Die AHV ist ein bisschen wie Roger Federer. Schon tausende Expert*innen und Journalist*innen haben das Ende der Ära vorhergesagt, und jedes Mal, wenn das bittere Ende doch nicht eintrifft, verstummen sie klammheimlich.
Und doch: Laut dem neusten Sorgenbarometer zerbrechen sich mehr Schweizer*innen den Kopf über ihre Altersvorsorge als über den Klimawandel.
Warum ist die Angst um die Altersvorsorge seit Jahrzehnten so verbreitet? Eine Episode von vor 21 Jahren könnte Aufschluss geben. Damals wagten FDP, CVP und SVP eine riskante Prognose zur Zukunft der AHV. Im Jahr 2020 drohe dem Sozialwerk eine Fehlfinanzierung von bis zu 100 Milliarden Franken, verkündeten die Vertreter*innen der bürgerlichen Bundesratsparteien damals an einer Pressekonferenz.
Laut den neusten Zahlen des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) lagen sie damit rund 100 Milliarden daneben. Oder anders gesagt: Die AHV ist heute in besserer Form als 1998.
Was ist passiert?
Ab wann wird eine Ungenauigkeit zur Manipulation?
Diese Frage richtet sich an Martin Wechsler, einen der beiden Sozialversicherungsexperten, auf deren Studie aus dem Jahr 1993 sich die Prognose der bürgerlichen Parteien damals stützte. „Ich habe die Fragen eigentlich schon erwartet”, meint Wechsler im Interview mit das Lamm. Er habe die Differenz selber auch bemerkt und sich auf die Suche nach den Gründen dafür gemacht. „Es gibt zwei Erklärungen dafür: Zum einen gibt es bei solchen Perspektivenrechnungen immer natürliche Differenzen, die man nicht vorhersehen kann. Zum anderen wurden in den mehr als 25 Jahren seit dieser Prognose wichtige Änderungen in der AHV vorgenommen, etwa die Erhöhung des Frauenrentenalters oder des Bundesbeitrags.”
Das Beitrags- und Leistungssystem der AHV finanziert sich grundsätzlich über drei Arten. Arbeitnehmer*innen und ‑geber*innen zahlen Beträge auf die ausgezahlten Löhne. Sie machen fast 3/4 der Einnahmen aus. Weitere rund 20% der Ausgaben werden durch die Bundessteuern berappt. Der Rest kommt aus der Mehrwertsteuer und von Spielbankenabgaben. All diese Einnahmen werden unmittelbar zur Finanzierung der Rentenansprüche verwendet und nicht – wie bei der Pensionskasse – angelegt. Dieses Verfahren nennt man Umlageverfahren.
Wenn Wechsler also von unvorhersehbaren, natürlichen Differenzen spricht, meint er die Lohnbeiträge. Entwickelt sich die Wirtschaft besser als erwartet, steigen im Idealfall die Löhne. Auf diese sind dann höhere Beiträge fällig. Auf Anfrage nennen sowohl SVP, CVP und FDP das Wirtschaftswachstum als einen der Hauptgründe für die Fehlprognose.
Nur: Das alleine kann die Differenz von rund 100 Milliarden nicht erklären, gibt auch der Sozialversicherungsexperte Wechsler zu. „Das ist nur die kleinere Abweichung.” Deswegen spricht er die Erhöhung des Frauenrentenalters von 62 auf 64 sowie die Einführung des Mehrwertsteuerprozents an. „Diese Massnahmen hatten einen positiven Einfluss auf die Finanzrechnung der AHV.”
Kann so die Differenz erklärt werden? Nur zum Teil. Die Einführung des Mehrwertsteuerprozents 1999 und der Spielbankenabgabe 2002 hatten natürlich einen positiven Effekt auf den AHV-Haushalt; mit rund 6% an den gesamten Einnahmen aber einen sehr überschaubaren. Der wohl wichtigste Grund, den FDP und SVP sowie Wechsler anführen, ist die stufenweise Erhöhung des Frauenrentenalters 2001 auf 63 und 2005 auf 64. Den Entscheid dafür fällte die Stimmbevölkerung aber bereits im Juni 1995 mit der 10. AHV-Revision. Das war drei Jahre vor der Pressekonferenz, an der Wechsler an der Seite der CVP, FDP und SVP vor dem drohenden Milliardenloch warnte. Als Erklärung dafür, warum ihre Prognose rund 100 Milliarden daneben lag, taugt das also auch nicht. 1998 hätte man den Effekt bereits vorhersehen können.
Die CVP verweist als einzige der angefragten Parteien noch auf das Abkommen über den freien Personenverkehr (FZA) zwischen der Schweiz und der EU als Teil der Erklärung der Differenz. „Es sind viel mehr Personen in den Schweizer Arbeitsmarkt eingewandert, als vorausgesagt worden ist.” Und tatsächlich: Laut einer aktuellen Studie bedeutet jeder zugewanderte Haushalt im Durchschnitt 729 Franken pro Monat mehr in der AHV-Bilanz. Den Gesamteffekt hat das BSV für das Jahr 2015 auf 3.6 Milliarden berechnet. Wir verdanken der Zuwanderung also einen substanziellen Beitrag an die AHV-Finanzen. Aber selbst wenn dieser in den letzten Jahren weiter gestiegen ist, erklärt er weniger als 5% der Fehlprognose.
Wie man es auch dreht und wendet: Die Zahlen, die die bürgerlichen Bundesratsparteien und ihre Sozialversicherungsexperten präsentierten, waren veraltet und falsch. Darauf wiesen das BSV und die Gewerkschaften bereits damals hin – ihr Vorwurf hat sich aus heutiger Sicht bestätigt.
Eine Politik der Horrorszenarien
Es gibt für diese vermurkste Prognose eigentlich nur zwei mögliche Erklärungen. Entweder haben die bürgerlichen Parteien – trotz widersprüchlicher Zahlen von Experten des Bundes – tatsächlich an die drohenden 100 Milliarden Franken Fehlfinanzierung geglaubt. Oder sie haben bewusst falsche Zahlen politisch instrumentalisiert, um einen Sozialabbau in der Zukunft zu legitimieren. Beide Möglichkeiten werfen ein ungünstiges Licht auf die beteiligten Akteure.
Prognosen sollten also als das behandelt werden, was sie sind: ein sehr ungenauer Blick in die Zukunft. Natürlich spielen sie eine Rolle in der politischen Entscheidungsfindung. Aber die AHV ist ein hochkomplexes System, viele der entscheidenden Faktoren (Konjunkturentwicklung, Zuwanderung, Beschäftigungsgrad etc.) sind kaum ein bis zwei Jahre im Voraus abschätzbar. So sagte das BSV in den letzten elf Jahren jeweils ein Defizit im kommenden Jahr voraus; nur gerade drei Mal lag es damit richtig. Wie sollen unter diesen Vorzeichen nur annähernd genaue Vorhersagen über Jahrzehnte möglich sein?
Das Problem ist aber nicht die Ungenauigkeit, sondern wie sie politisch und medial ausgeschlachtet wird. Anstatt die Komplexität und die überraschende Gesundheit der AHV zu betonen oder Politiker*innen mit nicht eingetroffenen Vorhersagen zu konfrontieren, jagt eine Krisenmeldung die nächste. Das entspricht der inneren Logik der Tageszeitungen. Und da Journalist*innen – trotz Zugang zur Schweizer Mediendatenbank – selten bereits Geschriebenes im Nachhinein überprüfen und kontextualisieren, werden sie unbewusst Teil des Medienphänomens AHV.
Ein Beispiel gefällig? Bei der Lancierung der Renteninitiative der Jungfreisinnigen prophezeite Patrick Eugster, Präsident des Initiativkomitees, dass 2050 aufgrund der demographischen Entwicklung nur noch zwei Beitragszahler*innen auf jede*n Renter*in kommen. Klingt ernst. Aber ist eine solche Prognose über 30 Jahre hinaus wirklich eine gute Entscheidungsgrundlage, um das Rentenalter noch weiter zu erhöhen? Eine Frage, die die Jungfreisinnigen bis anhin nicht beantworten mussten. (Auf die Anfrage von das Lamm schreibt Präsident Andri Silberschmidt: „Die Rentenaltererhöhung ist unabhängig von der AHV-Prognose zwingend.”)
Die daraus resultierende Dauerkrisenstimmung verengt den Diskurs. So wird der Diskussion, ob die Finanzierung der AHV über Lohnbeiträge überhaupt noch den gesellschaftlichen und finanzpolitischen Realitäten entspricht, kaum Platz gegeben. Stattdessen heisst es, dass Änderungen jetzt und sofort her müssten, über strukturelle Änderungen wie eine Finanztransaktions- oder Vermögenssteuer können wir dann sprechen, wenn wieder Normalität eingekehrt ist.
Also nie.
Neue Studien zur Zukunft der AHV bis ins Jahr 2045 haben bereits wieder eine Vielzahl an Reformvorschlägen hervorgebracht: von der Renteninitiative der Jungfreisinnigen über eine Gewinnausschüttung der Nationalbank bis hin zur Rentenaltererhöhung für Frauen. Wirklich grundsätzlich ändert aber keiner der vorgebrachten Vorschläge etwas am Umlageverfahren. Sie alle spielen aber wieder mit der Angst vor der drohenden AHV-Katastrophe. Dabei zeigt uns ein Blick in die Vergangenheit: Es wäre genügend Zeit für eine ausführliche Diskussion vorhanden, wie die AHV in Zukunft solidarisch finanziert werden kann. Man muss ihr nur den medialen und politischen Raum dafür geben.
Trotz all der Kritik sei zum Schluss aber trotzdem eine Prognose gewagt: 2045 gibt es die AHV immer noch – und Roger Federer ist (vermutlich) pensioniert.
Transparenz: Der Autor sitzt für eine regionale Jungpartei im Gemeindeparlament von Olten in einer Fraktion mit der SP. Er ist aber weder Mitglied der SP Schweiz noch der SP Olten.
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