Sofia Kappel ist 23 Jahre alt, in Stockholm aufgewachsen und hat mit der Hauptrolle in Pleasure gerade ihre Schauspielkarriere gestartet. In dem Film spielt sie eine junge, ambitionierte Frau, die das Kleinstadtleben in Schweden hinter sich lässt, um in Los Angeles der nächste grosse Pornostar zu werden.
Vergangenen Montag gewann Kappel dafür den Filmpreis Guldbaggen als beste weibliche Hauptdarstellerin. Das schwedische Pendant zu den amerikanischen Academy Awards wird sicher nicht der letzte grosse Preis für die junge Schauspielerin sein. Pleasure feierte im Februar 2021 seine Premiere am Sundance Filmfestival und läuft seit dem 13. Januar 2022 auch in den Schweizer Kinos.
Das Lamm: Sofia Kappel, Sie haben in mehreren Interviews erzählt, dass Sie bei Pleasure mitgewirkt haben, um sich selbst herauszufordern. Was war die grösste Herausforderung, wenn Sie jetzt zurückblicken?
Sofia Kappel: Die grösste Herausforderung war, loszulassen und mich komplett dem Charakter Bella Cherry hinzugeben. Wir sind schliesslich fast zusammengeschmolzen, und das für eine lange Zeit.
Gab es eine Schlüsselszene, in der Sie gemerkt haben: „Jetzt bin ich in der Rolle angekommen“?
Im Film geht Bella mit ihren Freundinnen an eine Pornomesse. Wir waren an der echten Messe in Las Vegas, um die Szenen zu drehen. Ich bin also dort rumgelaufen und Menschen haben mich fotografiert und gefilmt, ohne zu wissen, dass ich Schauspielerin bin. Das war eine absurde Situation: Ich war in einer erfundenen Welt, aber diese Welt war Teil der Realität all dieser Menschen. Da habe ich realisiert: „Ich bin Bella.“
War das ein komisches Gefühl?
Irgendwie schon, aber eigentlich war es eine logische Folge, weil ich den Charakter mitentwickeln durfte. Die Regisseurin Ninja Thyberg hat mich von Anfang an involviert. Es kam so weit, dass ich während den Dreharbeiten sagte: „Das hätte Bella so nicht gemacht, machen wir es doch lieber anders.“ Ninja und ich haben jetzt im Nachhinein realisiert, dass Bella unser Baby ist. Sie hat viel von Ninja und viel von mir – sie ist wie eine überspitzte Version von uns beiden.
Sie sind schon vor Beginn der Dreharbeiten in die USA gereist, um sich auf die Rolle vorzubereiten. Wie war es für Sie, das Set eines Pornodrehs zu besuchen?
Ich hatte total Angst davor. An meinem ersten Tag in Los Angeles, das erste Mal in der USA überhaupt, wurde ich direkt zu einem Pornodreh gefahren – das war wie ein Sprung ins kalte Wasser. Ich war sehr nervös, weil ich gewisse Vorurteile hatte: dass nur kaputte Menschen in Pornos mitspielen und die Sets schmutzig sind. Ich hatte Angst davor, dass ich bei einem Übergriff zuschauen würde.
Hat sich diese Angst bestätigt?
Überhaupt nicht. Es war ein wunderschönes Haus mit einem riesigen Filmteam: Regisseur, Fotografin, Assistenten, Visagistin und viele mehr. Die Pornodarstellerin wurde geschminkt und war gleichzeitig auf Twitter, um ihre Fans auf dem Laufenden zu halten. Ihr Drehpartner war ein klassischer Schwiegermuttertraum, total lieb. Sie sind dann zusammen hingesessen, um das Drehbuch anzuschauen. Dann gings los – und ich war total gelangweilt.
Wieso gelangweilt?
Es war so offensichtlich fake. Zwei Personen hatten mechanischen Sex. Mittendrin haben sie eine Pause gemacht, um Sandwiches zu essen. Sie haben halt einfach ihren Job gemacht. Also ist meine Anspannung in Langeweile übergegangen.
Finden Sie Pornodrehs also generell langweilig?
Nein, das nicht. Ich habe mal den Dreh eines Bondage-Gangbangs besucht. Da war ich wieder nervös, weil es eine Frau und fünf Männer waren. Doch die Regisseurin Aiden Starr, die auch in Pleasure mitspielt, ist total auf die Pornodarstellerin eingegangen und hat mit ihr die Szenen vorbesprochen. Sie durfte entscheiden, welcher der Männer am aktivsten sein soll und welcher sich im Hintergrund halten soll und wer was mit ihr machen darf. Als die Darstellerin in den Seilen hing, haben sie jeweils Pausen gemacht und ihr Saft gebracht.
Eine ähnliche Szene sieht man auch in Pleasure.
Genau. Das stammt alles aus der Realität. In Pleasure wird Bella nach dem Pornodreh gefragt, ob sie etwas trinken oder eine Dusche nehmen will, und ihr wird erklärt, dass sie Muskelkater bekommen wird. Das haben sie eigentlich nicht zum Charakter Bella Cherry gesagt, sondern zu mir als Schauspielerin. Sie waren sehr fürsorglich.
Ich muss aber auch betonen, dass ich nur an „gute“ Drehs eingeladen worden bin. Als zivile Person bin ich natürlich nicht an Pornodrehs willkommen, die nicht korrekt ablaufen.
„Als zivile Person bin ich natürlich nicht an Pornodrehs willkommen, die nicht korrekt ablaufen.“
Sofia Kappel
Auch in Pleasure sind Sie fast die einzige zivile Person: Die meisten Ihrer Kolleg*innen sind tatsächlich in der Pornoindustrie tätig. Wie hat sich das für Sie angefühlt?
Bei Drehbeginn hatte ich schon sechs Monate in Los Angeles gelebt und mit den Leuten Zeit verbracht: Ich bin an Pornopartys gegangen, habe mit Max Spiegler und „seinen Girls“ gehängt, wurde an Essen eingeladen. Darum hat es sich sehr natürlich angefühlt. Zudem ist Bella eine Person, die bis zu ihrer Ankunft in L.A. keine Porno-Erfahrung hatte – hätte ich das gehabt, wäre es weniger authentisch gewesen.
Wie haben Sie sich mit Ihren Kolleg*innen verstanden?
Sehr gut. Ich hatte nie eine „Agenda“, sondern wollte nur mehr über die Pornoindustrie erfahren und dazulernen, um Bella so realistisch wie möglich darzustellen. Da war ich immer sehr ehrlich. Also habe ich mit den Leuten geredet und mich schliesslich mit ihnen angefreundet. Ich durfte viele tiefe und herzliche Gespräche führen.
Der Film erklärt nicht, warum Bella Cherry der nächste grosse Pornostar werden möchte. Wissen Sie mehr darüber?
Ursprünglich gab es eine kleine Hintergrundgeschichte im Drehbuch, die Bella in Schweden zeigen sollte. Das wurde aber nie verfilmt. Die Frage, warum genau sie ein Pornostar werden möchte, haben wir bewusst nicht beantwortet.
Wieso nicht?
Weil die Frage nach dem Warum in diesem Zusammenhang sehr problematisch ist. Meistens schwingt ein gewisser Unterton mit, im Sinne von: „Wie kannst du nur, etwas stimmt doch nicht mit dir.“ Eine Detailhandelsangestellte im Coop muss schliesslich kaum die Frage beantworten, wieso sie dort arbeitet.
Ich habe sehr viele Personen kennenlernen dürfen, die in der Pornoindustrie tätig sind. Wenn ich sie gefragt habe, wieso sie diesen Job gewählt haben, habe ich sehr ehrliche und diverse Antworten erhalten: „Weil ich will“, „weil ich es lustig finde“, „weil ich reich werden möchte“, „weil ich meine Sexualität ausleben kann“. Es gibt nicht den einen Grund, der eine Person zu diesem Schritt bewegt.
Was haben Sie von der Pornoindustrie gehalten, bevor Sie bei Pleasure mitgemacht haben?
Ich war genauso eine Heuchlerin wie die meisten anderen. Ich hatte vor allem eine extrem eingeschränkte Sicht auf die Frauen: Ich konnte nicht verstehen, dass eine Frau freiwillig in einem Porno mitspielt. Es ist nämlich sehr einfach, über die problematischen Seiten der Pornoindustrie zu sprechen – die es definitiv gibt – und die Personen vor der Kamera zu bemitleiden. Aber gleichzeitig konsumieren wir genau diese problematischen Pornos, in denen der male gaze bedient und Frauen erniedrigt werden. Das beeinflusst unsere ganze Generation.
Was meinen Sie damit?
Unsere Generation wird viel früher mit Sex und Pornos konfrontiert als früher. Pornos sind aber weder in der Schule noch zu Hause ein Thema – zumindest ist das in Schweden so. Keine erwachsene Person hat jemals mit mir oder meinen Freund:innen darüber gesprochen. Gleichzeitig sind Pornos in unserer Generation durch das Internet sehr leicht zugänglich und für viele von uns sind sie quasi ein Teil unseres Sexualkundeunterrichts. Wenn wir nicht darüber reden, beeinflusst es uns umso stärker.
Weil wir nicht lernen, zwischen Film und Realität zu unterscheiden?
Genau. Mir hat niemand beigebracht, dass Menschen in Pornos ebenfalls schauspielern. Wenn also Teenagers Pornos konsumieren, konsumieren sie sie als Realität. Und viele Pornos gehen in die extremere Richtung: Die Frauen werden gewürgt, angespuckt, geschlagen. Wenn ich als Teenager nur solche Filme sehe, ist es nicht unwahrscheinlich, dass ich das bei meinen ersten sexuellen Erfahrungen reproduziere.
„Wenn Teenagers Pornos konsumieren, konsumieren sie sie als Realität.“
Sofia Kappel
Was wäre die Lösung?
Es ist nahezu unmöglich, den Zugang zu Pornos für Kinder und Jugendliche zu begrenzen. Für mich ist klar: Wir müssen über unseren Pornokonsum reden. Und wir müssen darüber reden, welches Bild wir von den Menschen in der Pornoindustrie haben. Das ist das Mindeste, was wir machen können.
Wie hat Pleasure Sie persönlich geprägt?
Ich habe dank Pleasure realisiert, dass ich hauptberuflich als Schauspielerin arbeiten möchte. Zudem bin ich eine offenere Person geworden. Dann spreche ich natürlich auch viel mehr über Pornografie und beteilige mich viel öfter an Diskussionen. Genau darum bin ich auch so stolz auf den Film: weil er die Realität abbildet, die gar nicht so schwarz-und-weiss ist, wie viele meinen.
Was erhoffen Sie sich vom Erfolg von Pleasure?
Man darf den Film lieben, man darf ihn hassen – Hauptsache, man beginnt zu reflektieren. Dann bin ich zufrieden.
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