt­tä­tigen musli­mi­schen Anderen. Heute dürfen jüdi­sche Menschen auf Kosten musli­mi­scher Menschen an der Gesell­schaft teil­nehmen. Doch das wollen wir so nicht. Als jüdi­sche Menschen fürchten wir nichts mehr als die Fort­set­zung der euro­päi­schen Vergan­gen­heit. Denn diese lehrt uns, dass rassi­sti­sche Hetze in gesell­schaft­li­chen Krisen stets alle rassi­fi­zierten Minder­heiten betrifft. 


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