„2020 war für mich noch ganz okay“, sagt Marie Alexis im typischen Lockdown-Interview via Zoom. Sie ist Vorstandsmitglied der TanzLOBBY IG Tanz Zürich, die sich seit den 80er Jahren für die freie Tanzszene einsetzt. „Im vergangenen Jahr habe ich mich noch mit Nebenprojekten und einem Forschungsstipendium über Wasser gehalten. Für die nächsten zwei Jahre sehe ich aber ziemlich schwarz.“
Wie Marie geht es vielen freien Kulturschaffenden in der Schweiz. Die Theater und Tanzräume sind zu, Konzerte fallen aus, Projekte werden abgesagt oder gar nicht erst aufgegleist. „Viele hatten schon 2020 kaum oder gar kein Einkommen“, sagt Marie. „Am Ende sind sie dann auf dem RAV gelandet.“
Gerade dort fällt es freien Künstler:innen aber oft schwer, ihr Einkommen aus ständig wechselnden Anstellungsverhältnissen und projektbezogener Arbeit zu dokumentieren. Sie kämpfen mit hohem bürokratischen Aufwand, ohne am Ende eine angemessene Entschädigung zu bekommen. „Und wenn sie dann noch gezwungen werden, berufsfremde Jobangebote anzunehmen, sind sie blockiert, sollte doch wieder ein Projekt reinkommen.“
Eine Abwärtsspirale ins berufliche Aus, die nicht nur Existenzen zerstört, sondern die Kulturlandschaft der Schweiz als Ganzes gefährdet.
Unbürokratisch aber nicht bedingungslos
Um dem entgegenzuwirken und freien Künstler:innen unbürokratisch zu helfen, gehen die Kantone Basel und Zürich nun eigene Wege. Sogenannte pauschalisierte Ausfallentschädigungen sollen es richten. Diese sind unkompliziert zu beantragen und nicht ans individuelle Einkommen gekoppelt.
In Zürich hat SP-Regierungsrätin Jacqueline Fehr ihr eigenes Modell mit dem Namen „Ersatzeinkommen“ in die Diskussion eingebracht. Selbständige professionelle Kulturschaffende sollen rückwirkend ab Dezember 80% eines fiktiven Durchschnittseinkommens von 4800 Franken erhalten. Etwa 3800 Franken würden direkt auf den Konten der Betroffenen landen, abzüglich anderer Einnahmen und Unterstützungsgelder.
„Das sorgt dafür, dass geringverdienende Kulturschaffende überleben können“, schreibt Jaqueline Fehr dazu auf ihrem Blog.
Weil der nötige Betrag aber zum Teil vom Bund entrichtet werden muss, stellte sich das Bundesamt für Kultur (BAK) zunächst quer. Nicht kompatibel mit dem Covid-19-Gesetz von 2020, hiess es. Die pauschale Ausfallentschädigung war fürs erste blockiert.
Anders in Basel: Hier können sich freischaffende Künstler:innen seit Ende Februar um ein Tagegeld von maximal 98 Franken bewerben. Beantragt werden kann die Unterstützung bis 31. Mai 2021 auch rückwirkend für die sechs Monate zwischen November 2020 und April 2021.
Wenig Bürokratie für wenig Geld
Johanna Heusser, Tänzerin und Choreografin aus Basel, hat den Antrag schon gestellt. Zumindest das Versprechen von weniger Bürokratie scheint er zu halten: „Zuerst hatte ich Angst, dass es wieder so kompliziert werden würde“, sagt sie. „Aber dann musste ich tatsächlich nur die Lohnausweise und den Steuerbescheid einreichen.“
Wenn alles glatt läuft, kann die Performerin mit den vollen 98 Franken pro Tag rechnen. Dies würde zu einem Einkommen von knapp 3000 Franken im Monat führen. Ein spärlicher Betrag, der aber für die freie Künstler:in überlebenswichtig ist. „Ich muss im Schnitt mit 17000 bis 18000 Franken pro Jahr auskommen.“ Von diesen ohnehin geringen Einnahmen sind ihr in der Pandemie nochmal etwa 700 Franken pro Monat weggebrochen.
Damit wird auch deutlich, um welche Dimensionen es geht, wenn Unterstützungsmassnahmen blockiert werden.
Um die Züricher Blockade zu lösen, hat Jaqueline Fehr ein eigenes Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Jurist Felix Uhlmann von der Uni Zürich kommt darin zum Schluss, dass das Covid-19-Gesetz von 2020 keineswegs eine exakte Berechnung der Ausfälle fordert. „Das Gesetz“, schreibt Uhlmann, „lässt dem Bundesrat ausreichenden Spielraum, um Verordnungsgrundlagen zu schaffen, die mit einem stark pauschalisierten Entschädigungsmodell kompatibel sind.“ Das Bundesamt für Justiz hat das Gutachten geprüft und für valide befunden.
Trotzdem verweigert der Bund weiterhin eine Beteiligung, weshalb der Züricher Regierungsrat das Heft nun selbst in die Hand genommen hat. Während einer ersten Phase wird die pauschalisierte Ausfallentschädigung komplett vom Kanton finanziert. Das Gesuchsportal auf der Seite der Fachstelle Kultur ist bereits freigeschaltet.
Selbständig oder freischaffend?
Aber auch wenn Anträge jetzt gestellt werden können, bleibt das Zürcher Modell in einem wichtigen Punkt hinter seinem Basler Pendant zurück. Es erfasst nur die wirklich selbständig Beschäftigten. Also Künstler:innen, die auf eigene Rechnung arbeiten und die Sozialversicherung ohne externe Arbeitgeber:innen abrechnen.
Marie Alexis weiss aus ihrem Engagement bei der TanzLOBBY, dass viele der bedürftigen Künstler:innen gar nicht unter diese Kategorie fallen. Sie arbeiten zwar frei und mit hohem persönlichem Risiko, sind aber keine Selbständigen, sondern sogenannte Freischaffende.
„Meine Erfahrung ist, dass der Grossteil entweder freischaffend ist oder in Mischformen arbeitet, das heisst, einerseits selbständig gemeldet ist, sich andererseits aber auch immer wieder für Projekte anstellen lässt. Darum macht es nicht viel Sinn, mit der Unterstützung nur die Selbständigen abzudecken.“
Der Unterschied ist für Künstler:innen im Alltag oft kaum erkennbar. Selbständige wie Freischaffende hangeln sich ohne grosse Absicherung von Projekt zu Projekt. Einziger Unterschied: Selbständige schreiben eine Rechnung, während die Freischaffenden jeweils für kurze Zeit angestellt werden. Die sehr kurzen Anstellungsverhältnisse ändern jedoch wenig am beruflichen Risiko. Auch Freischaffende sind in der Krise im Wesentlichen auf sich gestellt.
„Von den Leuten, mit denen ich zusammenarbeite, sind vielleicht 15 bis 20 Prozent wirklich selbständig. Der Rest ist freischaffend“, schätzt Marie. Dies würde bedeuten, dass 80 Prozent zumindest der freien Tanz- und Theaterschaffenden von der pauschalisierten Ausfallentschädigung von vornherein ausgeschlossen sind. Und weil ihre Projekte oft ganz ausfallen, profitieren sie auch nicht vom Kurzarbeitsgeld. Die Abwärtsspirale geht weiter. Am Ende winkt wieder das RAV oder sogar das Sozialamt.
Basel geht neue Wege
Basel scheint dieses Problem zumindest erkannt zu haben. In der offiziellen Verlautbarung zum Tagegeld heisst es, eine Gesuchsteller:in ist „entweder selbständigerwerbend oder übt eine Kombination aus selbständiger und angestellter Tätigkeit aus oder ist unselbständig freischaffend tätig. Darunter versteht man Personen, die in Kurzzeitarbeitsverhältnissen projektbezogene Tätigkeiten mit häufig wechselnden Arbeitgebern ausüben.“
Die Definition mag etwas sperrig daherkommen, trifft aber auf die tatsächlichen Beschäftigungsverhätnisse in der freien Kunst- und Kulturszene zu. Das Basler Vorgehen könnte daher für die gesamte Schweiz beispielhaft werden und auch über die Pandemie hinaus Wirkung zeigen. Denn viele sozialstaatliche Massnahmen zielen nach wie vor an der Lebens- und Arbeitsrealität von freien Künstler:innen vorbei.
Dass Basel sich so fortschrittlich geben kann, liegt unter anderem am Finanzierungsmodell. Das Basler Tagegeld kommt zu hundert Prozent aus kantonalen Töpfen. Damit ist es nicht an eine Zustimmung aus dem BAK gebunden und muss auch keine Rücksicht auf das Covid-19-Gesetz von vergangenem Jahr nehmen, mit dem Ausfallentschädigungen auf die „echten“ Selbständigen beschränkt werden.
„Nur deswegen konnte ich das Tagegeld überhaupt beantragen“, bestätigt Johanna Heusser, die freischaffend, aber nicht als selbständig gemeldet ist und so oft durch alle Raster fällt. Ein klassischer Fall.
In Zürich hätte sie da weniger Glück. Denn obwohl die erste Phase nun ebenfalls aus Kantonstöpfen finanziert wird, muss die Fachstelle Kultur weiter an ihrer Definition von Selbständigkeit festhalten. „Das ist eine sehr unbefriedigende Situation“, gibt die stellvertretende Leiterin Lisa Fuchs auf der Pressekonferenz vom 4. März zu. Mit Blick auf die zweite Phase, die der Bund wieder mitbezahlen soll, bliebe Zürich aber keine andere Wahl.
Dies bedeutet, dass sich die grosse Zahl der Freischaffenden wohl weiterhin durch den Bürokratiedschungel wühlen muss, nur um am Ende wieder auf dem RAV zu landen.
Und das, obwohl es um Beträge geht, von denen man in den grossen Städten der Schweiz ohnehin kaum leben kann „Ich werde mit 3000 Franken über die Runden kommen“, sagt Johanna Heusser. „Aber auch nur, weil ich keine Familie zu ernähren habe. Bei Menschen mit Kindern wird das Geld natürlich hinten und vorne nicht reichen.“
Auch deswegen beginnt es in der Zürcher Szene allmählich zu rumoren. Marie von der Tanzlobby hat Jaqueline Fehr persönlich angeschrieben und Unterstützung angeboten. „Ich warte noch auf die Antwort. Je nach dem werden wir uns dann mit den anderen Verbänden absprechen und Aktionen planen.“ Gleichzeitig formieren sich unabhängige Gruppen über Telegramm-Chats, die auch das Problem der Freischaffenden einer grösseren Öffentlichkeit bekannt machen wollen.
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