Zivile Antwort auf tödliche Migrationspolitik

Während Europa seine Abschot­tung ausbaut, betreibt Alarm­phone eine Notruf­nummer. In zehn Jahren halfen sie über 8000 Booten in Seenot – und zeigen, was ein soli­da­ri­sches Netz­werk gegen das milli­ar­den­schwere Grenz­re­gime ausrichten kann. 
Am 3. April 2019 rettete ein Schiff der Organisation Sea Eye 64 Menschen aus Seenot, nachdem Alarmphone deren Notruf erhalten und weitergegeben hatte. (Bild: Fabian Heinz, fabianheinz.de)

In einem zwischen­ge­nutzten Haus in Zürich klin­gelt ein Handy. Eine Frei­wil­lige nimmt ab: «Hello my friend, how can I help you?» (Hallo mein*e Freund*in, wie kann ich dir helfen?) Sobald Menschen in Seenot anrufen, geben die Frei­wil­ligen die Koor­di­naten des Bootes an die Küsten­wache weiter, infor­mieren die Grenz­wache Frontex, die Geflüch­teten-Behörde UNHCR und private Rettungs­schiffe. Mit offenen Laptops versu­chen sie über Stunden und Tage den Kontakt zu halten, doku­men­tieren die Lage und alar­mieren erneut, wenn Benzin ausgeht, das Boot Luft verliert oder Wasser eindringt.

Seit zehn Jahren betreibt Alarm­phone diese Notruf­nummer. Rund 300 Menschen von Tunis über Marseille bis Berlin betreuen sie im Schicht­be­trieb. Seit Alarm­phone existiert, half die Hotline mehr als 8’000 Booten in Not. Doch sie leistet mehr als tech­ni­sche Hilfe. «Dass wir freund­lich antworten, statt feind­selig, hat in dieser von Abschot­tung und Abschreckung geprägten Situa­tion eine poli­ti­sche Kraft», sagt Lorenz Naegeli, einer der knapp 20 Frei­wil­ligen in Zürich. Allein dieser simple Akt der Soli­da­rität sei zu einem störenden Element für das milli­ar­den­schwere Grenz­re­gime Europas geworden.

Im Oktober 2013 schlossen sich verschie­dene Aktivist*innen zu diesem Stör­ele­ment zusammen, nachdem vor Lampe­dusa innert weniger Tage mehr als 500 Menschen ertranken. Die Idee, das Töten im Mittel­meer mit einer 24/7‑Hotline zu bekämpfen, geht unter anderem auf Mussie Zerai zurück. Der eritre­ische Prie­ster stellte notge­drungen seine Tele­fon­nummer für Menschen in Seenot bereit – sie wurde in liby­schen Gefäng­nissen an die Wände geschrieben, nachdem er dort für Geflüch­tete gedol­metscht hatte. Alarm­phone wollte eine kollek­tive Antwort auf solche indi­vi­du­ellen Kämpfe geben.

Die Vernet­zung: Alarm­phone Sahara

Auch fernab des Mittel­meers ist das Netz­werk aktiv: Moctar Dan Yayé grün­dete 2017 mit anderen Aktivist*innen Alarm­phone Sahara und rich­tete in der Wüsten­stadt Agadez in Niger eben­falls eine Notruf­nummer ein. Aber das Telefon erwies sich als inef­fi­zient, da die Menschen auf ihrem Weg durch die Wüste oft kein Netz hatten. «Deshalb erwei­terten wir die Nummer durch ein Netz­werk von Whistleblower*innen, die auf den Strassen unter­wegs sind und Alarm schlagen, wenn Menschen in Not sind.» 

«Der Weg durch die Wüste war nicht immer so tödlich.»

Moctar Dan Yayé, Alarm­phone Sahara

Alarm­phone Sahara orga­ni­siert auch Wüsten­pa­trouillen mit orts­kun­digen Personen, die etwa wissen, wo der nächste Brunnen liegt. «Denn die meisten Todes­fälle gehen auf Verdur­sten zurück», sagt Dan Yayé. 

Das Missing Migrants Project der Inter­na­tional Orga­nization of Migra­tion (IOM) doku­men­tierte seit 2014 den Tod von 2’000 Menschen in der Sahara. Der Weg durch die Wüste war aber nicht immer so tödlich, weiss Dan Yayé. Jahr­hun­der­te­lang zogen Kara­wanen hindurch, und bis vor Kurzem reisten Menschen von Agadez aus legal mit Bussen oder Autos nach Alge­rien oder Libyen. «Migra­tion kümmerte die Politik kaum, sie war ein normales Phänomen», sagt Dan Yayé. Niger gehörte bis vor Kurzem zur west­afri­ka­ni­schen Wirt­schafts­union ECOWAS, die seit 1979 Perso­nen­frei­zü­gig­keit garantiert.

Die Lage änderte sich, als Niger 2015 auf Druck der EU ein Gesetz erliess, das die Mobi­lität auf diesen Strassen krimi­na­li­sierte. Es verbot auch den Trans­port irre­gu­lärer Migrant*innen in den Norden – um sie aufzu­halten, bevor sie das Mittel­meer errei­chen. «Also mussten die Menschen gefähr­li­chere Routen nehmen, um die Polizei- und Mili­tär­kon­trollen zu umgehen», sagt Dan Yayé. 

Alarm­phone Sahara klagte gegen dieses Gesetz vor dem Menschen­rechts­ge­richtshof der ECOWAS zunächst erfolglos. Doch nach dem Mili­tär­putsch im Juli 2023 hob Niger das Gesetz auf. Seither ist Flucht­hilfe wieder erlaubt. Doch daraufhin änderte die EU ihre Stra­tegie. «Die Menschen können Niger zwar nun problemlos durch­queren, aber an den nörd­li­chen Grenzen werden sie von tune­si­schen und alge­ri­schen Sicher­heits­kräften brutal in die Wüste zurück­ge­drängt», sagt Dan Yayé. 

2024 zählte Alarm­phone Sahara 30’000 Menschen, die alge­ri­sche Behörden im nigri­schen Teil der Sahara aussetzten – zusam­men­ge­pfercht auf Pickups, unter unmensch­li­chen Bedin­gungen. «Von dort müssen sie fast 15 Kilo­meter laufen, um das nächste Dorf zu errei­chen.» Unter ihnen befinden sich oft Verletzte und Kranke in lebens­be­droh­li­chem Zustand.

Die Doku­men­ta­tion: «Niemand kann jemals sagen, nichts davon gewusst zu haben»

«Wir alle starren immer wieder in diesen tiefen Abgrund, stossen immer wieder an die Grenzen des Vorstell­baren.» Charles Hellner mode­riert das Podium im Theater Neumarkt, das Alarm­phone zu seinem zehn­jäh­rigen Bestehen orga­ni­siert hat. Der Inve­sti­ga­tiv­for­scher der Agentur Border Foren­sics doku­men­tiert immer wieder dieses Unvor­stell­bare: das rassi­sti­sche Massaker vom 24. Juni 2022 an der Grenze zwischen Nador in Marokko und der spani­schen Enklave Melilla, wo marok­ka­ni­sche und spani­sche Sicher­heits­kräfte 27 Schwarze Menschen töteten, die über den Grenz­zaun klet­terten, und mehr als 70 verschwinden liessen. Oder die zwei Schiffs­brüche im April 2015 im Mittel­meer, die inner­halb von Minuten über tausend Todes­opfer forderten. 

«Es handelt sich um eine staat­lich orga­ni­sierte Serie brutaler Angriffe auf Flüchtende.»

Lorenz Naegeli, Alarm­phone Zürich

Das Missing Migrants Project hat in den letzten zehn Jahren den Tod von fast 75’000 Migrant*innen welt­weit erfasst, die wegen Grenzen starben – fast die Hälfte davon im Mittel­meer. Beson­ders in der Ägäis im östli­chen Mittel­meer hat die Bruta­lität des euro­päi­schen Grenz­re­gimes zugenommen. 

«Es handelt sich um eine staat­lich orga­ni­sierte Serie brutaler Angriffe auf Flüch­tende, die öffent­lich gezeigt werden, um sie zu norma­li­sieren», sagt Naegeli von Alarm­phone Zürich. Gewalt, die einst als extrem und menschen­rechts­widrig galt, wird durch ihre regel­mäs­sige Anwen­dung und Begriffe wie «Sicher­heit» oder «Grenz­schutz» zuneh­mend als legitim präsentiert.

Ende Januar lud Alarm­phone ins Theater Neumarkt zu der Veran­stal­tung «Under­ground Rail­road of Migra­tion» ein. Auf dem Podium sassen Marion Bayer, Moctar Dan Yayé, Lorenz Naegeli und Charles Hellner. Dieser Artikel stützt sich auf die Aufzeich­nung des Events.

In diesem Booklet blickt Alarm­phone auf seine 10-jährige Geschichte zurück.

Wie sich diese Gewalt in der Ägäis zeigt, schil­dern Berichte von Betrof­fenen: Um sie in türki­sche Gewässer zurück­zu­drängen, attackierten Sicher­heits­kräfte ihre Schlauch­boote mit Harpunen und schossen auf sie. Noch schlimmer ist es am Fluss Evros, der die Türkei von Grie­chen­land trennt. Menschen berich­teten, wie grie­chi­sche Grenz­sol­daten sie massen­haft inhaf­tierten, brutal miss­han­delten, ihnen Klei­dung und die wenigen Habse­lig­keiten raubten und sie schutzlos den türki­schen Grenz­sol­daten auslieferten.

«Rechtsexpert*innen spre­chen von Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit, die auf euro­päi­schem Boden begangen werden und sehr gut doku­men­tiert sind», sagt Naegeli. «Niemand kann jemals sagen, nichts davon gewusst zu haben.»

Der Wider­stand: Under­ground Rail­road of Migration

Neben der Doku­men­ta­tion und prak­ti­schen Hilfe tut Alarm­phone vor allem eins: Es baut mit anderen Projekten eine Gegen­ge­mein­schaft gegen das brutale Grenz­re­gime auf. Die Aktivist*innen spre­chen von einer «Under­ground Rail­road of Migration».

«Heute wirkt es unvor­stellbar, dass das Ende der Skla­verei einst als Utopie galt.»

Marion Bayer, Alarm­phone Hanau

Eine solches Netz­werk der Soli­da­rität, das Flucht­wege öffnet, gab es bereits in den 1780er-Jahren in den USA: Die Under­ground Rail­road war ein orga­ni­siertes Netz aus Geheim­wegen und sicheren Unter­künften, das versklavten Menschen half, in den aboli­tio­ni­sti­schen Norden der USA zu fliehen. 

«Heute wirkt es unvor­stellbar, dass das Ende der Skla­verei einst als Utopie galt», sagt Marion Bayer, die seit der Grün­dung von Alarm­phone im deut­schen Hanau mitwirkt. Der Blick zurück habe gezeigt: Wer etwas abschaffen will, muss Neues schaffen. Über Jahre ist so ein soli­da­ri­sches Netz­werk gewachsen: zivile Rettungs­schiffe und Flug­zeuge im Mittel­meer, soli­da­ri­sche Projekte auf den Routen durch den Balkan oder Marokko, in Italien oder der Schweiz, wenn die Menschen ankommen.

Doch die Arbeit wird schwie­riger. Die Personen hinter Alarm­phone spüren dies etwa im Kontakt mit den Küsten­wa­chen. «Wir kennen die Warte­schlei­fen­me­lo­dien der Küsten­wa­chen inzwi­schen besser als die Stimmen ihrer Offi­ziere», sagt Bayer. Und immer öfter verlieren sie den Kontakt zu Menschen in Seenot, da die Flucht­routen gefähr­li­cher werden.

Bayer berichtet auch von Begeg­nungen mit Ange­hö­rigen der Toten und Vermissten. «All die Mütter und Väter, die Brüder, Schwe­stern, Freund*innen und Nachbar*innen – man ist mit einem so grossen Ausmass an Trauer und Verlust konfron­tiert.» Um damit umzu­gehen, haben sie mit den Hinter­blie­benen das Konzept «Comme­mo­rac­tion» geschaffen. Diese regel­mäs­sigen Treffen, deren Name sich aus «comme­mo­rate» (Gedenken) und «action» (Hand­lung) zusam­men­setzt, würdigen die Toten und Verschwun­denen mit Kerzen, Bildern und Gedichten – und machen die tägli­chen Verbre­chen des euro­päi­schen Grenz­re­gimes sichtbar.

Die Vision: Grenzen dürfen nicht gefähr­lich sein

Moctar Dan Yayé, Marion Bayer, Lorenz Naegeli und Charles Hellner haben alle auf unter­schied­liche Art und Weise erlebt, wie Bewe­gungs­frei­heit aussehen könnte. Bayer erin­nert sich an den Sommer 2015 auf der grie­chi­schen Insel Lesbos: «Damals kam ein Boot nach dem anderen an. Die Strände waren voll mit Frei­wil­ligen, die den Menschen die Hand reichten und ‹Will­kommen in Europa› sagten.» Diese Sommer­mo­nate waren die Zeit mit den wenig­sten Todes­op­fern im Mittel­meer. Das zeigt: Migra­tion ist möglich ohne Todes­opfer und ohne die horrenden Kosten, die Menschen heute für ihr Recht auf Bewe­gung zahlen.

In vielen afri­ka­ni­schen Ländern sei eine solche Bewe­gungs­frei­heit selbst­ver­ständ­lich, sagt Dan Yayé. Er fordert: «Europa muss aufhören zu glauben, dass alle Menschen aus dem Süden kommen, wenn es keine Barrieren und Kontrollen mehr gibt.» Viele wollen nach Europa, um eine würdige Arbeit zu finden und nicht, weil sie poli­tisch verfolgt werden. Etwa ein Visa-System, das mehr­fache Einreisen erlaubt, könnte zirku­läre Migra­tion ermög­li­chen – wie sie zwischen west­afri­ka­ni­schen Staaten besteht oder in den 1960er-Jahren an der US-mexi­ka­ni­schen Grenze existierte. «Es bedeutet nur die Möglich­keit, zu gehen und wieder zurück­kehren zu können», sagt Dan Yayé.

Viele Wissenschaftler*innen, darunter die Wirt­schafts­no­bel­preis­trä­gerin Esther Duflo, sehen in offenen Grenzen das wirk­samste Mittel gegen Armut. Gleich­zeitig ist das milli­ar­den­schwere euro­päi­sche Grenz­re­gime äusserst inef­fi­zient. «All die Verschär­fungen, um Asyl zu erhalten, all die neuen Gesetze und Mass­nahmen gegen Migra­tion – nichts davon hat Migra­tion je gestoppt», sagt Dan Yayé.


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