Der Kanton Zürich will im Asyl­be­reich künftig noch mehr Verant­wor­tung ausla­gern. Dem Lamm liegt das neue Pflich­ten­heft für den Betrieb seiner Unter­künfte vor.

Der Kanton Zürich vergibt für den Betrieb seiner Unter­künfte im Asyl­be­reich Aufträge an Dritte– zum grössten Teil an die private ORS. Diese Aufträge wurden jetzt wieder ausge­schrieben. Das neue Pflich­ten­heft für die künf­tigen Betreiber der Unter­künfte liegt dem Lamm vor. Es gewährt Einblick hinter die Kulissen der Priva­ti­sie­rung – und zeigt: Künftig soll noch mehr Verant­wor­tung ausge­la­gert werden. Was bedeutet das für die Betrof­fenen? Wer profi­tiert von der zuneh­menden Ausla­ge­rung? Und wie funk­tio­nieren die Mecha­nismen dahinter? 
Eingang zur Notunterkunft in Urdorf. (Foto: Milad Perego)

Urdorf, Ober­ur­dorf: Hier liegt ein unter­ir­di­scher Zivil­schutz­bunker, der dem Kanton als „Notun­ter­kunft“ dient. Der Eingang wird von einer Kamera über­wacht. Ein langer Gang führt unter die Erde ins Innere des Bunkers, in den Aufent­halts­raum, wo etwa zehn Kühl­schränke surren und einzelne Männer auf Tischen schlafen, während fremd­spra­chige TV-Programme über einen kleinen Bild­schirm flim­mern. Auch hier ist eine Über­wa­chungs­ka­mera ange­bracht, direkt über den selt­samen Wand­ver­zie­rungen, die wohl Sonnen imitieren sollten. Denn bis hierhin dringt nichts: weder Sonnen­licht noch Handy­emp­fang noch frische Luft. Es ist fast Mittag, und man merkt es nicht.

Betrieben wird diese Notun­ter­kunft von der ORS Service AG, einem privaten, gewinn­ori­en­tierten Unter­nehmen. In der Schweiz betreibt die Firma über 35 Wohn­heime, Durch­gangs­zen­tren und Nothil­fe­st­ruk­turen im Auftrag von Bund, Kantonen und Gemeinden. Sie betreut dabei mit 600 Mitar­bei­te­rinnen und Mitar­bei­tern über 6000 Asyl­su­chende pro Tag, wie die Firma auf ihrer Website angibt. Im Auftrag des Kantons Zürich betreibt die ORS unter anderem alle vier kanto­nalen Notun­ter­künfte (NUKs).

In diesen NUKs werden Personen unter­ge­bracht, die sich eigent­lich nicht mehr in der Schweiz aufhalten dürften. In den meisten Fällen, weil ihr Asyl­ge­such abge­lehnt oder darauf gar nicht einge­gangen wurde. Das Migra­ti­onsamt nennt sie „Personen, die ihr Aufent­halts­recht im Kanton Zürich verwirkt haben und nicht frei­willig ausreisen“. Sie sollen, unter anderem mit der Unter­brin­gung in NUKs, zur Ausreise bewegt werden. Neu werden die NUKs deshalb „Ausrei­se­zen­tren“ genannt werden. Der verant­wort­liche Regie­rungsrat, Sicher­heits­di­rektor Mario Fehr, spricht von „Mass­nahmen unserer konse­quenten Asylpolitik“.

Der Auftrag für den Betrieb der kanto­nalen Unter­künfte wurde neu ausgeschrieben

Der Auftrag für den Betrieb der NUKs wurde jetzt gemeinsam mit dem Auftrag für den Betrieb der kanto­nalen Durch­gangs­zen­tren (DZs) per 1. März 2019 neu ausge­schrieben. Zwei DZs werden zurzeit nicht von der ORS betrieben, sondern von der Asyl­or­ga­ni­sa­tion Zürich AOZ, einem ausge­glie­derten Betrieb der Stadt Zürich (mehr über die AOZ in diesem Artikel von das Lamm). Die Details der Ausschrei­bung– etwa das Pflich­ten­heft –, die den sich bewer­benden Anbie­tern zur Verfü­gung gestellt wurden, liegen dem Lamm vor.

Klar ist: Die ORS, der grösste Schweizer Dienst­lei­ster im Asyl­be­reich, hat sich auch auf diese Ausschrei­bung wieder beworben. Und sie kann sich sehr gute Chancen ausrechnen, den Zuschlag erneut zu erhalten. Aber was macht die Zusam­men­ar­beit mit der ORS für die Behörden eigent­lich so attraktiv? Was ist das für eine Firma – und wer steckt hinter den Über­wa­chungs­ka­meras der NUK Urdorf?

Die ORS – eine Erfolgsgeschichte

Die ORS hat sich seit ihrer Grün­dung 1992 als grösste Schweizer Dienst­lei­sterin im Bereich von Dienst­lei­stungen für Flücht­linge und Asyl­su­chende etabliert. Inzwi­schen ist die Firma auch in Öster­reich, Deutsch­land und Italien tätig. Vor etwas mehr als einem Jahr wurden sowohl die Geschäfts­lei­tung als auch der Verwal­tungsrat erneuert. „Die neue Geschäfts­lei­tung brachte viel Dynamik in das Unter­nehmen“, sagt der Medi­en­spre­cher der ORS Hans Klaus. Die ORS-Gesell­schaft in Italien ist neu im Aufbau. „Zudem sind weitere Länder im Blick­feld, etwa Spanien oder Länder im südost­eu­ro­päi­schen Raum“, sagt Klaus. Die Bedürf­nisse der Flücht­linge würden sich heute stärker im medi­ter­ranen Raum konzentrieren.

In diesem „medi­ter­ranen Raum“ verortet die ORS also Möglich­keiten für Wachstum – und diese Möglich­keiten will die Firma nutzen. Denn Wachstum liegt im Inter­esse ihres Besit­zers, dem Londoner Private Equity Fund Equistone. Auf der Webseite von Equistone wird die Betei­li­gung an der OX Group aufge­führt. „Dabei handelt es sich vermut­lich um die OXZ Holding AG in Zürich“, sagt Heidi Hug vom Wirt­schafts­in­for­ma­ti­ons­portal Tele­data. „Die OXZ Holding wiederum hält die ORS Holding AG.“ Die ORS Holding AG hält die Anteile an den einzelnen Länder­ge­sell­schaften, etwa an der ORS Service AG in der Schweiz, sowie an der ORS Manage­ment AG, welche die einzelnen Länder­ge­sell­schaften leitet.

Hans Klaus bestä­tigt, dass es sich bei Equistone um den Mehr­heits­ei­gen­tümer der ORS handelt, und er fügt an: „Bei Equistone handelt es sich um profes­sio­nelle Inve­storen, die an einer lang­fri­stigen posi­tiven Entwick­lung ihrer Firmen inter­es­siert sind.“ Zudem sei zu beachten, dass das Kapital nicht Equistone gehöre, sondern wiederum von verschie­denen, auch insti­tu­tio­nellen Investor*innen komme, wie zum Beispiel Pensi­ons­kassen. Equistone selbst liess via externen Kommu­ni­ka­ti­ons­be­auf­tragten mitteilen, dass sie für ein Gespräch über die ORS nicht zur Verfü­gung stehe.

Im Annual Review von 2013, dem Jahr als Equistone bei der ORS einstieg, wurde die Inve­sti­tion aber so begründet: „Die OX Group verfügt über viel­ver­spre­chendes orga­ni­sches und akqui­si­to­ri­sches Wachs­tums­po­ten­zial. Das Angebot von ausge­la­gerten Immi­gra­ti­ons­dien­sten der Gruppe nimmt aufgrund der stetig wach­senden Zahl von Einwan­de­rern, die nach Europa einreisen, weiter zu.“ (Über­set­zung L.T.)

Die Logik des Geschäfts: Verantwortungslosigkeit

Aber auch wenn die ORS weiteres Wachstum anstrebt: Die Zahlen sind sich schon heute beein­druckend. 2016 verzeich­nete die Firma laut der Aargauer Zeitung einen Umsatz von 125 Millionen Franken. Der Gewinn liegt laut einem Zitat von ORS-Chef Jürg Rötheli in demselben Artikel im einstel­ligen Bereich, also zwischen 1,25 und 12,5 Millionen Franken, wie die AZ vorrechnet. Jürg Rötheli war vormals Chef des Medi­en­un­ter­neh­mens Clear Channel. Gegen­über dem Wirt­schafts­ma­gazin erklärte er damals die Aufgabe eines Mana­gers so: „Als ange­stellter Manager bin ich verpflichtet, die mir anver­trauten Ressourcen, Mitar­bei­tende und Kapital, im Inter­esse der Eigentümer einzu­setzen und weiterzuentwickeln.“

Genau darin liegt eine der grossen Stärken der ORS: Als private Firma ist sie scheinbar nur sich selbst und ihren Eigen­tü­mern gegen­über verpflichtet. Im Porträt des Co-Geschäfts­füh­rers Peter Wenger fragt die NZZ, ob ihn die Einzel­schick­sale nicht bela­sten würden. Die Antwort: nicht wirk­lich. Weil „er und seine Firma in die Verfahren nicht invol­viert sind und auf die Asyl­ent­scheide keinerlei Einfluss haben“. Die ORS ist nur die ausfüh­rende Kraft, „der Anbieter von Service-Dienst­lei­stungen“. Darauf kann sie sich berufen, wenn die ORS in die Kritik gerät, weil sie proble­ma­ti­sche Aufträge von Behörden ausführt.

Den Behörden auf der anderen Seite kommt das gelegen: „Mit der Ausla­ge­rung solcher Dienst­lei­stungen lagert der Staat eben auch Verant­wor­tung aus“, sagt Walter Angst, Mitglied der Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tion Augenauf und AL-Gemein­derat. Das Problem: Die Verant­wor­tung bleibt damit irgendwo im Limbo hängen. Der Staat gibt sie ab, aber die private Firma nimmt sie nicht an. Es bleiben: die dicken Bunker­mauern in Urdorf und die Über­wa­chungs­ka­meras, bei denen nicht klar ist, wer dahin­ter­steckt. Der Ursprung der Gewalt, die von diesen Über­wa­chungs­mass­nahmen ausgeht, wird abstrakt.

Schlech­tere Anstel­lungs­be­din­gungen, mehr Wettbewerbsfähigkeit

Mit dem Auftrag für den Betrieb der Notun­ter­künfte lagert der Kanton Zürich aber nicht nur Verant­wor­tung für die von ihrer Politik betrof­fenen Personen aus, sondern auch für die Mitarbeiter*innen der Dienst­lei­stungs­firmen (das Lamm berich­tete). Und auch hier liegt eine Stärke der ORS, die haupt­säch­lich für ihren Erfolg verant­wort­lich ist. „Die Dienst­lei­stungs­an­ge­bote in diesem Markt sind unter­ein­ander vergleichbar“, sagt Hans Klaus. „Als private Firma hingegen bewegen wir uns deut­lich flexi­bler auf dem Arbeits­markt. Dies kommt direkt dem Staat zugute.“

Flexi­bler als etwa die AOZ im Besitz der Stadt: „Als öffent­lich-recht­li­cher Betrieb gilt für die AOZ ein straf­ferer arbeits­recht­li­cher Rahmen“, sagt Klaus. „Wir können schneller Personal aufstocken – und schneller reagieren, wenn die Nach­frage zurück­geht.“ Will heissen: schlech­tere Anstel­lungs­be­din­gungen, dafür mehr Wettbewerbsfähigkeit.

Das verschafft der ORS einen entschei­denden Vorteil, auch bei der aktu­ellen Ausschrei­bung. Denn die Sicher­heits­di­rek­tion verlangt jetzt noch mehr Flexi­bi­lität der Dienst­lei­stungs­firmen. Vor einem Jahr gab der Regie­rungsrat noch an: „Zur Berech­nung der Betriebs­ko­sten­ent­schä­di­gung wird sowohl bei der AOZ als auch bei der ORS von einer Normaus­la­stung von 90%“ ausge­gangen. Gerade aufgrund der schwan­kenden Zahlen im Asyl­be­reich würde das betrieb­liche Risiko nicht auf die Beauf­tragten abgewälzt.

Dieser hehre Vorsatz ist Vergan­gen­heit: Den neuen Ausschrei­bungs­un­ter­lagen ist zu entnehmen, dass neu „pro effek­tiver Bewohner und pro effek­tive Über­nach­tung“ eine Grund­pau­schale ausge­richtet werden wird, wobei der Auftrag­geber nunmehr „eine Mini­mal­ab­gel­tung von 50% der Kapa­zität pro Einzel­ver­trag“ garan­tiert. Es soll also mehr Risiko und noch mehr Verant­wor­tung an die Beauf­tragten ausge­la­gert werden. Das ist eine Verschär­fung, die der ORS in die Hände spielt. Gut möglich, dass sie deshalb auch den Auftrag für die Betrei­bung der DZs allein erhalten und sich gegen die AOZ durch­setzen wird.

Never change a winning team

Ob die ORS die AOZ bei der aktu­ellen Ausschrei­bung tatsäch­lich ausste­chen wird, lässt sich frei­lich nicht mit abso­luter Sicher­heit sagen. Ziem­lich sicher ist jedoch, dass sich kein dritter Anbieter durch­setzen wird. Denn die Sicher­heits­di­rek­tion scheint kein ehrli­ches Inter­esse daran zu haben, mit anderen Part­nern als ORS und AOZ zusam­men­zu­ar­beiten. Firmen, die sich auf den neuen Auftrag bewerben, müssen einen vergleich­baren Refe­renz­auf­trag mit folgenden Eckdaten vorweisen können: nicht älter als 5 Jahre, in der Schweiz erbracht, Auftrags­summe pro Jahr mehr als 350’000 Franken.

Betriebe, die einen solchen Refe­renz­auf­trag vorweisen können, sind gemäss Kennt­nis­stand von das Lamm an einer Hand abzu­zählen. „Es würde mich nicht über­ra­schen, würde der Regie­rungsrat die Anfor­de­rungen so gestalten, dass nur ORS und AOZ wirk­lich als Sieger in Frage kommen“, sagt denn auch die Grünen-Kantons­rätin Kathy Steiner, die sich schon auf parla­men­ta­ri­scher Ebene mit der ORS ausein­an­der­setzte, indem sie dem Regie­rungsrat Fragen zu den entspre­chenden Leistungs­ver­ein­ba­rungen stellte.

Mit der neuen Ausschrei­bung schafft der Regie­rungsrat zudem die Möglich­keit, die Zusam­men­ar­beit mit den Dienst­lei­stungs­un­ter­nehmen noch auszu­bauen. Die sich bewer­benden Firmen müssen nicht nur eine Offerte für den Betrieb der Notun­ter­künfte einrei­chen, sondern auch für einen Shuttle- und einen Cate­ring-Service. Letz­terer für den Fall, dass die 8.50 Franken, die den in den Unter­künften unter­ge­brachten Personen täglich für die Verpfle­gung zur Verfü­gung gestellt werden, in Zukunft in Form von Sach­lei­stungen erbracht werden sollen. Ersterer für den Fall, dass der Kanton sich entscheidet, künftig noch abge­le­ge­nere Unter­künfte als Rück­kehr­zen­tren zur Verfü­gung zu stellen. Wer weiss: Viel­leicht reichen Mario Fehrs „Mass­nahmen unserer konse­quenten Asyl­po­litik“ bald noch weiter. Das Sozi­alamt garan­tiert jedoch nicht, dass die Shuttle-Busse und der Cate­ring-Service auch tatsäch­lich irgend­wann in Anspruch genommen werden.

Wieso so verschwiegen?

All diese Infor­ma­tionen sind dem Regie­rungsrat allem Anschein nach unan­ge­nehm. Ist es normal, dass eine so grosse Ausschrei­bung so wenig Aufmerk­sam­keit erregt? Die Kantons­rätin Kathy Steiner jeden­falls wusste nichts von der Neuaus­schrei­bung, der AL-Gemein­derat Walter Angst eben­falls nicht. Die Sicher­heits­di­rek­tion wolle keine Stel­lung beziehen, teilte eine Juri­stin der Rechts­ab­tei­lung dem Lamm mit Verweis auf das laufende Verfahren mit. Und in den Ausschrei­bungs­un­ter­lagen heisst es: „Der Dienst­lei­stungs­er­bringer bestä­tigt in der Offerte explizit, dass Öffent­lich­keits­ar­beit in Bezug auf diese Leistungs­ver­ein­ba­rung, insbe­son­dere die Bear­bei­tung von Medi­en­an­fragen, nur in expli­ziter Absprache mit dem Auftrag­geber erfolgt.“

Statt­dessen scheint alles darauf ausge­legt zu sein, dass der Betrieb möglichst unauf­fällig und geordnet fort­schreitet. Dass die bewährte Zusam­men­ar­beit mit der ORS weiter­läuft. Und dass die Behörden künftig noch mehr Verant­wor­tung ausla­gern können. Es bleiben derweil unver­än­dert: die meter­dicken Mauern des Bunkers in Urdorf und die Über­wa­chungs­ka­meras, bei denen nicht klar sein soll, wer dahintersteckt.

 


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 30 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1820 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Löse direkt über den Twint-Button ein Soli-Abo für CHF 60 im Jahr!

Ähnliche Artikel