„Ich habe immer schon so geheissen, das ist kein Künstlername!“
Anna Rosenwasser lacht laut und schallend, Zurückhaltung liegt der 29-Jährigen nicht. Rosenwasser weiss sich zu inszenieren, sie weiss, was sie wie sagen muss, wann es besser ist zu schweigen, wo rhetorische Pausen angebracht sind. Die über 10 Jahre im Journalismus merkt man ihr auch bei der Wortwahl an, so präzise wie nötig, so verständlich wie möglich. Manchmal klingt das alles fast nach Werbebroschüre, druckreifes Zitat reiht sich an druckreifes Zitat („Wir können nicht einfach anrufen, so, wie es die SP macht. Junge Menschen hassen das Telefonieren. Deswegen schreiben wir WhatsApps-Nachrichten“). Manchmal, etwa wenn sie von Katzen oder ihrem Privatleben spricht („Ich habe wirklich gerne Katzen, ich trinke wirklich gerne Tee und ich tanze wirklich gerne zu schlechtem Pop“), schlägt ihre Stimme ins Kindliche um, ehrliche Begeisterung äussert sie in beiden Bereichen.
An den Nationalratswahlen vom 20. Oktober kandidiert die gebürtige Schaffhauserin auf dem Listenplatz 2 der Juso Zürich. Es sei ein gutes Jahr, um zu kandidieren: „Ich finde es fantastisch, dass die Parlamentswahlen in diesem Jahr stattfinden, in dem der Frauenstreik eine halbe Million Menschen auf die Strasse gelockt und die Klimabewegung viele Junge politisiert hat.“ Wichtig sei es nun für die frisch politisierten Jungen zu merken, dass Individuallösungen nicht ausreichen. „Es braucht einen Systemwandel.“ Das klingt radikal, könnte jedoch laut Rosenwasser auf fruchtbaren Boden treffen. „In diesem Jahr wurde wieder deutlich, dass es konservative Politiker gibt, die denken, dass der Klimawandel nicht existiert. Der Frauenstreik hat dem ganzen Land spürbar gemacht, wie sexistisch die Schweiz heute noch ist. Das ist ein verdammt gutes Timing für die Parlamentswahlen.“
Keine Spur von Politblues
Im Gespräch macht Anna Rosenwasser deutlich, worum es ihr bei ihrer Kandidatur geht: nicht darum, gewählt zu werden – als Kandidierende der Juso wäre das ohnehin ein Novum –, sondern darum, neue Wähler*innen zu mobilisieren: „Mein Fokus liegt auf Erstwähler*innen und Menschen, bei denen die Wahlunterlagen bisher im Altpapier gelandet sind. Leute, die feministisch sind, Menschen, die queere Rechte und Themen im Parlament sehen wollen.“ Rosenwasser, jahrelang aktives Mitglied der Milchjugend sowie Mitbegründerin des queeren Schaffhauser Treffs „Andersh“ kämpft in erster Linie gegen die Lethargie und Politikverdrossenheit vieler Jungen. Wer der 29-Jährigen mit ihren kurzen farbigen Haaren und rot geschminkten Lippen zuhört, ihrer aufgestellten und motivierenden Art, spürt allerdings wenig vom vielbeschworenen Politblues.
Worauf führt sie also diese Lethargie bei jungen Menschen zurück? „Ich würde die Schuld auch dem Kapitalismus geben“, sagt Rosenwasser. „Er führt dazu, dass wir für vieles, was schiefläuft, unser individuelles Versagen verantwortlich machen.“ Selbstoptimierung und Konsum würden auf Dauer apolitisch machen, ist sie überzeugt. „Das sehe ich auch ganz oft bei Queers: Viele denken, dass die Diskriminierungen und Ausgrenzungen, die sie erleben, im Endeffekt ihr persönliches Versagen seien und mit etwas mehr Selbstsicherheit lösbar wären.“ Anna Rosenwasser will den Fokus auf die grösseren Zusammenhänge lenken; strukturelle Diskriminierung, fehlende Bildung und Aufklärung, eine oft untätige Politik. Junge Menschen dürften nicht dem Eindruck verfallen, alles immer selbst ausfechten zu müssen und an allem selbst schuld zu sein. Wer alle Fehler bei sich sucht und das grössere Bild aus den Augen verliert, der werde nicht nur apolitisch und lethargisch, sondern auch frustriert.
„Politik klingt oft nach Im-Anzug-im-Bundeshaus-sitzen“
Anna Rosenwasser spricht aus Erfahrung: „Ich habe mich selbst lange nicht als politisches Subjekt wahrgenommen.“ Der grössere Kontext ihrer Diskriminierung habe sich ihr vergleichsweise spät erschlossen: „Ich habe mir unter Politik oft das vorgestellt, was ich jetzt mache: über Dinge zu reden wie Konkordanz oder Stimmbeteiligung. Dabei ist Politik auch sehr viel anderes. Vieles, was uns passiert im Leben, fühlt sich sehr individuell an, ist aber hochpolitisch und Teil von etwas Grösserem, das eben von alten Männern im Bundeshaus bestimmt wird.“

Es sind diese alten Männer im Anzug, die gemäss Rosenwasser Ende letzte Session einen „massiv lesbenfeindlichen“ Entscheid gefällt haben, indem sie einen Antrag über Samenspende für lesbische Paare aus dem Gesetzespaket der Ehe für alle ausschlossen. So sehr dies Rosenwasser auch frustriert: Diese Wut ist politisch verwertbar: „Das nächste Mal, wenn das Parlament über die Ehe für alle diskutieren wird, wird es das Parlament sein, das wir gewählt haben. Diese Message möchte ich auch in meinem Wahlkampf vermitteln.“
Queer, feministisch und gleichberechtigt – das ist Rosenwassers politisches Programm in drei Worten. In Themen hiesse das dann: Ehe für alle, Diskriminierungsschutz, Repräsentation.
Das ist monothematisch – und wenig systemisch: Keines dieser Themen handelt von Umverteilung, Steuergerechtigkeit oder internationalen Beziehungen. Und obwohl Rosenwasser in gekonnter Juso-Manier oft und viel den Kapitalismus als Übel kritisiert, scheint sie ihm thematisch wenig entgegensetzen zu können.
„Der Grund, weswegen ich keine ökonomische Revolution erwähne, ist, dass ökonomische Revolutionen nicht mein Fachgebiet sind.“ So orientiere sie sich bei ökonomischen Themen lieber an der Parteilinie. Sie sei deswegen aber keine Ein-Thema-Politikerin: „Ich habe auch Haltungen zu Themen, die nicht LGBTQ sind.“ Etwa bei der Migrations-und Asylpolitik, wo sie sich unter anderem aktiv dafür einsetze, dass sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität als Fluchtgrund anerkannt werden. „Ich verstehe aber, dass ich uninteressant bin für Menschen, die andere Prioritäten haben. Aber das macht mich nicht unwählbar, sondern zu einer Fachperson“, ist Rosenwasser überzeugt.
„Es kann andere Gründe haben, sich auf 18 zu freuen, als das Saufen“
Der Juso ist Rosenwasser, die mit ihren 29 Jahren auch in die SP gepasst hätte, vor nicht einmal einem Jahr beigetreten. Nun steht sie auf dem zweiten Listenplatz. Hätten das andere nicht mehr verdient? „Ich stehe weit oben, weil wir uns davon eine starke Mobilisierung erhoffen, mit meinen Aktivitäten und meiner Person kann ich sehr viele Menschen erreichen.“ Sie will aufzeigen, dass es andere Gründe geben kann, sich auf 18 zu freuen, als zu saufen und vermitteln, dass Feminismus mehr ist als ein cooler Spruch unter einem Instagram-Foto.
„Aber wenn man mir sagt, ich hätte es nicht verdient, dann streite ich das nicht ab.“ Anna Rosenwasser war noch nie Unterschriften sammeln oder Plakate kleben, stattdessen nimmt sie an Podien teil und gibt interne Workshops.
„Es ist nicht mein Ziel, die Meinung von Rechten zu ändern“
Aber auch wenn Rosenwasser im Wahkampf viel auf Social Media aktiv ist und innerhalb ihrer Bubble zu den Bekehrten predigt: Sie scheut handfestere politische Grabenkämpfe nicht. So diskutierte sie etwa für einen Videobeitrag mit dem erzkonservativen SVPler und Vereinspräsidenten des Marschs fürs Läbe Daniel Regli oder stritt sich für einen Beitrag mit dem Präsidenten der JSVP Benjamin Fischer. Das Schwierige an solchen Diskussionen sei jeweils, dass zwei Positionen medial als gleichwertige Optionen ausgelegt werden – und oft auch als gleich extrem. „Ich sagte, dass Homosexuelle ein Recht auf Leben haben und Regli sagte, dass ‚solches Fehlverhalten korrigiert werden sollte‘. Das sind nicht einfach zwei legitime Pole einer Debatte.“ Anna Rosenwasser schüttelt fragend den Kopf.
„Soll ich mich solchen Unterhaltungen verweigern und sie boykottieren? Momentan entscheide ich mich aber dafür, gehört zu werden, was auch dazu führen kann, dass die Normalisierung von faschistoiden Haltungen nicht gebremst wird.“ Und schliesslich liege ihr Fokus auch nicht darauf, rechte Menschen zu überzeugen: „Ich kann innerhalb einer einstündigen Diskussion nicht erreichen, dass mich ein eingesessener Rechter ernst nimmt – aber ich kann erreichen, dass mich die Zuhörer*innen ernst nehmen.“
Das zieht sich durch das ganze politische Wirken von Rosenwasser: mobilisieren, agitieren, an die Urne bringen. Das klingt vielversprechend. Doch was kann sie den eigentlich bezwecken, die Juso? „Die Juso hat keinen Sitz im Parlament. Aber sie kann Menschen herausbringen, die dann ins Parlament gehen. Menschen wie Funiciello, Lempert, Marti, Molina, Wermuth.“
Wird sie die Nächste sein? Anna Rosenwasser winkt ab: Sie arbeite während des Wahlkampfs im gleichen Pensum für die LOS weiter. „Ich bin von Herzen immer noch viel mehr Journalistin als Politikerin – aber politische Journalistin.“ Am Tag des Gesprächs erscheint ein Text von Rosenwasser auf Vice Alps: über die Samenspende. Bei Anna Rosenwasser sind die Grenzen fliessend. Sie sei eben ein durch und durch politischer Mensch, nicht bloss eine Politikerin.
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