Lex Netflix: Der Profit der Konzerne ist unantastbar

Erhöhen die Strea­ming­dienste die Abopreise bei einem Ja zum neuen Film­ge­setz? Die Frage ist im laufenden Abstim­mungs­kampf zentral. Das pikante daran: Bereits Anfang Jahr hat Netflix die Preise erhöht – die grosse Empö­rung blieb jedoch aus. 
In nur sieben Jahren ist der Preis für ein Netflix-Abo um fast 50 Prozent gestiegen. Eine Welle der Empörung blieb jedoch aus. (Illustration: Luca Mondgenast)
In nur sieben Jahren ist der Preis für ein Netflix-Abo um fast 50 Prozent gestiegen. Eine Welle der Empörung blieb jedoch aus. (Illustration: Luca Mondgenast)

In einem Kommentar zeigen Journalist*innen, die sich mit einem Thema vertieft befasst haben, übli­cher­weise auf, welche Meinung sie durch die Recherche entwickelt haben. Dies ist ein solcher Kommentar. Und zwar zum neuen Film­ge­setz, über das wir am 15. Mai abstimmen. Nur: Anstatt einer Meinung hat sich bei mir in erster Linie ein grosses Frage­zei­chen entwickelt. Ein Frage­zei­chen, das sich nicht nur hinter die Lex Netflix setzen lässt.

Vier Prozent ihres Schweizer Umsatzes sollen Streaminganbieter*innen wie Netflix, Prime Video oder Disney+ zukünftig in die hiesige Film­branche inve­stieren. So sieht es das neue Film­ge­setz, auch Lex Netflix genannt, vor. Drei Jung­par­teien haben dazu das Refe­rendum ergriffen: die Junge GLP, die Junge SVP und der Jung­frei­sinn. Ihr Haupt­ar­gu­ment gegen das Film­ge­setz: Eine solche Inve­sti­ti­ons­pflicht würde schliess­lich auf dem Buckel der Jungen ausgetragen.

In der Hoff­nung, dieses oder jenes Argu­ment besser einordnen zu können, schaute ich mir vor ein paar Tagen die Arena zum neuen Film­ge­setz an: „Von Ihnen habe ich noch nie das Wort Konsu­ment gehört“, wirft Jung­frei­sin­nigen-Präsi­dent Matthias Müller der Mitte-Stän­de­rätin Andrea Gmür vor. Gmür befür­wortet das neue Film­ge­setz. Müller gehört zu den Gegner*innen der Lex Netflix. Deren Haupt­ar­gu­ment: Die Konsument*innen würden im Regen stehen gelassen und müssten eine Annahme des neuen Gesetzes mit höheren Aboge­bühren bezahlen. Denn die Strea­ming­kon­zerne würden die Mehr­ko­sten auf die Abonnent*innen abwälzen.

Am 15. Mai kommt die Abstim­mung zum soge­nannten Bundes­ge­setz über Film­pro­duk­tion und Film­kultur an die Urne. Kurz wird die Vorlage auch Film­ge­setz oder Lex Netflix genannt. Laut dem neuen Gesetz müssten Strea­ming­dienste wie Netflix, Prime Video und Disney+ neu vier Prozent des Umsatzes, den sie in der Schweiz erwirt­schaften, in das Schweizer Film­schaffen inve­stieren. Dasselbe würde auch für auslän­di­sche Fern­seh­sender gelten, sofern sie gezielt Werbung für das Schweizer Publikum senden und auf dem Schweizer Werbe­markt Geld verdienen. Für private Schweizer Fern­seh­sender gilt diese Inve­sti­ti­ons­pflicht bereits heute.

Laut dem Bund sollen mittels des neuen Film­ge­setzes 18 Millionen Franken mehr in den Schweizer Film fliessen. Wichtig: Bei diesen 18 Millionen handelt es sich nicht um geschenkte Gelder, sondern um Inve­sti­tionen. Laut eigenen Angaben plant Netflix, bis 2023 so oder so 500 Millionen in den deutsch­spra­chigen Raum zu inve­stieren. Mit einer Inve­sti­ti­ons­pflicht könnte die Schweiz sicher­stellen, dass ein Teil des Geldes in die Umset­zung von Schweizer Film­pro­jekten fliesst.

Der Schweizer Film erhält bereits heute Gelder. Laut einem Bericht der Aargauer Zeitung zahlten Bund und Regionen durch­schnitt­lich 39 Millionen pro Jahr. Die SRG und private Sender gaben weitere 42 Millionen pro Jahr für den Schweizer Film aus. Über private Finan­zie­rung kamen weitere 24 Millionen Franken hinzu. Das macht 105 Millionen Franken pro Jahr. Die häufig genannten 120 Millionen entsprä­chen laut Aargauer Zeitung dem Finanz­vo­lumen von 2019 und nicht den jähr­li­chen Subven­tionen durch die öffent­liche Hand.

Neben der Inve­sti­ti­ons­pflicht würde es mit dem neuen Gesetz für Strea­ming­dienste eine Mindest­quote von 30 Prozent für euro­päi­sche Produk­tionen geben. Bei den privaten Fern­seh­firmen gibt es das bereits heute. Auch andere euro­päi­sche Länder kennen ähnliche Inve­sti­ti­ons­pflichten und Mindestquoten.

Dreist versuche man hier, die Konsument*innen um ihr Geld zu bringen – so auch die Kern­bot­schaft eines Werbe­spots der Zürcher Jung­frei­sin­nigen gegen das neue Film­ge­setz. Der Plot: Ein junger Mann macht es sich mit seiner Beglei­tung vor dem Laptop gemüt­lich, sie durch­for­sten das Angebot von Netflix. Schlei­chend wird ihm eine 20er-Note aus der Hosen­ta­sche gezogen – scheinbar symbo­lisch für die stei­genden Abopreise. Als er kurz­fri­stig Kondome kaufen will, fehlt ihm dafür das Bargeld, wodurch der Höhe­punkt des roman­ti­schen Strea­min­ga­bends wohl ins Wasser fällt. Schuld daran: das neue Filmgesetz.

Einmal abge­sehen davon, dass Jung­frei­sin­nige wohl eher twinten als mit einem 20er-Nötli zum Kiosk zu rennen und der hier abge­bil­dete Zusam­men­hang zwischen Abopreisen und Verhü­tung im besten Fall an den Haaren herbei­ge­zogen und im schlimm­sten Fall unan­ge­nehm pein­lich ist, lässt sich auch darüber streiten, ob die Abopreise bei einem Ja zum neuen Film­ge­setz über­haupt steigen würden. Denn obwohl es eine zentrale Infor­ma­tion für den öffent­li­chen Diskurs rund um das neue Film­ge­setz wäre, beziehen die grossen Streaminganbieter*innen keine Stel­lung dazu, was die Annahme des Film­ge­setzes für die Abopreise heissen könnte (das Lamm berichtete).

Dieses unde­mo­kra­ti­sche Schweigen von Netflix und Co. ist zwei­fels­ohne frag­lich. Doch bei dem einen grossen Frage­zei­chen, dass meiner Meinung nach über der gesamten Lex-Netflix-Frage hängt, geht es noch um etwas anderes. Denn offen­sicht­lich reagieren weder die Konsument*innen noch die bürger­li­chen Jung­par­teien auf jede Preis­er­hö­hung gleich.

Preis­er­hö­hung ist nicht gleich Preiserhöhung

2014, zum Markt­start von Netflix in der Schweiz, kostete das Stan­dard-Abo 12.90 Franken (HD, zwei Geräte). 2015, 2017, 2019 und zuletzt 2022 hat Netflix die Preise erhöht. Seit Januar 2022 zahlen Schweizer Kund:innen für das Stan­dard-Abo monat­lich 18.90 Franken. In nur sieben Jahren ist der Preis für ein Netflix-Abo in der Schweiz also um fast 50 Prozent gestiegen. Eine Welle der Empö­rung blieb jedoch aus. Bürger­liche Jung­par­teien, die im Namen der gebeu­telten Konsument*innen das Wort ergreifen? Ein entsetzter Jung­frei­sinn, der Netflix im Namen der Abonnent*innen die Leviten liest? Fehlanzeige.

Preis­er­hö­hung scheint also nicht gleich Preis­er­hö­hung zu sein: Während die eine für grosses Entsetzen sorgt, geht die andere fast unbe­merkt über die Bühne. Während die eine Art von Preis­er­hö­hung eine Gegen­lei­stung mit sich bringen würde – nämlich ein viel­fäl­ti­geres Film­an­gebot auf den Strea­ming­seiten –, brachte die andere keinen Mehr­wert. Zumin­dest nicht für uns Konsument*innen. Für Netflix schon: Denn dort kassierte man mehr Cash ein. Bleibt die Frage, was mit diesem Geld finan­ziert wurde.

Die kurze Antwort darauf lautet wohl: das Leben von Reed Hastings, Gründer von Netflix. Sein Vermögen wird vom Forbes Magazin auf 2.7 Milli­arden US-Dollar geschätzt. 2021 flossen je 35 Millionen an die zwei Netflix CEOs Hastings und Ted Sarandos. Zum Vermögen von Amazon- und Prime-Video-Besitzer Jeff Bezos muss man wohl an dieser Stelle nichts schreiben. Und auch bei Disney+ fliessen Millionen für Mana­ger­löhne ab. Mana­ger­löhne, die unter anderem über Schweizer Strea­min­gabos bezahlt werden.

Und nicht nur Strea­ming­dienste bitten uns immer wieder zur Kasse, ohne auf grossen Wider­stand zu treffen. Gemäss Miete­rinnen- und Mieter­ver­band haben Schweizer Mieter*innen seit 2006 rund 78 Milli­arden Franken zu viel Miete bezahlt. Die SP nannte es einen „volks­wirt­schaft­li­chen Skandal“ – das grosse Entsetzen blieb jedoch aus. Vor wenigen Wochen wurde publik, dass die Benzin­preise trotz der wieder sinkenden Ölpreise auf einem hohen Niveau verharrten. Der Grund: Die Erdöl­kon­zerne scheinen von der momen­tanen Lage auf dem Ölmarkt profi­tieren zu wollen. Die empörten Arena-Auftritte oder frechen Werbe­spots blieben aber auch hier aus.

Zahlen für die Superreichen

Seit dem Jahr 2000 hat sich die Anzahl Milliardär*innen welt­weit mehr als verfünf­facht. Ihr Vermögen hat sich sogar mehr als verzehn­facht. Das Geld, das sich da ange­sam­melt hat, ist nicht vom Himmel gefallen. Es wurde von jemandem bezahlt. Über die Miete, an der Tank­säule oder eben auch mit einem Streamingabo.

Wieso das niemanden stört, während man sich gleich­zeitig sinn­volle Inve­sti­tionen in unsere Gesell­schaft nicht leisten will – das ist mein grosses Frage­zei­chen. Inve­sti­tionen in den Klima­schutz? Wer soll das bezahlen. Ein wenig mehr hinlegen, um von Putins Erdgas wegzu­kommen? Viel zu teuer! Netflix, den Immo­bi­li­en­haien und Big Oil ohne Gegen­lei­stung unser schwer verdientes Geld abgeben: kein Problem. Der Profit von Konzernen, CEOs und Multimilliardär*innen scheint schlichtweg unantastbar.



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