Wir sind nicht das Virus

Zu behaupten, die Menschen seine die Krank­heit und Corona die Heilung ist nicht nur den Betrof­fenen gegen­über zynisch – es verschleiert das eigent­liche Problem. Das Lamm hat mit dem deut­schen Autor, Jour­na­li­sten und Akti­vi­sten Peter Bierl über Ökofa­schismus, braunes Gedan­kengut im grünen Kleid, eine entpo­li­ti­sierte Umwelt­be­we­gung und die Krise des Kapi­ta­lismus gespro­chen. Und darüber, warum es struk­tu­rell tief­grei­fende Verän­de­rung braucht, anstelle einer Verteu­fe­lung des Menschen 
"We are the virus, Corona is the cure": Wer so argumentiert, hat vieles (noch) nicht begriffen. (Illustration: (c) Oger)

Die Verbrei­tung von COVID-19 wird von unter­schied­li­chen Ausprä­gungen rassi­sti­scher Denk­weisen begleitet. Zum einen wäre da der Rassismus, der asia­ti­schen oder als asia­tisch gele­senen Personen entge­gen­schlägt und darin mündet, dass der lern­re­si­stente US-Präsi­dent von einem „Chinese Virus“ spricht. Auch das rassi­sti­sche Othe­ring der Natio­nal­staaten wird wieder einmal in seinem schmerz­haften Zynismus sichtbar, wenn tausende Menschen zurück­ge­flogen werden, weil sie das Glück hatten, auf dem rich­tigen Konti­nent geboren worden zu sein, während Menschen an der euro­päi­schen Aussen­grenze sterben oder in inner­eu­ro­päi­schen Asyl­un­ter­künften vor sich hinsiechen.

Etwas weniger offen­sicht­lich proble­ma­tisch kommt hingegen eine andere Reak­tion auf COVID-19 daher: die Ansicht, ‚der Mensch‘ sei das Virus und die Erde würde sich von ihm ‚reinigen‘. Das Virus sei ‚die Rache‘ des Planeten an den Menschen und der Ausbruch sei deshalb gerecht­fer­tigt, genauso wie die daraus folgende Dezi­mie­rung der Welt­be­völ­ke­rung. Memes, Bild­chen und Sprüche mit „Wir sind das Virus, Corona die Rettung“ oder gar mit der seman­ti­schen Umkehr „Corona ist die Impfung gegen das Virus Mensch“ verbreiten sich gerade rasend schnell in den sozialen Medien. Auch geteilt von Menschen, die sich selbst dem grünen oder linken Spek­trum zuordnen würden. Und die Wenig­sten spinnen wohl den Gedanken weit genug, um zu merken, bei welcher anderen Ideo­logie diese verkürzte Argu­men­ta­ti­ons­weise einen Fuss in die Tür setzt.

Ecopop und ’natür­liche Habitate‘

Es gut zu finden, dass ‚der Mensch‘ von ‚der Natur‘ eine Ohrfeige kassiert, gilt in einigen Kreisen als Nucleus des ökolo­gi­schen Denkens. Diese Sicht­weise bewegt sich aber, wenn auch unfrei­willig, im Fahr­wasser einer jahr­zehn­te­alten Ideo­logie, die der deut­sche Jour­na­list und Buch­autor Peter Bierl als „Ökofa­schismus“ bezeichnet.

„Den Begriff muss man heute wieder erklären, weil er in letzter Zeit vor allem in der rechten Ecke genutzt wird, zum Beispiel um in Deutsch­land die Grünen als Verbots­partei zu schmähen“, erklärt Peter Bierl. So wird „Ökofa­schismus“ heute tatsäch­lich haupt­säch­lich von rechten Trolls und Hetzer*innen verwendet, um Menschen zu diskre­di­tieren, die stren­gere Richt­li­nien, etwa in Bezug auf die Luft­fahrt oder Ener­gie­ge­win­nung, einfor­dern. „Eigent­lich hat der Begriff aber eine ganz andere Bedeu­tung. Er wurde in den späten 1980er-Jahren geprägt, als radi­kale Linke und Antifaschist*innen sich kritisch mit rechter Ideo­logie sowie dem Agieren rechter Gruppen in der Umwelt­be­we­gung ausein­an­der­setzten. Ökofa­schismus meint in diesem Sinn in erster Linie, dass Anti­se­mi­tismus, Rassismus, Sozi­al­dar­wi­nismus, Natio­na­lismus und auto­ri­täre Struk­turen, etwa Dikta­turen, mit pseu­do­öko­lo­gi­schen Argu­menten begründet werden“, erklärt Bierl.

Mit dem Ökofa­schismus eng verbunden ist etwa die Blut-und-Boden-Ideo­logie, also eine agrar­po­li­ti­sche Ideo­logie aus dem natio­nal­so­zia­li­sti­schen Gedan­kengut, welche die Verbin­dung einer bestimmten ‚Menschen­rasse‘ mit einem bestimmten ‚Habitat‘ rekla­miert. Ein Beispiel dafür wäre das unap­pe­tit­liche Argu­ment, dass Migra­tion schäd­lich sei, da sie Menschen aus anderen Klima­zonen in eine für sie unvor­teil­hafte Umge­bung ‚umvolkt‘. Hierauf folgt auch der Über­be­völ­ke­rungs­dis­kurs, wonach es an einem bestimmten Ort keinen Platz für Menschen aus einem anderen Gebiet habe und auch nicht haben muss, da es für diese ja ohnehin unna­tür­lich wäre, ihr ursprüng­li­ches Habitat zu verlassen.

„Die Stan­dard­for­de­rung von Rassi­sten und Nazis ist Ausländer-Stopp, und eine pseu­do­öko­lo­gi­sche Begrün­dung hierfür lautet: Wir können aus ökolo­gi­schen Gründen nicht noch mehr Ausländer aufnehmen.“ Als Beispiel führt Bierl etwa die Ecopop-Initia­tive an, über welche in der Schweiz 2014 abge­stimmt wurde und die einen Zuwan­de­rungs­stopp zum „Schutz der natür­li­chen Lebens­grund­lagen“ forderte.

Aus dem Argu­ment, nicht mehr ‚Fremde‘ zulassen zu wollen, um die Natur zu schützen, lässt sich schliess­lich ableiten, dass die Welt­be­völ­ke­rung per se zu redu­zieren sei, da der zivi­li­sa­to­ri­sche Mensch als solcher der unbe­rührten Natur fremd sei und ein mensch­li­cher Über­schuss auf dem Planeten einem Fehler gleich­komme, der durch Krank­heiten und Epide­mien bekämpft werden müsse.

Sympa­thien für AIDS

„Die Behaup­tung, die wesent­liche Ursache der Umwelt­zer­stö­rung sei die Über­be­völ­ke­rung des Planeten, kam in den 1960er-Jahren auf. Sie ist sach­lich falsch, menschen­feind­lich und im Regel­fall rassi­stisch“, erklärt Bierl. „Oft heisst es etwa, vor allem sei Afrika über­be­völ­kert, weil, wie Björn Höcke sagen würde, die Afri­kaner sich unge­hemmt vermehren.“

Ein promi­nenter der Vertreter dieser Auffas­sung war der Verhal­tens­bio­loge Konrad Lorenz (der mit den Gänsen), der seine Karriere in Zeiten des Faschismus begann und seine rassen­hy­gie­nisch-sozi­al­dar­wi­ni­sti­schen Über­zeu­gungen nie ablegte. 1988 erklärte Lorenz, die Aids-Epidemie wäre gut, weil sie die Mensch­heit redu­zieren und die Über­le­benden aufrüt­teln würde. Er sagte beispiels­weise, man könnte „ange­sichts der Über­be­völ­ke­rung eine gewisse Sympa­thie für AIDS bekommen“.

Heute ist die Umwelt­be­we­gung grund­sätz­lich immuner und kriti­scher gegen­über solchen Strö­mungen aufge­stellt, sagt Bierl: “ Ich sehe das etwa bei Extinc­tion Rebel­lion Deutsch­land: Als die Parole „corona is the cure, humans are the disease“ zu kursieren begann, kam es von Seiten XE direkt zu einer Distan­zie­rung. Das Bewusst­sein ist also deut­lich gewachsen seit den 70er und 80er Jahren.“ Diese Entwick­lung sei gemäss Bierl ein Resultat der dama­ligen Kritik von ökolo­gisch orien­tierten radi­kalen Linken.

Dennoch findet etwa das Thema Über­be­völ­ke­rung immer wieder schlei­chend seinen Weg in den grünen und linken Diskurs. Bierl: „2014 forderten promi­nente Aktivist*innen aus der esote­ri­schen Tiefen­öko­logie-Szene, darunter Paul Watson, Mitgründer von Green­peace, heute bei Sea Shep­herd, oder Dave Forman, Mitgründer von Earth First, sowie Vertreter*innen der Inter­na­tional Foun­da­tion for Deep Ecology, das Thema Über­be­völ­ke­rung wieder offensiv anzu­gehen. Linke Ökolog*innen und Femi­ni­stinnen wurden in einem Buch mit ihren Beiträgen als ‚linke Gestapo‘ beschimpft. Einer­seits wurde das Selbst­be­stim­mungs­recht von Frauen ange­griffen, ande­rer­seits ein Einwan­de­rungs­stopp gefor­dert, um die vermeint­liche Über­be­völ­ke­rung zu stoppen. Das ist Ökofa­schismus pur.“

Durch die Corona-Pandemie wird somit ein Thema wieder forciert, welches in seiner Tendenz schon länger im Raum stand.

Der Pestizid-Produ­zent ist schuld. Und dessen Putz­kraft auch.

Bei den Rechten sind es die Menschen aus dem globalen Süden, deren Fami­lien zu gross sind und die somit zur Über­be­völ­ke­rung beitragen, bei Tiefenökolog*innen und gewissen Linken wird auch der Norden als über­be­völ­kert bezeichnet. Da im globalen Norden die Gebur­ten­raten mitt­ler­weile niedrig sind, wird argu­men­tiert, der Norden sei sowieso längst über­be­völ­kert und sollte das Problem nicht durch Einwan­de­rung verschärfen. „Da treffen sich Rechte, Linke und esote­ri­sche Tiefen­öko­logie in einer genuin rechten Forde­rung“, sagt Bierl.

Im Fall der „Corona is the Cure“-Diskussion ist die Sache doppelt ironisch: Die Privi­le­gierten, die nun an ihren MacBooks von „Corona is the Cure“ twit­tern, sind meist nicht jene Personen, welche am meisten von der Zerstö­rung der Natur betroffen sind. Es sind nicht sie, die unter Dürre und Über­schwem­mungen leiden – und es sind auch nicht sie, die aufgrund maroder oder fehlender Gesund­heits­sy­steme, extremer Armut und struk­tu­reller Unzu­läng­lich­keiten an COVID-19 sterben werden.

Die so verbrei­teten ökofa­schi­sti­sche Ansätze diffa­mieren den Menschen als Para­siten, als Virus, das den Planeten befallen habe. Das ist nicht nur falsch und menschen­feind­lich – es zielt auch an den eigent­li­chen Ursa­chen völlig vorbei. „Zu sagen, der Mensch sei das Virus, läuft darauf hinaus, zu behaupten, alle seien glei­cher­maßen schuld an der Zerstö­rung: der Aufsichts­rats­vor­sit­zende eines Chemie­kon­zerns, der Pesti­zide herstellen lässt, die Böden, Tiere und Menschen vergiften, genauso wie die migran­ti­sche Putz­kraft, die dessen Büro sauber­macht“, so Bierl.

Fehlende Reflek­tion

Peter Bierl vermutet eine fehlende Reflek­ti­ons­fä­hig­keit und eine gewisse struk­tu­relle Blind­heit oder zumin­dest Igno­ranz als Ursache dafür, dass „Corona is the Cure“ auf Sympa­thien trifft: „Es ist für viele mitt­ler­weile offen­sicht­lich, auf welche ökolo­gi­sche Kata­strophe wir zusteuern. Dann sieht man, dass es aber einfach so weiter­geht, und weil nicht nur Kapitalist*innen einfach weiter­ma­chen, sondern auch Gewerk­schaften für Kohle­abbau, für den Bau von Autos und sogar Waffen eintreten, weil sie Lohn­ab­hän­gige vertreten, die jeden Monat über die Runde kommen müssen, scheint der Schluss nahe­lie­gend: Die Menschen sind doch schuld, sie müssen weg oder zumin­dest dezi­miert werden.“

Im grünen Gewand gegen Migra­tion: Die Ecopop Initia­tive des gleich­nah­migen Vereins schei­terete 2014 haus­hoch an der Urne. © Ecopop

Was bei dieser von Bierl beschrie­benen Betrach­tungs­weise unter­geht: Nicht der homo­gene ‚Mensch‘ ist das Problem, sondern die mensch­ge­machten Struk­turen und Regeln, in denen sich die meisten unfrei­willig, aber so gewohnt bewegen, dass die struk­tu­rellen Bedin­gungen in weiten Teilen der Welt ihrer­seits als natür­lich und per se mensch­lich betrachtet werden. Die Wachs­tums­ma­xime der globalen Wirt­schaft und die Lohn­ab­hän­gig­keit wären Beispiele hierfür.

Dass die Reflek­tion ausbleibt, ist nach Ansicht von Bierl auch ein Ausdruck der Schwäche der Linken: „Was von der Linken übrig­ge­blieben ist, operiert viel­fach aus dem Bauch heraus, ohne fundierte Gesell­schafts­kritik. Statt­dessen wird ein Konglo­merat aus ober­fläch­li­chem Globa­li­sie­rungs- und Neoli­be­ra­lismus-Bashing gepflegt, der Über­gang zu Verschwö­rungs­theo­rien und Anti­se­mi­tismus ist manchmal flie­ßend.“ Die Umwelt­be­we­gung habe zwar viele poli­ti­siert, aber es mangle bei vielen an Reflek­tion und Ausein­an­der­set­zung damit, wie diese Welt wirk­lich funk­tio­niert, sagt Bierl und fügt an: „Umwelt­zer­stö­rung ist genauso wie die Betrof­fen­heit davon eine Klas­sen­frage. Das scheinen viele (noch) nicht zu verstehen.“

Nicht im selben Boot

Ein Groß­teil der Umwelt­be­we­gung war und sei, und das gelte auch für Fridays for Future und Extinc­tion Rebel­lion, weder staats- noch kapi­ta­lis­mus­kri­tisch. „Sonst würden sie gar nicht auf die Idee kommen, ständig an Politiker*innen und Unternehmer*innen zu appel­lieren oder ihnen Bera­tung anbieten“, sagt Bierl: „Sie über­sehen, dass wir nicht alle in einem Boot sitzen, sondern in einer Galeere, in der die Masse rudert und einige wenige die Peit­sche schwingen und den Takt vorgeben.“ So würde etwa über­sehen, dass wir in Gesell­schaften leben, die in Klassen gespalten sind, in denen patri­ar­chale und rassi­sti­sche Unter­drückung statt­findet. Dieselben Struk­turen wirken auch in Bezug auf COVID-19, auch hier sitzen bei weitem nicht alle im selben Boot und sind glei­cher­massen betroffen.

„Die meisten Umwelt­be­wegten begreifen nicht, dass die Umwelt­zer­stö­rung im Kern die stoff­liche Folge der Kapi­tal­ver­wer­tung ist.“

Diese fehlende Reflek­tion mache Teile der Bewe­gungen anfällig für diese Form der verein­fachten Argu­men­ta­tion. „Oftmals helfen Zahlen und Fakten; man sollte argu­men­tativ gegen Schein­ar­gu­mente wie die Über­be­völ­ke­rung vorgehen.“ Es ist gemäss Bierl für eine fort­schritt­liche Umwelt­be­we­gung zentral, aufzu­zeigen, wie proble­ma­tisch das kapi­ta­li­sti­sche System und die herr­schenden Ungleich­heiten sind und warum Popu­la­ti­ons­dis­kurse ins Leere laufen, wenn der struk­tu­relle Charakter der Gesell­schaften igno­riert wird.

Bierl selbst hält die Über­win­dung des Kapi­ta­lismus für notwendig, um die Umwelt­zer­stö­rung zu beenden, sagt aber auch: „Ich plädiere deut­lich für ’system change‘ aber ich würde auf dem Weg dorthin jede Umwelt- und Sozi­al­re­form mitnehmen, die ich kriegen kann.“


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