Ja!
Kritische Männlichkeit ist Grundlage für den Kampf gegen das Patriarchat.
Timo Krstin
Der Kampf gegen das Patriarchat kann ohne cis Männer – und das heisst: Menschen, die sich selbst als solche verstehen – nicht geführt werden. Das hat eine einfache demographische Ursache. Denn auch wenn repräsentative Statistiken darüber, wie viele Prozent der Weltbevölkerung sich tatsächlich noch als cis Männer definieren, nicht vorliegen, darf mensch davon ausgehen, dass es sich um keine kleine Gruppe handelt. Diese Gruppe stützt und perpetuiert heute das Patriarchat in all seinen Ausprägungen und Herrschaftsformen; sie ist das Patriarchat.
Aber, und das ist der entscheidende Punkt, diese Gruppe wird unter der möglichen Dominanz feministischer, queerer und anderer antipatriarchaler Bewegungen nicht einfach verschwinden. Männlichkeit existiert nicht nur als soziale Selbstdefinition innerhalb einer patriarchalen Ordnung – gewissermassen als Herrschaftstitel – sondern auch als echte Identität; wenn man so will als ein Teil der Persönlichkeit, der sich nicht beliebig ablegen oder ignorieren lässt, beruhend auf Prägung, Tradition, Kultur.
Wichtig ist: Eine solche Identität kann vielleicht nicht ohne Weiteres abgelegt werden, aber sie lässt sich ändern oder sogar revolutionieren. Und zwar nach dem alten Marxschen Prinzip (paraphrasiert): Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht absolut frei und aus dem Nichts schöpfend, sondern auf Grundlage vorgefundener Gegebenheiten – also zum Beispiel geschlechtlicher Identitäten. Wer die Welt ändern will, muss mit diesen Identitäten umgehen und darf sie gerade nicht ignorieren. Männlichkeit auszublenden, hiesse, die Revolution nur idealistisch zu postulieren, die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Herrschaftsform Patriarchat aber unangetastet zu lassen. Dies würde wahrscheinlich in eine tief gespaltene Gesellschaft führen, sicher aber nicht in eine für alle bessere Zukunft.
Unter dem Begriff „kritische Männlichkeit“ werden sehr unterschiedliche soziale und politische Bewegungen zusammengefasst. Daher ist es schwer, den Begriff zu definieren. Eines ist aber den meisten dieser Strömungen gemeinsam: das Ziel, herkömmliche Männlichkeitsideale zu hinterfragen und zu überwinden. Auf der politischen Ebene sollen auf Männlichkeit basierende Macht- und Herrschaftsstrukturen erkannt und auch zerstört werden, während es auf einer eher persönlichen Ebene oft um die Auseinandersetzung mit eigenen Verfehlungen als Mann oder dem eigenen Leid an falschem männlichen Verhalten geht. Die meisten Gruppen kritischer Männlichkeit beziehen sich positiv auf den Feminismus und verstehen sich als Verbündete im antipatriarchalen Kampf. Kritik soll nicht Selbstzweck sein, sondern zu einer positiven emanzipatorischen Praxis beitragen.
Die kritische Männlichkeit nimmt die Ausgangsbedingungen, die Existenz von cis Männern, ernst und versucht, sie zu revolutionieren bzw. in die Revolution miteinzubeziehen. Damit schafft sie die Grundlage dafür, dass antipatriarchale Bewegungen im Kampf gegen das Patriarchat nicht selbst unterdrücken müssen, sondern wirklich neue Formen des Miteinander erproben und ausloten können.
Womit auch die Voraussetzung gegeben wäre, dass cis Männer eine wichtige Erkenntnis antipatriarchaler Bewegungen wirklich zu spüren bekommen: Das Patriarchat schadet allen, auch jenen, die auf den ersten Blick davon profitieren – den Männern. Es schadet, weil es eine ungesunde, auf Ausbeutung, Macht und verinnerlichten Tabus basierende Gesellschaftsordnung ist, unter der freiheitsliebende Menschen nur leiden können. Das Patriarchat schadet, weil es gesellschaftlichen, beruflichen und eigentlich jeden Erfolg als Sieg im Machtkampf definiert.
Im Ergebnis folgt fast zwangsläufig die Selbstverletzung: Patriarchaler Erfolg im Beruf wird als hirnlose Selbstausbeutung definiert, mit allen gesundheitlichen Folgen bis hin zum früheren Tod. Patriarchaler Erfolg in der Wirtschaft heisst maximale Ausbeutung der Arbeitenden mit fatalen Auswirkungen auf die Gesellschaft. Patriarchaler Erfolg in der Politik führt zur Zerstörung von Welt und Umwelt, was uns heute nicht zum ersten Mal vor die Möglichkeit einer echten Selbstvernichtung stellt. Kurz: Patriarchaler Erfolg ist und war schon immer Scheitern auf der ganzen Linie – aber mit Macht.
Das müssen cis Männer lernen – und sie können es nur lernen, wenn ein wichtiger Grundpfeiler des patriarchalen Systems ins Wanken kommt. Dieser Grundpfeiler ist eine der patriarchalen Macht inhärente Sprachlosigkeit: Männer sollen Macher sein, nicht jammern, nicht klagen – in den Kampf ziehen, statt unnötig zu labern. (Das sind uralte Klischees, die niedergeschrieben durchaus lächerlich wirken. Aber wären sie nicht bis in die Gegenwart wirksam, hätten wir kein Problem.) Gleichzeitig ist Sprachlosigkeit die wirksamste Waffe des Patriarchats, denn sie unterbindet jede weiterführende Kritik, ganz besonders jede Selbstkritik, und befördert die Gewalt.
Die kritische Männlichkeit ist – nicht mehr, aber auch nicht weniger – die erklärte Feindin der Sprachlosigkeit; unter diesem Aspekt der wichtigste Ally im Kampf gegen das Patriarchat, denn sie hat das Ziel, einen Raum zu öffnen, in dem die herkömmliche cis Männlichkeit zu einer eigenen Sprache finden kann. Womit sich der stumme Grundpfeiler des Patriarchats in Worte auflöst – das System verpufft.
Das mag ein etwas abgehobenes Bild sein, sollte aber einleuchten, wenn man sich ansieht, was real existierende Gruppen unter dem Titel „kritische Männlichkeit“ machen. Sie schaffen einen Raum, in dem Männer sich mit der Tatsache auseinandersetzen können, dass sie selbst Teil des Problems sind – oft gerade dann, wenn sie sich ideologisch schon immer als feministische Allies wahrgenommen haben. Das nicht zu tabuisieren, sondern zur Sprache zu bringen, ist einer der wichtigsten Beiträge, die cis Männer im Kampf gegen das Patriarchat leisten können.
Auf einem Plakatanschlag in Zürich, der Mitglieder für eine Auseinandersetzung im Rahmen der kritischen Männlichkeit sucht, war vor Kurzem zu lesen: „Wir wachsen in einem sexistischen System auf, lernen es nicht anders, als uns sexistisch zu verhalten. Und unsere Privilegien können wir auch nicht ohne Weiteres ablegen. Schuldig machen wir uns, wenn wir uns auf dieser Machtposition ausruhen und uns nicht damit auseinandersetzen.“
Man könnte in die etwas holprig formulierten Sätze den Versuch hineinlesen, Männer doch noch zu Opfern zu machen – Opfer des Systems. Ein häufig erhobener Vorwurf an die kritische Männlichkeit. Statt jetzt schon wieder das Wort zu ergreifen, heisst es dann, sollten solidarische cis Männer lieber mal still sein und marginalisierte Gruppen sprechen lassen. So verständlich dieses Bedürfnis ist, so sehr geht es der Logik des Patriarchats auf den Leim, das aus Sprachlosigkeit Gewalt und Unterdrückung formt.
Um dagegen anzukämpfen, braucht es cis Männer, die über ihre Verantwortung als Täter im System sprechen und dafür eine eigene Sprache entwickeln. Erst wenn diese Sprache besteht, kann es eine Kommunikation geben, in der FLINTA-Personen wirklich sprechen und gehört werden und nicht, wie es heute noch oft der Fall ist, als einsame Rufer:innen in der Wüste stehen, während cis Männer einfach stillschweigend weitermachen.
Nein!
Kritische Männlichkeitsbewegungen machen echte Unterdrückung unsichtbar.
Anina Ritscher
Drei Jahre nach „MeToo“ kommen linke cis Männer mal wieder auf die Idee, dass auch sie Teil eines unterdrückerischen Systems sind. Zwar brauchte es dafür erst einige sexualisierte Übergriffe in linken Räumen, etwa die heimlich installierten Kameras auf den Frauentoiletten der Festivals Monis Rache und Fusion. Zuletzt entflammte die Debatte erneut nach dem Mord an einer jungen Engländerin.
Besser spät als nie, denken sich auch linke Männer in der Schweiz und wollen etwas tun. Daher spriessen seit einigen Jahren überall neue Gruppen aus dem Boden: Sie gründen Podien, Blogs, Performances und Gesprächsrunden zu „kritischer Männlichkeit“. Selbst innerhalb des Lamm-Kollektivs arbeitet neuerdings ein Kreis aus kritischen Männern gegen den verinnerlichten Sexismus an.
Die Absicht ist ehrwürdig. Aber: Mittlerweile ist es für diesen Ansatz möglicherweise schon zu spät. Denn was in kritisch-männlichen Kreisen zuweilen als revolutionäre Praxis gilt, ist in Wahrheit schon verstaubt.
Den Ursprung haben selbstkritische Männerzirkel vermutlich in der Sponti-Szene in der BRD der 80er-Jahre. Damals wollten Männer sich parallel zur feministischen Bewegung mit Männlichkeit und ihrer Bedeutung für das Patriarchat beschäftigen. Es gab Treffen, Zeitschriften, Politgruppen zum Thema.
Viele Texte von damals könnten heute fast unverändert wieder veröffentlicht werden, denn die Probleme sind dieselben: Vergewaltigungen in linken Räumen, Queerfeindlichkeit unter cis Männern und „neue Mannsbilder“. Im Fokus stand damals wie heute das Verhalten von Männern.
Die aktuelle kritisch-männliche Bewegung wärmt diese Themen auf, ohne ihnen neue Perspektiven hinzuzufügen. Dabei sind die Umstände heute ganz andere: Ursprünglich emanzipatorische Begehren wurden im Zuge einer radikalen Marktliberalisierung in den 80er-Jahren in die Logik der Kapitalverwertung integriert und so in ihr Gegenteil verkehrt. Was mit feministischen Forderungen geschah, widerfuhr auch den Männergruppen: Mittlerweile kann man sich für 24 Franken ein Männer-Shirt kaufen mit dem Aufdruck Men of quality don’t fear equality. Und spätestens seit der Rasierklingenhersteller Gillette sich mit dem Kampf gegen „toxische Männlichkeit“ brüstet, muss das Projekt als gescheitert gelten.
Die Auseinandersetzung mit Männlichkeit muss sich diesen neuen Bedingungen anpassen, radikaler, widerständiger und grundsätzlicher werden, anstatt die alten Ideen neu aufzuwärmen.
In der aktuellen kritisch-männlichen Bewegung passiert das Gegenteil: Der Fokus liegt auf dem Individuum und seinem toxisch-männlichen Verhalten. So steht etwa auf dem Blog kritische-männlichkeit.de eine kritisch-männliche Praxis müsse „männliches Verhalten in den Mittelpunkt“ stellen und das Ziel verfolgen, „mehr Freiheiten für Männer und einen besseren Umgang unter den Geschlechtern zu ermöglichen“.
Das greift zu kurz.
Natürlich ist es eine prima Aussicht, dass TINF-Personen ohne Angst nach Hause laufen können, wenn hinter ihnen ein kritischer Mann herläuft, der schnell die Strassenseite wechselt. Selbstverständlich ist es notwendig, dass Übergriffe im öffentlichen und privaten Raum adressiert und bekämpft werden – und zwar insbesondere von Männern. Es wäre auch grossartig, wenn emotionale Arbeit in Unternehmen, der Familie, dem Freundeskreis gleichmässig unter den Geschlechtern aufgeteilt wäre. Das kann unser aller Leben angenehmer machen.
Aber: Selbstreflexion ist nicht immer subversiv, sie kratzt nicht automatisch an den unterdrückenden Strukturen. Schädliches Verhalten von einzelnen Männern ist nämlich nur ein winziger Teil des Problems. Das viel grössere Problem ist die Tatsache, dass dieses Verhalten nicht nur Bedingung, sondern auch Resultat eines Wirtschaftssystems ist, das auf kompromisslosem Wettkampf beruht.
Im Kapitalismus geht es nicht um Moral. Es ist egal, wie gut die Absichten der Menschen sind, wie integer und rücksichtsvoll sie handeln. Denn die Logik der Kapitalverwertung erzwingt die Verteidigung toxischer und unkritischer Männlichkeit immer.
Diesen Widerspruch kann ein Redezirkel zu kritischer Männlichkeit niemals auflösen, eher besteht die Gefahr, dass er so verwischt wird. Denn die Nabelschau der eigenen Privilegien kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass ihre Ursachen aus dem Blick geraten, dass sie unsichtbar werden.
Wenn alle Männer zuvorkommend, rücksichtsvoll, empathisch sind, wenn es keine sexualisierten Übergriffe mehr gibt – dann ist das ein grosser Schritt in Richtung eines Lebens in Freiheit und Sicherheit für TINF. Aber: Wenn es nicht mehr derart alltägliche und einleuchtende Beispiele gibt, um die Unterdrückung von TINF-Personen zu veranschaulichen – existiert sie denn dann überhaupt noch?
Ja. Sie existiert weiterhin in den politischen und den wirtschaftlichen Strukturen. Eigentum und Macht, Einfluss und Gewaltmonopol werden weiterhin überdurchschnittlich oft in den Händen von – neuerdings kritischen und selbstreflektierten – Männern liegen. Nur sind diese Dinge schwerer zu greifen.
Eine Theorie des Männlichkeitsforschers Lothar Bönisch besagt: In der Moderne werden in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Erwartungen an Männer gestellt. In der Familie sollen sie etwa fürsorglich sein, im Unternehmen aber bestimmt auftreten. Bönisch spricht von „Modulen“ die je nachdem passend eingesetzt werden können.
Wenn diese Theorie zutrifft, ist kritische Männlichkeit höchstens die Verbesserung einzelner Module, nicht aber die Infragestellung der Bauanleitung oder gar des gesamten Baukastens. Es stimmt, dass politische Praxis fast immer nur eine Annäherung an das Ideal sein kann – doch es muss allen Beteiligten klar sein, wo die Arbeit hinzielt: Kritische Männlichkeit darf unter keinen Umständen eine Versöhnung mit Männlichkeit anstreben, sondern muss eine ernstgemeinte Kampfansage an sie und ihren ganzen wirtschaftlichen und politischen Rattenschwanz sein.
Die Bewegung war übrigens schon mal weiter: Die Zeitschrift Männerrundbrief, die in den 90er-Jahren aus der autonomen Bewegung in der BRD heraus entstand, verstand sich als radikal, pro-feministisch und anarchistisch. Die Zeitschrift beschäftigte sich mit Themen wie Männlichkeit und Klasse oder Männer und Knast.
Neben der Selbstreflexion einzelner Männer wäre es zudem besonders wichtig, dass mehr Forschung betrieben wird. Es gibt erst wenige fundierte Erkenntnisse dazu, wie etwa männerbündlerische Strukturen zustande kommen, wie sie funktionieren und was das mit politischen, psychologischen, wirtschaftlichen Strukturen zu tun hat. Solche Erkenntnisse müssten aber die Grundlage einer Reflexion sein, die über das eigene Empfinden hinausgeht.
Der ganze männliche Baukasten muss nicht nur kritisch begutachtet, sondern komplett gesprengt werden. Die Verantwortung dazu liegt aber nicht bei TINF-Personen. Männer sind verpflichtet, sich dem Thema Männlichkeit anzunehmen. Sie müssen sich nur ein wenig ausgefuchstere Konzepte überlegen.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 28 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1716 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 980 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 476 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?