Die Anhö­rung: Aufklä­rung um jeden Preis?

Ein prämierter Doku­men­tar­film gibt Einblick in das Schweizer Asyl­ver­fahren und will aufklären. Doch auf wessen Kosten und mit welcher Wirkung? Unsere Autorin, deren Eltern einst selbst im Asyl­ver­fahren waren, sieht die Sache kritisch. 
Das Schweizer Publikum schaut zu, wie die Protagonist*innen ihren eigenen Asylprozess noch einmal durchleben. (Bild: Tima Miroshnichenko / Pexels)

Disclaimer: Dieser Meinungs­bei­trag entspricht nicht der Perspek­tive der Protagonist*innen. In einem weiteren Beitrag kommen sie selbst zu Wort.

„Der Film besticht mit Mensch­lich­keit.“ So begründet die Jury des Prix de Soleure, der Haupt­preis der Solo­thurner Film­tage, die Auszeich­nung des Films “Die Anhö­rung”. Der Film handelt von den Anhö­rungen, die im Schweizer Asyl­pro­zess statt­finden. Sie sind Grund­lage für den Asyl­ent­scheid und finden meist in den Bundes­asyl­zen­tren oder in Bern beim Staats­se­kre­ta­riat für Migra­tion (SEM) statt. Die Regis­seurin Lisa Gerig möchte mit ihrem Film aufklären und die Macht­ver­hält­nisse in der Anhö­rung ans Licht bringen.

Da es nicht möglich ist, die eigent­li­chen Anhö­rungen zu filmen, stellt Gerig die Gespräche möglichst reali­tätsnah und sach­lich-objektiv nach. Im Film spielen vier echte Asyl­su­chende, die die Anhö­rung bereits durch­laufen haben, vier Mitar­bei­tende des SEM und Über­set­zende mit. Ihre erste Begeg­nung findet während des Drehs statt und sie nehmen im Film ihre echten Rollen ein – somit gilt dieser als Doku­men­tar­film. Der Film hat kein Dreh­buch, sondern hält sich an die Flucht­ge­schichten der vier Protagonist*innen, – die hier nicht nament­lich genannt werden möchten – und an den Befra­gungs­ab­lauf der Anhörung.

Wie verant­wor­tete das Film­team die Retrau­ma­ti­sie­rung und Diskri­mi­nie­rung am Dreh und später auf der Leinwand?

Am Sonntag Morgen des 28. Januar sah ich mir den Film im Zürcher Kino „Riff-Raff“ an. Als Kind geflüch­teter Eltern wollte ich diesen Doku­men­tar­film nicht verpassen. Im Anschluss an die Vorfüh­rung fand eine Podi­ums­dis­kus­sion mit der Regis­seurin, zwei der vier Protagonist*innen, einer Anwältin und einer ehema­ligen SEM-Mitar­bei­terin statt.

Für mich stellten sich viele Fragen: Haben alle, die mit mir im Kino­saal sassen, den Film so entsetz­lich gefunden? Wie verant­wor­tete das Film­team die Retrau­ma­ti­sie­rung und Diskri­mi­nie­rung am Dreh und später auf der Lein­wand? Wieso mussten vier echte Asyl­su­chende diese schreck­liche Erfah­rung noch­mals durch­leben, um das weisse Publikum aufzuklären?

Beschreibt eine soziale Posi­tion und die Privi­le­gien, die weissen Menschen aufgrund ihrer Haut­farbe zuge­schrieben werden, und hat nichts mit der tatsäch­li­chen Farbe der Haut zu tun. Je nach gesell­schaft­li­chem Kontext unter­scheidet sich, wer als weiss zählt. Um die Konstruk­tion des Begriffs hervor­zu­heben, wird weiss oft kursiv und klein geschrieben.“ Aus S. 31 Talking Diver­sity Glossar, Schau­spiel­haus Zürich.

Eine der Protagonist*innen erzählte auf dem Podium von ihrer echten und der nach­ge­stellten Anhö­rung. Während ihrer Erzäh­lung brach sie zusammen und verliess weinend den Kino­saal. Im Saal hinter­liess sie eine beschämte Stille. Dann ging es weiter mit den Publikumsfragen.

Wen besticht der Film mit welcher Menschlichkeit?

Ich fragte die Regis­seurin, weshalb sie sich dazu entschied, einen so trau­ma­ti­sie­renden Film auf Kosten der Asyl­su­chenden zu drehen. Darauf hatte sie keine klare Antwort. Sie habe Grenzen abge­macht und mit Psycholog*innen ihre Vorge­hens­weise abge­klärt. Ich erwi­derte, dass der Zusam­men­bruch der Prot­ago­ni­stin genau das Gegen­teil beweise. Es lasse sie nicht kalt, sie sei zittrig, entgeg­nete Gerig. Die darauf­fol­genden Publi­kums­fragen sind unkri­tisch. Die Meisten bedanken sich bei der Regie für die Arbeit und den Film und beschreiben die Protagonist*innen als „mutig und stark“.

Der Film wird von den Kritiker*innen gelobt und ist für den Schweizer Film­preis nomi­niert. Doch wen besticht er mit welcher Menschlichkeit?

Repro­duk­tion der Macht­ver­hält­nisse auf Kosten von Asylsuchenden

Alle vier Protagonist*innen erhielten vor dem Dreh einen nega­tiven Asyl­ent­scheid. Sie reichten Beschwerde ein und befinden sich zum Teil immer noch im Asyl­pro­zess. Für den Film, der die Macht­lo­sig­keit der Asyl­be­wer­benden zur Prämisse hat, haben sie sich der Anhö­rung ein weiteres Mal gestellt.

Dass mit den Protagonist*innen im Vorfeld Grenzen abge­macht wurden, betont Gerig immer wieder in Podien und Inter­views. Sie hätten den Dreh jeder­zeit abbre­chen können. Im Film wird jedoch schnell klar, dass die abge­machten Grenzen die Protagonist*innen nicht schützten, denn: Die Anhö­rungen sind von Grund auf grenz­über­schrei­tend und demütigend.

Wieso müssen ausge­rechnet die asyl­su­chenden Protagonist*innen diese Retrau­ma­ti­sie­rung durch­leben, um die Aufklä­rungs­ar­beit zu leisten?

Wer einen möglichst wahr­heits­ge­treuen Doku­men­tar­film drehen will, muss diese unter­drückenden Struk­turen repro­du­zieren – nur so kann der Film authen­tisch sein. Das bedeutet im Umkehr­schluss für die vier Protagonist*innen, dass kein wirk­li­cher safer space existiert. Konnten die vier Asyl­su­chenden wirk­lich im vollen Bewusst­sein darüber, was eine Teil­nahme für sie bedeutet, zustimmen? War ihnen vor dem Dreh klar, dass sie nicht nur zurück in die Zeit ihrer Anhö­rung versetzt werden, sondern auch neue Verlet­zungen erleben?

safer spaces sind aktiv herge­stellte Räume und Räum­lich­keiten, in denen sich Menschen mit Diskri­mi­nie­rungs­er­fah­rung möglichst sicher fühlen dürfen und keiner Margi­na­li­sie­rung, keinen Belei­di­gungen oder Belä­sti­gungen ausge­setzt sind.

Einem der Prot­ago­ni­sten war es teil­weise klar. In einem Inter­view mit Human Rights erzählt er: „Wenn man über die Asyl­ver­fahren spricht, kommen Erin­ne­rungen und Trau­mata hoch. Das wollte ich nicht noch­mals, vor allem auch nicht bei jeder Ausstrah­lung immer wieder erleben“. Er wollte auch verhin­dern, dass der Film nega­tive Auswir­kungen auf seinen laufenden Asyl­ent­scheid habe. Es ist anzu­nehmen, dass der Film weder posi­tive noch nega­tive Auswir­kungen auf ihre eigenen Asyl­ent­scheide hat. Die Grund­lage für den Entscheid sind die Anhö­rung beim SEM und die einge­reichten Doku­mente. Der Prot­ago­nist über­wand sich erst nach mehreren Anfragen dazu, im Film mitzu­wirken. Der Haupt­grund sei das Poten­zial zur Aufklä­rung, betont er im Inter­view mit Human Rights.

Oft müssen margi­na­li­sierte Personen für sich selbst einstehen, weil es sonst niemand macht. Doch viel wirkungs­voller wäre es, wenn mäch­ti­gere Personen dies tun würden. Dies versuchte die Regis­seurin, schei­tert aber meiner Meinung nach, weil die Protagonist*innen nach wie vor die Aufklä­rung betreiben. 

Ich frage mich: Wieso müssen ausge­rechnet die asyl­su­chenden Protagonist*innen diese Retrau­ma­ti­sie­rung durch­leben, um die Aufklä­rungs­ar­beit zu leisten? Eine andere Prot­ago­ni­stin spricht von ihrer gefühlten Verant­wor­tung, ihre Geschichte zu erzählen. Nicht nur ihre schweren Erin­ne­rungen und Trau­mata kommen während und nach den Dreh­ar­beiten hoch – die Protagonist*innen nehmen auch neue Verlet­zungen in Kauf. 

Im Film werden diese Diskri­mi­nie­rungen aufge­zeigt. Ein Beispiel: Einer der Prot­ago­ni­sten ist blind auf dem linken Auge. Der SEM-Befra­gende bezwei­felt das und fragt, ob er wirk­lich blind sei: „Ich kann das selber so nicht erkennen, aber ist das so?“ Eine über­grif­fige und ablei­sti­sche Frage, der sich der Asyl­su­chende für den Film noch­mals stellen muss. Da die Behin­de­rung für den Befrager nicht sichtbar ist, glaubt er dem Prot­ago­ni­sten nicht. Diese schlimme Szene, die er nur für den Film wieder­erlebt, wird im Trailer mitge­schnitten. Sie löst bei weissen Privi­le­gierten für ein paar Sekunden Scham und Schuld aus. Für das Publikum ist es nur eine Szene, für den Asyl­be­werber eine Verletzung.

Beschreibt die Diskri­mi­nie­rung von Menschen mit Behin­de­rung, die nicht den Norm­vor­stel­lungen, was Menschen können und leisten sollen, entsprechen.

Eine weitere Prot­ago­ni­stin erzählt in einem Inter­view mit Soli­da­rité sans fron­tières, der Film­dreh habe sie stark in die Zeit ihrer Anhö­rung zurück­ver­setzt. Um die Dreh­ar­beiten zu verar­beiten, erzählt die Prot­ago­ni­stin, habe sie Alkohol als Stra­tegie ange­wendet. In der Vergan­gen­heit hätte sie bereits unter einer Alko­hol­sucht gelitten. Das Film­team hat in ihrer Aufgabe, die Protagonist*innen zu schützen, offenbar versagt. 

Schein­ermäch­ti­gung

„Der Film erreicht poli­ti­sche Entschei­dungs­träger, das SEM hat ihn seinen Ange­stellten gezeigt, auch Bundesrat Beat Jans hat den Film gesehen“, berichtet die Repu­blik aner­ken­nend über „Die Anhö­rung“. Eine Kosten- und Nutzen­ana­lyse, die das Leid der Protagonist*innen rechtfertigt?

Menschen, die die Bereit­schaft zeigen, Aufklä­rungs­ar­beit zu leisten, erneut in eine so macht­lose Situa­tion zu stecken, ist unver­ant­wort­lich. Denn sie werden nicht darin unter­stützt, ihre Geschichten in einem sicheren Rahmen zu teilen, zum Beispiel in Form einer Nach­er­zäh­lung. Sie bleiben in der Posi­tion der Asyl­su­chenden, obwohl sie beispiels­weise als Expert*innen hätten auftreten können.

Es ist unmög­lich, im Anhö­rungs­raum eine nicht nur schein­bare Macht­um­kehr zu gestalten.

Im letzten Drittel des Films kehrt die Regis­seurin vermeint­lich die Rollen um, sodass die Asyl­su­chenden die Anhö­rung leiten. „Der Rollen­tausch veran­schau­licht die Macht­ver­hält­nisse. Und für die Asyl­su­chenden war er wichtig als Ausgleich“, erklärt Gerig in einem Inter­view mit dem Tages­an­zeiger.

Doch es ist unmög­lich, im Anhö­rungs­raum eine nicht nur schein­bare Macht­um­kehr zu gestalten. Eine der Protagonist*innen sagt es im Film wie folgt: „Für sie ist es ein Job, für uns ist es das Leben.“ Die Umkehr der Rollen passiert nur, weil die Regis­seurin, eine weisse Person, dies so erlaubt. Im echten Leben ist das nicht möglich. Die SEM-Mitar­bei­tenden werden auch nie in der glei­chen Lage sein wie die Protagonist*innen. Im Film müssen die Mitar­bei­tenden die ihnen gestellten Fragen nicht zwin­gend beant­worten. Eine solche Verwei­ge­rung aufseiten der Asyl­su­chenden hingegen wäre fatal für ihren Asyl­ent­scheid. Sie müssen ihre Flucht­ge­schichten detail­liert und wider­spruchs­frei wieder­geben. Eine solche Pflicht haben die Mitar­bei­tenden nicht.

Die weissen SEM-Mitar­bei­tenden werden immer mäch­tiger sein als die Asyl­su­chenden – in und ausser­halb der Anhö­rung. Die Macht­struk­turen sind gesell­schaft­lich, im Anhö­rungs­saal werden sie ledig­lich repro­du­ziert und klar sichtbar. Dadurch, dass die gesell­schaft­li­chen Macht­struk­turen nicht über­wunden werden und die Protagonist*innen in einer macht­losen Posi­tion bleiben, ist der Film ein Beispiel des white savio­risms.

Meint ein Verhalten von weissen Menschen, das vermeint­lich „weniger zivi­li­sierten“, weniger gebil­deten, ökono­misch schwä­cher gestellten oder diskri­mi­nierten Menschen finan­ziell oder symbo­lisch „helfen“ will, dabei aber die Konti­nui­täten kolo­nia­li­sti­scher Herr­schafts­sy­steme nicht über­windet, sondern weiter­leben lässt. Oft dienen solchen Hand­lungen der Gewis­sens­be­ru­hi­gung privi­le­gierter Menschen, gleich­zeitig werden bestehende Vorur­teile, stereo­type Bildung und weisse Vorherr­schaft bestätigt.

Kritisch zu hinter­fragen ist auch, dass die geflüch­teten Protagonist*innen haupt­säch­lich durch den Verein Solinetz Zürich rekru­tiert wurden. Die Leiterin des Vereins, Hanna Gerig, ist Lisa Gerigs Schwe­ster. Die Regis­seurin enga­giert sich dort frei­willig. Oft sind Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen die einzige Anlauf­stelle für geflüch­tete Personen und bieten einen Zufluchtsort.

Und auch hier besteht ein Macht­ge­fälle, das reflek­tiert werden muss: Die Ange­stellten und Frei­wil­ligen der Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen haben viel mehr soziales, ökono­mi­sches und kultu­relles Kapital als die Geflüch­teten. Dadurch sind letz­tere abhängig von der Hilfe der in NGOs Enga­gierten. Diese Abhän­gig­keit macht es für die Protagonist*innen schwierig, eine Anfrage wie die zur Teil­nahme im Film abzulehnen.

An der Lage der Protagonist*innen ändert sich schluss­end­lich wenig.

Eine der Protagonist*innen beschreibt im Podium ihre grosse Dank­bar­keit gegen­über Lisa und Hanna Gerig. Die Schwe­stern beglei­teten sie während ihres Asyl­pro­zesses. Ohne die Echt­heit dieser Dank­bar­keit zu bestreiten, sollte man sie in das bestehende Abhän­gig­keits­ver­hältnis einordnen: Die Prot­ago­ni­stin bleibt in der Rolle der Hilfe­be­dürf­tigen. Ihre Dank­bar­keit kann die Macht­struk­turen des vorlie­genden white savio­risms widerspiegeln.

Indem die Regis­seurin sich dazu entschieden hat, einen Film zu drehen, über­nimmt sie die Aufgabe der weissen Retterin, rettet aber nicht wirk­lich: Denn an der Lage der Protagonist*innen ändert sich schluss­end­lich wenig.

Neutral und sach­lich: Wo bleibt die gesell­schaft­liche Verantwortung?

Explizit nimmt Lisa Gerig keine Haltung zum Film ein und benennt den struk­tu­rellen und insti­tu­tio­nellen Rassismus nicht. „Ich fälle keine mora­li­schen Urteile oder mache poli­ti­sche Bewer­tungen, aber ich will sichtbar machen, was in den Verfahren abläuft, und zu Fragen anregen“, sagt sie gegen­über dem Tages­an­zeiger. Die NZZ lobt den Einblick, den der Film gibt, als demon­strativ sachlich.

Die Macht­struk­turen der Anhö­rungen aufzu­zeigen und damit aufzu­klären, scheint erst einmal eine noble Absicht zu sein. Aber allein das kine­ma­to­gra­fi­sche Aufzeigen reicht nicht. Eine weisse Person, die diskri­mi­nierten Menschen finan­ziell oder symbo­lisch hilft, dabei aber die gege­benen unglei­chen gesell­schaft­li­chen Struk­turen nicht explizit anspricht oder zumin­dest in ihrem Film­schaffen über­windet, droht in white savio­rism verfangen zu bleiben.

Der Film löst Scham und Schuld aus, weil er zeigt, wie rassi­stisch das schwei­ze­ri­sche Asyl­sy­stem ist. Doch er über­mit­telt dem Publikum keine Verantwortung. 

Eine Über­win­dung hätte dann geschehen können, wenn die Anhö­rungen mit Schauspieler*innen nach­ge­stellt und die Asyl­su­chenden als Expert*innen einge­laden worden wären. So wäre eine Repli­ka­tion möglich gewesen, in der die Asyl­su­chenden nicht machtlos sind.

Die scheinbar neutrale Posi­tion der Filme­ma­cherin ist gefähr­lich, denn die Diskus­sion um den Film bleibt so ober­fläch­lich. Es werden Themen bespro­chen wie die kultu­rellen Unter­schiede zwischen den Asyl­su­chenden, von denen einige mehr oder weniger begabte Geschichtenerzähler*innen sind. Doch eine Thematik bleibt aus – Rassismus und andere Diskri­mi­nie­rungs­formen. Der Film kriti­siert die SEM-Mitar­bei­tenden und die Anhö­rung, nennt aber das unter­lie­gende Problem nicht beim Namen.

Wer hat das Recht, frei und legal in die Schweiz zu kommen, und wer muss sich der Anhö­rung stellen?

Explizit nimmt die Regis­seurin Lisa Gerig keine Haltung zum Film ein und benennt den struk­tu­rellen und insti­tu­tio­nellen Rassismus nicht.

Das Konzept der Regis­seurin, den Prozess der Anhö­rung doku­men­ta­risch zu zeigen, ist ein weisses und ein schwei­ze­ri­sches. Der Film löst Scham und Schuld aus, weil er implizit zeigt, wie rassi­stisch das schwei­ze­ri­sche Asyl­sy­stem ist, wie rassi­stisch unsere Gesell­schaft ist. Doch er über­mit­telt dem Publikum keine Verant­wor­tung. Sogar im Gegen­teil: Indem er das Verhalten der einzelnen SEM-Mitar­bei­tenden proble­ma­ti­sie­rend in Szene setzt, können sich weisse Personen mit einer Begrün­dung wie „so was würde ich nie tun“ aus der Verant­wor­tung nehmen. Durch diese proble­ma­ti­sche Einord­nung hat der Film verhee­rende Folgen. Das Problem ist nicht die Anhö­rung, sondern das Asyl­sy­stem an und für sich. Unser Asyl­sy­stem wider­spie­gelt unsere gesell­schaft­li­chen Werte.

Die Scham, die solche Szenen im Publikum auslösen, besticht, den Film schauen zu müssen, aber eben nicht, etwas zu verän­dern. Bei Unge­rech­tig­keit keine Haltung einzu­nehmen, ist nicht sach­lich-neutral, sondern stützt und stärkt die Unge­rech­tig­keit. Die Schweiz versteckt sich hinter dieser Neutra­lität, und die Regis­seurin tut es auch. Die aufge­zeigte weisse Heran­ge­hens­weise der Filme­ma­cherin ist nur möglich, weil unsere Gesell­schaft dies so zulässt – und sicher­lich kein Einzel­fall. Es wider­spie­gelt für mich ein gesell­schaft­li­ches Problem – den white savio­rism.

Swassthi S. Sarma hat Sozio­logie und Philo­so­phie studiert. Sie gibt Work­shops zu Diskri­mi­nie­rungs­sen­si­bi­li­sie­rung und inter­sek­tio­nalem Femi­nismus. Ausserdem ist sie Unter­neh­merin und Podcasterin.


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