In den Zürcher Rück­kehr­zen­tren regt sich Widerstand

Im Zürcher Nothilfe-System bedeuten Corona-Locke­rungen die Rück­kehr zu alter Härte. In Urdorf geht die Sicher­heits­di­rek­tion neu sogar noch weiter. Dagegen wehren sich jetzt Asyl­su­chende aus allen fünf Rück­kehr­zen­tren mit einem offenen Brief. Die Behörde scheint indes keine Lust darauf zu haben, sich zu erklären. 
Das RKZ Adliswil: Heruntergekommene Container am Rand der Stadt. (Foto: Solinetz Zürich)

„Ich bin mir nicht sicher, ob wir wirk­lich etwas errei­chen können“, sagt Selomun Bhrane*. „Aber wir wollen es versu­chen.“ Er ist einer von 132 Unter­zeich­nenden eines offenen Briefs, der gestern Freitag das Sozi­alamt des Kantons Zürich erreicht hat.

Bhrane lebt im Rück­kehr­zen­trum (RKZ) Adliswil, in herun­ter­ge­kom­menen Contai­nern am Rand der Stadt; in einem von fünf RKZ des Kantons, in denen Personen mit abge­lehnten Asyl­ge­su­chen unter­ge­bracht werden. Das Lager in Adliswil dient über­wie­gend der Unter­brin­gung von Fami­lien, Frauen und Kindern. Sie wachsen in einer Umge­bung auf, in der immer wieder Freund*innen von der Polizei abge­holt und unter Zwang ausge­schafft werden.

Die Bewohner*innen konnten und können sich also kaum vor einer Infek­tion mit dem Coro­na­virus schützen. Trotzdem reagierte die verant­wort­liche Sicher­heits­di­rek­tion unter SP-Regie­rungsrat Mario Fehr erst spät. Zurzeit ist gegen ihn, mehrere seiner Beamt*innen sowie die Firma ORS, die die RKZ betreibt, eine Klage wegen Körper­ver­let­zung durch Unter­lassen, Nöti­gung und die Verlet­zung des Epide­mien­ge­setzes hängig. Fehr habe die Asyl­su­chenden zu wenig gut vor Corona geschützt, lautet der Vorwurf.

Mit Locke­rungen zurück zur alten Repression

Nach anfäng­li­chem Zögern ergriff die Sicher­heits­di­rek­tion schliess­lich doch Mass­nahmen. Das Besuchs­recht wurde ausge­setzt. Die Nothilfe, die bisher nur dann ausge­zahlt wurde, wenn die Asyl­su­chenden jeden Tag inner­halb eines knapp bemes­senen Zeit­rah­mens im RKZ anwe­send waren und dies visiert haben, wurde eben­falls nicht mehr ausbe­zahlt. Auch, weil sich inner­halb dieses Zeit­fen­sters gewöhn­lich lange Schlangen vor dem Zentrums­büro gebildet hatten.

Statt des Gelds sei fortan ein Cate­ring-Betrieb für die Inter­nierten bereit­ge­stellt worden, erzählt Michaela Sokolow*, die eben­falls im RKZ Adliswil unter­ge­bracht ist. „Aber das Essen war quali­tativ schlecht“, sagt sie. Es habe immer nur Reis oder Pasta gegeben, und das Geld für andere Auslagen sei komplett wegge­fallen. Nach wenigen Wochen reagierte die Sicher­heits­di­rek­tion schliess­lich auf öffent­liche Kritik am Cate­ring-System und stellte dieses wieder ein. Neu wurde die Nothilfe einmal wöchent­lich ausbe­zahlt, und nur noch einmal wöchent­lich mussten die Asyl­su­chenden dafür ihre Unter­schrift hinter­lassen. Eine grosse Erleich­te­rung, sagt Sokolow.

Am 22. Juni 2020 wurde diese Erleich­te­rung wieder rück­gängig gemacht, just während sich die zweite Welle anzu­kün­digen begann. Die Sicher­heits­di­rek­tion verfügte, dass die Asyl­su­chenden neu wieder jeden Tag eine Unter­schrift hinter­lassen müssen. „Plötz­lich haben sie wieder umge­stellt“, sagt Emanuela Elmus­harav*, die im RKZ in Hinteregg unter­ge­bracht ist. „Das Unter­schreiben bestimmt jetzt wieder die ganze Tages­struktur: Wir können nicht mehr weg.“ Hinzu komme der finan­zi­elle Schaden. Die Nothilfe wird nur dann ausbe­zahlt, wenn das Zeit­fen­ster für die Unter­schrift strikt einge­halten wird. In Hinteregg muss sie zwischen halb neun und halb elf hinter­lassen werden. „Wenn du einmal zu spät kommst, musst du den ganzen Tag ohne Geld auskommen“, sagt Elmus­harav. „Und wenn wir anstehen, stehen wir wieder so nah beiein­ander wie immer.“

„Auch wir haben das Recht auf den Schutz unserer Gesund­heit und unseres Lebens, auch wenn wir in Camps wohnen“, schreiben die Asyl­su­chenden jetzt in ihrem offenen Brief an das Sozi­alamt des Kantons Zürich. Ihre Forde­rung ist eigent­lich simpel: Das Sozi­alamt soll auf den tägli­chen Unter­schrif­ten­zwang verzichten. Unter­zeichnet haben ihn Asyl­su­chende aller Zürcher RKZ: Eine Forde­rung von ganz unten an ganz oben. Sie schliesst mit dem Satz: „Wir wünschen uns, dass wir in nicht noch grös­seren Schwie­rig­keiten leben müssen.“

Die Sicher­heits­di­rek­tion unter Mario Fehr hat andere Pläne. Sie kehrt nicht nur zu alter Härte zurück, sondern geht noch weiter. Während in den anderen vier RKZ der Unter­schrif­ten­zwang mit einer Locke­rung, nämlich der Wieder­ein­füh­rung des Besuchs­rechts, verbunden war, bleiben Besuche in Urdorf weiterhin verboten.

Rechen­schaft ist überbewertet

Das RKZ Urdorf ist das einzige unter­ir­di­sche Lager des Kantons – ohne frische Luft und Sonnen­licht. Dass ein Zivil­schutz­bunker als Kollek­tiv­un­ter­kunft dient, wurde immer wieder öffent­lich kriti­siert. Zuletzt zu Beginn der Corona-Krise in einem offenen Brief, der die Schlies­sung des Urdorfer Lagers verlangte. Die Gesund­heit der Asyl­su­chenden sei im Bunker akut gefährdet. Die Sicher­heits­di­rek­tion reagierte damals mit einer launigen Medi­en­mit­tei­lung, in der sie unter anderem fest­hielt, dass auch in Alters- und Pfle­ge­heimen Menschen in Kollek­tiv­un­ter­künften unter­ge­bracht seien.

Dass jetzt ausschliess­lich in Urdorf das Besuchs­verbot aufrecht­erhalten wird, wirke wie eine Reak­tion auf diese öffent­li­chen Vorwürfe, sagt die Akti­vi­stin Jela Kistler. Sie besucht seit mehreren Jahren regel­mässig das RKZ in Urdorf, um juri­sti­sche Bera­tung zu leisten. Seit Monaten bleibt ihr der Zutritt verwehrt. Auch zum Vorplatz unter freiem Himmel. „Es scheint, als wolle die Sicher­heits­di­rek­tion die Öffent­lich­keit davon abhalten zu erfahren, was im Innern des Bunkers vor sich geht.“

Das Lamm hat mehrere Fragen an die Sicher­heits­di­rek­tion gerichtet: wie sie das Besuchs­verbot begründe, weshalb sie den Unter­schrif­ten­zwang wieder einge­führt habe, inwie­fern sich Urdorf von den anderen RKZ unter­scheide. Die Behörde ist gesetz­lich zu einer Antwort verpflichtet, solange dies kein über­ge­ord­netes Inter­esse verbietet. Trotzdem hat sich die Sicher­heits­di­rek­tion gewei­gert, die Fragen von das Lamm zu beant­worten. Auch nach mehr­ma­ligem nach­haken; mehrere Tele­fon­an­rufe blieben unbe­ant­wortet. Sie vermeldet nur, dass das Besuchs­verbot „zum Schutz der Bewohner“ vorläufig bestehen bleibe. „Die Gestal­tung der Besuchs­re­ge­lungen richtet sich nach den Bege­ben­heiten vor Ort.“ Vor allem aber wohl nach der Laune der Verantwortlichen.


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