Urdorf, Oberurdorf: Hier liegt ein unterirdischer Zivilschutzbunker, der dem Kanton als „Notunterkunft“ dient. Der Eingang wird von einer Kamera überwacht. Ein langer Gang führt unter die Erde ins Innere des Bunkers, in den Aufenthaltsraum, wo etwa zehn Kühlschränke surren und einzelne Männer auf Tischen schlafen, während fremdsprachige TV-Programme über einen kleinen Bildschirm flimmern. Auch hier ist eine Überwachungskamera angebracht, direkt über den seltsamen Wandverzierungen, die wohl Sonnen imitieren sollten. Denn bis hierhin dringt nichts: weder Sonnenlicht noch Handyempfang noch frische Luft. Es ist fast Mittag, und man merkt es nicht.
Betrieben wird diese Notunterkunft von der ORS Service AG, einem privaten, gewinnorientierten Unternehmen. In der Schweiz betreibt die Firma über 35 Wohnheime, Durchgangszentren und Nothilfestrukturen im Auftrag von Bund, Kantonen und Gemeinden. Sie betreut dabei mit 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über 6000 Asylsuchende pro Tag, wie die Firma auf ihrer Website angibt. Im Auftrag des Kantons Zürich betreibt die ORS unter anderem alle vier kantonalen Notunterkünfte (NUKs).
In diesen NUKs werden Personen untergebracht, die sich eigentlich nicht mehr in der Schweiz aufhalten dürften. In den meisten Fällen, weil ihr Asylgesuch abgelehnt oder darauf gar nicht eingegangen wurde. Das Migrationsamt nennt sie „Personen, die ihr Aufenthaltsrecht im Kanton Zürich verwirkt haben und nicht freiwillig ausreisen“. Sie sollen, unter anderem mit der Unterbringung in NUKs, zur Ausreise bewegt werden. Neu werden die NUKs deshalb „Ausreisezentren“ genannt werden. Der verantwortliche Regierungsrat, Sicherheitsdirektor Mario Fehr, spricht von „Massnahmen unserer konsequenten Asylpolitik“.
Der Auftrag für den Betrieb der kantonalen Unterkünfte wurde neu ausgeschrieben
Der Auftrag für den Betrieb der NUKs wurde jetzt gemeinsam mit dem Auftrag für den Betrieb der kantonalen Durchgangszentren (DZs) per 1. März 2019 neu ausgeschrieben. Zwei DZs werden zurzeit nicht von der ORS betrieben, sondern von der Asylorganisation Zürich AOZ, einem ausgegliederten Betrieb der Stadt Zürich (mehr über die AOZ in diesem Artikel von das Lamm). Die Details der Ausschreibung– etwa das Pflichtenheft –, die den sich bewerbenden Anbietern zur Verfügung gestellt wurden, liegen dem Lamm vor.
Klar ist: Die ORS, der grösste Schweizer Dienstleister im Asylbereich, hat sich auch auf diese Ausschreibung wieder beworben. Und sie kann sich sehr gute Chancen ausrechnen, den Zuschlag erneut zu erhalten. Aber was macht die Zusammenarbeit mit der ORS für die Behörden eigentlich so attraktiv? Was ist das für eine Firma – und wer steckt hinter den Überwachungskameras der NUK Urdorf?
Die ORS – eine Erfolgsgeschichte
Die ORS hat sich seit ihrer Gründung 1992 als grösste Schweizer Dienstleisterin im Bereich von Dienstleistungen für Flüchtlinge und Asylsuchende etabliert. Inzwischen ist die Firma auch in Österreich, Deutschland und Italien tätig. Vor etwas mehr als einem Jahr wurden sowohl die Geschäftsleitung als auch der Verwaltungsrat erneuert. „Die neue Geschäftsleitung brachte viel Dynamik in das Unternehmen“, sagt der Mediensprecher der ORS Hans Klaus. Die ORS-Gesellschaft in Italien ist neu im Aufbau. „Zudem sind weitere Länder im Blickfeld, etwa Spanien oder Länder im südosteuropäischen Raum“, sagt Klaus. Die Bedürfnisse der Flüchtlinge würden sich heute stärker im mediterranen Raum konzentrieren.
In diesem „mediterranen Raum“ verortet die ORS also Möglichkeiten für Wachstum – und diese Möglichkeiten will die Firma nutzen. Denn Wachstum liegt im Interesse ihres Besitzers, dem Londoner Private Equity Fund Equistone. Auf der Webseite von Equistone wird die Beteiligung an der OX Group aufgeführt. „Dabei handelt es sich vermutlich um die OXZ Holding AG in Zürich“, sagt Heidi Hug vom Wirtschaftsinformationsportal Teledata. „Die OXZ Holding wiederum hält die ORS Holding AG.“ Die ORS Holding AG hält die Anteile an den einzelnen Ländergesellschaften, etwa an der ORS Service AG in der Schweiz, sowie an der ORS Management AG, welche die einzelnen Ländergesellschaften leitet.
Hans Klaus bestätigt, dass es sich bei Equistone um den Mehrheitseigentümer der ORS handelt, und er fügt an: „Bei Equistone handelt es sich um professionelle Investoren, die an einer langfristigen positiven Entwicklung ihrer Firmen interessiert sind.“ Zudem sei zu beachten, dass das Kapital nicht Equistone gehöre, sondern wiederum von verschiedenen, auch institutionellen Investor*innen komme, wie zum Beispiel Pensionskassen. Equistone selbst liess via externen Kommunikationsbeauftragten mitteilen, dass sie für ein Gespräch über die ORS nicht zur Verfügung stehe.
Im Annual Review von 2013, dem Jahr als Equistone bei der ORS einstieg, wurde die Investition aber so begründet: „Die OX Group verfügt über vielversprechendes organisches und akquisitorisches Wachstumspotenzial. Das Angebot von ausgelagerten Immigrationsdiensten der Gruppe nimmt aufgrund der stetig wachsenden Zahl von Einwanderern, die nach Europa einreisen, weiter zu.“ (Übersetzung L.T.)
Die Logik des Geschäfts: Verantwortungslosigkeit
Aber auch wenn die ORS weiteres Wachstum anstrebt: Die Zahlen sind sich schon heute beeindruckend. 2016 verzeichnete die Firma laut der Aargauer Zeitung einen Umsatz von 125 Millionen Franken. Der Gewinn liegt laut einem Zitat von ORS-Chef Jürg Rötheli in demselben Artikel im einstelligen Bereich, also zwischen 1,25 und 12,5 Millionen Franken, wie die AZ vorrechnet. Jürg Rötheli war vormals Chef des Medienunternehmens Clear Channel. Gegenüber dem Wirtschaftsmagazin erklärte er damals die Aufgabe eines Managers so: „Als angestellter Manager bin ich verpflichtet, die mir anvertrauten Ressourcen, Mitarbeitende und Kapital, im Interesse der Eigentümer einzusetzen und weiterzuentwickeln.“
Genau darin liegt eine der grossen Stärken der ORS: Als private Firma ist sie scheinbar nur sich selbst und ihren Eigentümern gegenüber verpflichtet. Im Porträt des Co-Geschäftsführers Peter Wenger fragt die NZZ, ob ihn die Einzelschicksale nicht belasten würden. Die Antwort: nicht wirklich. Weil „er und seine Firma in die Verfahren nicht involviert sind und auf die Asylentscheide keinerlei Einfluss haben“. Die ORS ist nur die ausführende Kraft, „der Anbieter von Service-Dienstleistungen“. Darauf kann sie sich berufen, wenn die ORS in die Kritik gerät, weil sie problematische Aufträge von Behörden ausführt.
Den Behörden auf der anderen Seite kommt das gelegen: „Mit der Auslagerung solcher Dienstleistungen lagert der Staat eben auch Verantwortung aus“, sagt Walter Angst, Mitglied der Menschenrechtsorganisation Augenauf und AL-Gemeinderat. Das Problem: Die Verantwortung bleibt damit irgendwo im Limbo hängen. Der Staat gibt sie ab, aber die private Firma nimmt sie nicht an. Es bleiben: die dicken Bunkermauern in Urdorf und die Überwachungskameras, bei denen nicht klar ist, wer dahintersteckt. Der Ursprung der Gewalt, die von diesen Überwachungsmassnahmen ausgeht, wird abstrakt.
Schlechtere Anstellungsbedingungen, mehr Wettbewerbsfähigkeit
Mit dem Auftrag für den Betrieb der Notunterkünfte lagert der Kanton Zürich aber nicht nur Verantwortung für die von ihrer Politik betroffenen Personen aus, sondern auch für die Mitarbeiter*innen der Dienstleistungsfirmen (das Lamm berichtete). Und auch hier liegt eine Stärke der ORS, die hauptsächlich für ihren Erfolg verantwortlich ist. „Die Dienstleistungsangebote in diesem Markt sind untereinander vergleichbar“, sagt Hans Klaus. „Als private Firma hingegen bewegen wir uns deutlich flexibler auf dem Arbeitsmarkt. Dies kommt direkt dem Staat zugute.“
Flexibler als etwa die AOZ im Besitz der Stadt: „Als öffentlich-rechtlicher Betrieb gilt für die AOZ ein strafferer arbeitsrechtlicher Rahmen“, sagt Klaus. „Wir können schneller Personal aufstocken – und schneller reagieren, wenn die Nachfrage zurückgeht.“ Will heissen: schlechtere Anstellungsbedingungen, dafür mehr Wettbewerbsfähigkeit.
Das verschafft der ORS einen entscheidenden Vorteil, auch bei der aktuellen Ausschreibung. Denn die Sicherheitsdirektion verlangt jetzt noch mehr Flexibilität der Dienstleistungsfirmen. Vor einem Jahr gab der Regierungsrat noch an: „Zur Berechnung der Betriebskostenentschädigung wird sowohl bei der AOZ als auch bei der ORS von einer Normauslastung von 90%“ ausgegangen. Gerade aufgrund der schwankenden Zahlen im Asylbereich würde das betriebliche Risiko nicht auf die Beauftragten abgewälzt.
Dieser hehre Vorsatz ist Vergangenheit: Den neuen Ausschreibungsunterlagen ist zu entnehmen, dass neu „pro effektiver Bewohner und pro effektive Übernachtung“ eine Grundpauschale ausgerichtet werden wird, wobei der Auftraggeber nunmehr „eine Minimalabgeltung von 50% der Kapazität pro Einzelvertrag“ garantiert. Es soll also mehr Risiko und noch mehr Verantwortung an die Beauftragten ausgelagert werden. Das ist eine Verschärfung, die der ORS in die Hände spielt. Gut möglich, dass sie deshalb auch den Auftrag für die Betreibung der DZs allein erhalten und sich gegen die AOZ durchsetzen wird.
Never change a winning team
Ob die ORS die AOZ bei der aktuellen Ausschreibung tatsächlich ausstechen wird, lässt sich freilich nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Ziemlich sicher ist jedoch, dass sich kein dritter Anbieter durchsetzen wird. Denn die Sicherheitsdirektion scheint kein ehrliches Interesse daran zu haben, mit anderen Partnern als ORS und AOZ zusammenzuarbeiten. Firmen, die sich auf den neuen Auftrag bewerben, müssen einen vergleichbaren Referenzauftrag mit folgenden Eckdaten vorweisen können: nicht älter als 5 Jahre, in der Schweiz erbracht, Auftragssumme pro Jahr mehr als 350’000 Franken.
Betriebe, die einen solchen Referenzauftrag vorweisen können, sind gemäss Kenntnisstand von das Lamm an einer Hand abzuzählen. „Es würde mich nicht überraschen, würde der Regierungsrat die Anforderungen so gestalten, dass nur ORS und AOZ wirklich als Sieger in Frage kommen“, sagt denn auch die Grünen-Kantonsrätin Kathy Steiner, die sich schon auf parlamentarischer Ebene mit der ORS auseinandersetzte, indem sie dem Regierungsrat Fragen zu den entsprechenden Leistungsvereinbarungen stellte.
Mit der neuen Ausschreibung schafft der Regierungsrat zudem die Möglichkeit, die Zusammenarbeit mit den Dienstleistungsunternehmen noch auszubauen. Die sich bewerbenden Firmen müssen nicht nur eine Offerte für den Betrieb der Notunterkünfte einreichen, sondern auch für einen Shuttle- und einen Catering-Service. Letzterer für den Fall, dass die 8.50 Franken, die den in den Unterkünften untergebrachten Personen täglich für die Verpflegung zur Verfügung gestellt werden, in Zukunft in Form von Sachleistungen erbracht werden sollen. Ersterer für den Fall, dass der Kanton sich entscheidet, künftig noch abgelegenere Unterkünfte als Rückkehrzentren zur Verfügung zu stellen. Wer weiss: Vielleicht reichen Mario Fehrs „Massnahmen unserer konsequenten Asylpolitik“ bald noch weiter. Das Sozialamt garantiert jedoch nicht, dass die Shuttle-Busse und der Catering-Service auch tatsächlich irgendwann in Anspruch genommen werden.
Wieso so verschwiegen?
All diese Informationen sind dem Regierungsrat allem Anschein nach unangenehm. Ist es normal, dass eine so grosse Ausschreibung so wenig Aufmerksamkeit erregt? Die Kantonsrätin Kathy Steiner jedenfalls wusste nichts von der Neuausschreibung, der AL-Gemeinderat Walter Angst ebenfalls nicht. Die Sicherheitsdirektion wolle keine Stellung beziehen, teilte eine Juristin der Rechtsabteilung dem Lamm mit Verweis auf das laufende Verfahren mit. Und in den Ausschreibungsunterlagen heisst es: „Der Dienstleistungserbringer bestätigt in der Offerte explizit, dass Öffentlichkeitsarbeit in Bezug auf diese Leistungsvereinbarung, insbesondere die Bearbeitung von Medienanfragen, nur in expliziter Absprache mit dem Auftraggeber erfolgt.“
Stattdessen scheint alles darauf ausgelegt zu sein, dass der Betrieb möglichst unauffällig und geordnet fortschreitet. Dass die bewährte Zusammenarbeit mit der ORS weiterläuft. Und dass die Behörden künftig noch mehr Verantwortung auslagern können. Es bleiben derweil unverändert: die meterdicken Mauern des Bunkers in Urdorf und die Überwachungskameras, bei denen nicht klar sein soll, wer dahintersteckt.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 30 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1820 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 1050 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 510 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?