Das Lamm: Erdogan verkündete vor wenigen Tagen, dass die Türkei aus der Istanbul-Konvention („Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“) austritt. Welche politischen Ziele verfolgt Erdogan damit?
Meral Çinar: In Erdogans Politik sind Frauen keine selbstständigen Subjekte, sie existieren nur innerhalb der Kernfamilie als Ehefrauen oder Mütter. Gewalt gegen Frauen gibt es gemäss dieser Auslegung nicht, nur Gewalt innerhalb der Familie, welche wiederum Privatsache ist und nicht Sache des Staates.
Erdogan versucht schon länger, Frauen innerhalb der Gesellschaft unsichtbar zu machen und ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu verunmöglichen.
Was wären Beispiele hierfür?
Als unverheiratete Frau eine Abtreibung innerhalb der staatlichen Institutionen zu erhalten, ist praktisch unmöglich. Im Bereich des Scheidungsrechts hat Erdogan eine Mediationsgruppe geschaffen mit dem Ziel, dass weniger geschieden und mehr geschlichtet werden soll, was wiederum die Scheidungsmöglichkeit gerade für Frauen erschwert. In seinen Reden spricht er immer wieder von drei Kindern pro Frau als Minimalanforderung und das Frauen- und Familienministerium liess er zum Familienministerium umbenennen. Der Austritt aus der Istanbul-Konvention war entsprechend leider absehbar.
Erdogans Sprecher begründete den Austritt damit, dass die Istanbul-Konvention missbraucht worden sei, um Homosexualität zu normalisieren. Ein Vorwand?
Eigentlich gibt es hier keinen Zusammenhang, denn in der Istanbul-Konvention steht lediglich, dass Menschen jeder sexuellen Orientierung vor Gewalt zu schützen seien. Die türkische Gesellschaft ist in Teilen stark homophob, und da Erdogan nicht hinstehen und sagen kann, er wolle keine Frauen mehr schützen, zielt er eben auf die LGBTQI-Gemeinschaft. Diese ist in den letzten Jahren zunehmend erstarkt und lauter geworden, was unter anderem dazu geführt hatte, dass Erdogan 2015 die Pride in Istanbul verbieten liess. Auch bei den aktuellen Aufständen an der Bosporus-Universität wurden Menschen verhaftet, weil sie Regenbogenfahnen trugen.
Obwohl die Konvention also im Kern nichts damit zu tun hat, verkauft Erdogan seinen Anhänger:innen die Sichtweise, dass mit einem Austritt aus der Konvention diesem queeren Treiben ein Ende gesetzt werden könnte.
Nicht nur die Selbstbestimmungsbestrebungen von Frauen sind Erdogan also ein Dorn im Auge?
Erdogan strebt etwas an, was wir Aktivist:innen als heteropatriarchalen Putsch bezeichnen. Ihm geht es darum, sowohl LGBTQI-Personen als auch Frauen zu entrechten. Seit die AKP an der Macht ist, setzt die Partei auf die Wichtigkeit der Kernfamilie für die Nation. Diese Kernfamilie besteht gemäss Erdogan und seinen Leuten nun mal aus Mann, Frau und Kindern.
Meral Çinar floh vor fünf Jahren aus politischen Gründen aus der Türkei, wo mehrere politisch motivierte Prozesse aufgrund ihrer journalistischen Tätigkeiten und politischen Aktivitäten gegen sie laufen. In der Schweiz setzt sich Meral Çinar für die Rechte Geflüchteter und migrantischer Frauen ein und engagiert sich feministisch.
Wieso ist Erdogan der Konvention denn überhaupt beigetreten?
Erdogan schielt ja schon länger auf einen EU-Beitritt der Türkei und bemühte sich eine Zeit lang entsprechend darum, nach aussen das Bild eines demokratischen Staates abzugeben. Der Beitritt zur Istanbul-Konvention 2011 kann in diesem Kontext gelesen werden. Auf der anderen Seite war der Beitritt auch eine Errungenschaft der feministischen Bewegung in der Türkei. Im Vorfeld war der Druck von dieser Seite so stark gewachsen, dass sich die Regierung nicht um einen Beitritt foutieren konnte.
Warum hat Erdogan die Konvention denn gerade jetzt aufgekündigt? Es scheinen ja klar widersprüchliche Interessen von Innen- und Aussenpolitik auf dem Spiel zu stehen.
Damals wurde der Beitritt zur Konvention vom Parlament beschlossen, was der normale Weg für internationale Abkommen wäre. Jetzt hat Erdogan die Konvention als Präsident unilateral und verfassungswidrig aufgekündigt. Die Unterzeichnung der Konvention fällt in die Zeit der Gezi-Proteste, als die feministische und linke Bewegung als solche gerade im Aufwind war. Der Beitritt kam vor dem Hintergrund der schwellenden Proteste einer Befriedung von Protestierenden gegen innen und der EU gegen aussen nahe. Aber der EU-Beitritt ist mittlerweile vom Tisch.
Fast zeitgleich mit dem Austritt leitete Erdogan auch ein Verbotsverfahren gegen die pro-kurdische HDP ein. Ein Zufall?
Wohl kaum. Die pro-kurdische und die Frauenbewegung sind die beiden stärksten oppositionellen Bewegungen im Land. Erdogan greift also dort an, wo er eine Bedrohung für seine Machtsicherung sieht.
Es gab bereits vor Erdogans Austritt viel Gewalt an Frauen und zahlreiche Femizide in der Türkei, Frauenhäuser etwa sind rar. Was bedeutet die Aufkündigung nun ganz konkret für die Frauen im Land?
Ich bin überzeugt, dass die Gewalt an Frauen noch weiter zunehmen wird. In den ersten zwölf Stunden nach Erdogans Austrittserklärung wurden sechs Frauen ermordet. Eine öffentliche Abwertung der Konvention und somit des Frauenschutzes gibt den Tätern ja auch eine gewisse Legitimation. Natürlich sind das Männer, die wohl vorher nie wirklich etwas von der Istanbul-Konvention gehört hatten. Aber bereits die Ankündigung des geplanten Austritts ging dermassen viral, dass das Thema plötzlich auf den Strassen diskutiert wurde. Für viele Männer ist der Austritt nun in gewisser Weise auch eine Bestätigung ihrer Übermacht innerhalb der Gesellschaft.
Wie steht es momentan um die Frauenbewegung in der Türkei?
Seit dem Bekanntwerden von Erdogans Plänen gibt es jedes Wochenende im ganzen Land Demonstrationen. Unter der Woche gehen die Feministinnen in die Wohnquartiere und informieren andere Frauen über die Bedeutung der Konvention und versuchen für den Widerstand zu mobilisieren. Dabei werden die Frauen von der LGBTQI-Bewegung unterstützt. Die beiden Bewegungen sind seit Jahren eng miteinander verflochten und agieren gemeinsam. Auch Männer solidarisieren sich. Viele sehen die Aufkündigung nicht nur als Angriff gegen die Frauen, sondern als Angriff auf die liberale Demokratie per se.
Zahlreiche europäische Staatschef:innen empörten sich öffentlich über Erdogans Ankündigung, viel mehr ist bisher nicht passiert. Hat Europa nach dem Flüchtlingsabkommen mit Erdogan denn überhaupt noch einen Hebel gegen die Türkei?
Symbolisch wird noch vieles verurteilt, was in der Türkei passiert. Für Erdogan sind das aber nur Worte, die er entsprechend wenig ernst nimmt. Die EU handelt im Endeffekt anhand ihrer eigenen politischen Interessen, und die Türkei hat mit dem Flüchtlingsabkommen nun mal etwas gegen die EU in der Hand.
Ganz ehrlich, ich habe wenig Erwartungen an die EU. An die Schweiz übrigens auch nicht. Auch hier wurde die Istanbul-Konvention 2018 ratifiziert und was passiert? Zehn Frauen versammeln sich auf dem Helvetiaplatz, um gegen Femizide zu protestieren und sie werden von der Polizei angegangen. Das ist ja kaum eine Vorbildfunktion, wie soll man da denn andere glaubwürdig verurteilen?
Das sind düstere Aussichten.
Wenn sich etwas verändern soll, dann muss das innerhalb der Türkei passieren, von innen heraus. Die Gesellschaft muss sich wandeln und erkennen, dass es Alternativen zu Erdogan und zu seiner autokratischen, rückwärtsgewandten Politik gibt. Es braucht ein Zusammenkommen wie damals bei den Gezi-Protesten 2013, eine starke Opposition mit einem kleinsten gemeinsamen Nenner. Ich bin überzeugt, dass die Frauen und die LGBTQI-Bewegung diesen Wandel vorantreiben und tragen werden.
Das Gespräch gedolmetscht hat Çağdaş Akkaya
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