„Ich bin mir nicht sicher, ob wir wirklich etwas erreichen können“, sagt Selomun Bhrane*. „Aber wir wollen es versuchen.“ Er ist einer von 132 Unterzeichnenden eines offenen Briefs, der gestern Freitag das Sozialamt des Kantons Zürich erreicht hat.
Bhrane lebt im Rückkehrzentrum (RKZ) Adliswil, in heruntergekommenen Containern am Rand der Stadt; in einem von fünf RKZ des Kantons, in denen Personen mit abgelehnten Asylgesuchen untergebracht werden. Das Lager in Adliswil dient überwiegend der Unterbringung von Familien, Frauen und Kindern. Sie wachsen in einer Umgebung auf, in der immer wieder Freund*innen von der Polizei abgeholt und unter Zwang ausgeschafft werden.
Die Bewohner*innen konnten und können sich also kaum vor einer Infektion mit dem Coronavirus schützen. Trotzdem reagierte die verantwortliche Sicherheitsdirektion unter SP-Regierungsrat Mario Fehr erst spät. Zurzeit ist gegen ihn, mehrere seiner Beamt*innen sowie die Firma ORS, die die RKZ betreibt, eine Klage wegen Körperverletzung durch Unterlassen, Nötigung und die Verletzung des Epidemiengesetzes hängig. Fehr habe die Asylsuchenden zu wenig gut vor Corona geschützt, lautet der Vorwurf.
Mit Lockerungen zurück zur alten Repression
Nach anfänglichem Zögern ergriff die Sicherheitsdirektion schliesslich doch Massnahmen. Das Besuchsrecht wurde ausgesetzt. Die Nothilfe, die bisher nur dann ausgezahlt wurde, wenn die Asylsuchenden jeden Tag innerhalb eines knapp bemessenen Zeitrahmens im RKZ anwesend waren und dies visiert haben, wurde ebenfalls nicht mehr ausbezahlt. Auch, weil sich innerhalb dieses Zeitfensters gewöhnlich lange Schlangen vor dem Zentrumsbüro gebildet hatten.
Statt des Gelds sei fortan ein Catering-Betrieb für die Internierten bereitgestellt worden, erzählt Michaela Sokolow*, die ebenfalls im RKZ Adliswil untergebracht ist. „Aber das Essen war qualitativ schlecht“, sagt sie. Es habe immer nur Reis oder Pasta gegeben, und das Geld für andere Auslagen sei komplett weggefallen. Nach wenigen Wochen reagierte die Sicherheitsdirektion schliesslich auf öffentliche Kritik am Catering-System und stellte dieses wieder ein. Neu wurde die Nothilfe einmal wöchentlich ausbezahlt, und nur noch einmal wöchentlich mussten die Asylsuchenden dafür ihre Unterschrift hinterlassen. Eine grosse Erleichterung, sagt Sokolow.
Am 22. Juni 2020 wurde diese Erleichterung wieder rückgängig gemacht, just während sich die zweite Welle anzukündigen begann. Die Sicherheitsdirektion verfügte, dass die Asylsuchenden neu wieder jeden Tag eine Unterschrift hinterlassen müssen. „Plötzlich haben sie wieder umgestellt“, sagt Emanuela Elmusharav*, die im RKZ in Hinteregg untergebracht ist. „Das Unterschreiben bestimmt jetzt wieder die ganze Tagesstruktur: Wir können nicht mehr weg.“ Hinzu komme der finanzielle Schaden. Die Nothilfe wird nur dann ausbezahlt, wenn das Zeitfenster für die Unterschrift strikt eingehalten wird. In Hinteregg muss sie zwischen halb neun und halb elf hinterlassen werden. „Wenn du einmal zu spät kommst, musst du den ganzen Tag ohne Geld auskommen“, sagt Elmusharav. „Und wenn wir anstehen, stehen wir wieder so nah beieinander wie immer.“
„Auch wir haben das Recht auf den Schutz unserer Gesundheit und unseres Lebens, auch wenn wir in Camps wohnen“, schreiben die Asylsuchenden jetzt in ihrem offenen Brief an das Sozialamt des Kantons Zürich. Ihre Forderung ist eigentlich simpel: Das Sozialamt soll auf den täglichen Unterschriftenzwang verzichten. Unterzeichnet haben ihn Asylsuchende aller Zürcher RKZ: Eine Forderung von ganz unten an ganz oben. Sie schliesst mit dem Satz: „Wir wünschen uns, dass wir in nicht noch grösseren Schwierigkeiten leben müssen.“
Die Sicherheitsdirektion unter Mario Fehr hat andere Pläne. Sie kehrt nicht nur zu alter Härte zurück, sondern geht noch weiter. Während in den anderen vier RKZ der Unterschriftenzwang mit einer Lockerung, nämlich der Wiedereinführung des Besuchsrechts, verbunden war, bleiben Besuche in Urdorf weiterhin verboten.
Rechenschaft ist überbewertet
Das RKZ Urdorf ist das einzige unterirdische Lager des Kantons – ohne frische Luft und Sonnenlicht. Dass ein Zivilschutzbunker als Kollektivunterkunft dient, wurde immer wieder öffentlich kritisiert. Zuletzt zu Beginn der Corona-Krise in einem offenen Brief, der die Schliessung des Urdorfer Lagers verlangte. Die Gesundheit der Asylsuchenden sei im Bunker akut gefährdet. Die Sicherheitsdirektion reagierte damals mit einer launigen Medienmitteilung, in der sie unter anderem festhielt, dass auch in Alters- und Pflegeheimen Menschen in Kollektivunterkünften untergebracht seien.
Dass jetzt ausschliesslich in Urdorf das Besuchsverbot aufrechterhalten wird, wirke wie eine Reaktion auf diese öffentlichen Vorwürfe, sagt die Aktivistin Jela Kistler. Sie besucht seit mehreren Jahren regelmässig das RKZ in Urdorf, um juristische Beratung zu leisten. Seit Monaten bleibt ihr der Zutritt verwehrt. Auch zum Vorplatz unter freiem Himmel. „Es scheint, als wolle die Sicherheitsdirektion die Öffentlichkeit davon abhalten zu erfahren, was im Innern des Bunkers vor sich geht.“
Das Lamm hat mehrere Fragen an die Sicherheitsdirektion gerichtet: wie sie das Besuchsverbot begründe, weshalb sie den Unterschriftenzwang wieder eingeführt habe, inwiefern sich Urdorf von den anderen RKZ unterscheide. Die Behörde ist gesetzlich zu einer Antwort verpflichtet, solange dies kein übergeordnetes Interesse verbietet. Trotzdem hat sich die Sicherheitsdirektion geweigert, die Fragen von das Lamm zu beantworten. Auch nach mehrmaligem nachhaken; mehrere Telefonanrufe blieben unbeantwortet. Sie vermeldet nur, dass das Besuchsverbot „zum Schutz der Bewohner“ vorläufig bestehen bleibe. „Die Gestaltung der Besuchsregelungen richtet sich nach den Begebenheiten vor Ort.“ Vor allem aber wohl nach der Laune der Verantwortlichen.
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