Studium und Kind? Für Gioia* (26) war das lange Zeit unvereinbar. Erst jetzt, drei Jahre nach der Geburt ihres zweiten Kindes, wagt sie den Schritt ins Studium. Obwohl sich die angehende Studentin über die Rückkehr auf die Schulbank freut, standen neben der Anmeldung eine Reihe offener Fragen: Wer wird sich um die Kinder kümmern? Wie bezahlt sie die zusätzlichen Rechnungen?
Für Gioia erweist sich das Studieren als alles andere als einfach und sie ist kein Einzelfall. Weil Kinderhaben Privatsache ist, weiss aber niemand wirklich, wie viele mit Kind studieren und wie es den Personen dabei geht. Nur das Bundesamt für Statistik (BFS) verfügt über eine Studie aus dem Jahr 2009. Laut dieser waren zwischen zwei und fünf Prozent aller Studierenden in der Schweiz Eltern, das heisst: eine bis drei Personen pro Seminarraum. Universitäten und Hochschulen erheben dazu selber keine Zahlen.
Unterstützungsmassnahmen befinden sich meist erst im Aufbau. Selbst die Verantwortlichen sprechen von einer „Rückständigkeit“. Laut der Studie des BFS ist die Schweiz gar das europäische Schlusslicht, was die Vereinbarkeit von Kind und Studium, aber auch den Anteil der Studierenden mit Kind betrifft.
Kinder und Studium: ein holpriger Start
Gioias Entschluss zu einem Kind kam früh. Nach dem Gymnasium begann sie zu arbeiten und verreiste dann mit ihrem Freund – bei der Rückkehr kam der Kinderwunsch. Sie dachte, nach ein, zwei Jahren könne sie mit dem Studium beginnen. „Das war im Nachhinein ein bisschen naiv“, stellt sie heute fest. „Nach der Geburt der Kinder haben sich meine Prioritäten verschoben. Ich wollte mich um sie kümmern und meine eigenen Projekte vorantreiben.“
Mit ihrem Ehemann beschloss sie, vorerst aufs Studium zu verzichten. Da er einen festen Job hat, kümmert sie sich hauptsächlich um die Kinder und arbeitet nebenbei in Teilzeit. Ihre Leidenschaft: die Landwirtschaft. Sie betreut einen kleinen Garten mitsamt Rebberg und gibt Kurse für ökologischen Gartenbau.
Diese Aufgabenteilung ist in der Schweiz laut dem BFS normal: Der Mann hat eine Vollzeitstelle, die Partnerin arbeitet Teilzeit und kümmert sich hauptsächlich um Haushalt und Kinder. In der Deutschschweiz wird in 71 Prozent der Haushalte die Hausarbeit und Kinderbetreuung von der Frau übernommen – selbst wenn der männliche Part studiert. Studiert die Frau, sind es gerade einmal 15 Prozent der Haushalte, in welchen der Mann die Care-Arbeit übernimmt. Dieses patriarchale Familienmodell wird primär durch das Argument des höheren Lohns des männlichen Partners gefördert. Das Studiums- und Berufsprojekt der Mutter muss dabei häufig hinten anstehen.
„Ich habe irgendwann bemerkt, dass es sehr wichtig ist, mehr als nur eine Matur zu haben“, sagt Gioia. Nach einer längeren Suche nach einem passenden Studiengang entschied sie sich für Umweltingenieurswesen an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Teilzeitmodell. Alternativen wie etwa Agrarwissenschaften musste sie links liegen lassen, denn „bei vielen Lehrgängen gibt es kaum Angebote in Teilzeit und für Lernende mit Kind“, meint sie.
Um die Kinderbetreuung während ihres Studiums zu meistern, reduziert Gioias Mann seine Arbeitszeit um einen Tag. „Zum Glück leben meine Schwiegereltern in der Nähe und übernehmen einen weiteren Tag in der Woche“, meint Gioia und fügt an: „Eine komplette Krippenbetreuung für meine Tochter können wir uns trotz Subventionen nicht leisten.“
Studieren als finanzielles Problem
Mit den Studiengebühren und dem Ausbleiben des Lohnes vom Nebenjob wird sich Gioias Familienkasse leeren. Sie sucht also nach finanzieller Unterstützung von Stiftungen. Doch auch hier stösst sie schnell an ihre Grenzen: „Ich habe das Gefühl, durchs Raster zu fallen.“ Es gibt Stiftungen für besonders Begabte oder für Armutsbetroffene, aber Gioia findet keine, die explizit Studierende mit Kindern unterstützt.
Matthias Fehlmann, Diversity-Beauftragter der ZHAW kennt diese Herausforderungen für Studierende mit Kindern. Seine Hochschule bietet finanzielle Unterstützung bei der Krippenbetreuung an, gründete einen Fonds für Studierende mit Familien in finanzieller Notsituation und etabliert derzeit ein neues Angebot für kurzfristiges und ausserordentliches Kinderhüten.
Solche Massnahmen reichen seiner Meinung nach für wirkliche Chancengleichheit aber nicht aus. Die Hochschulen würden sich immer mehr für Studierende mit Kind einsetzen, meint Fehlmann, hätten selbst aber zu wenig Handlungsspielraum: „Es braucht vor allem Veränderungswille vonseiten der Politik.“
Die Kantone greifen allen Eltern durch die sogenannte Familienzulage unter die Arme. Je nach Kanton bekommen die Eltern um die 200 Franken pro Kind und Monat. Dies reicht bei Weitem nicht aus, bedenkt man, dass Studierende mit Kindern laut dem BFS gleich viel wie alle anderen Studierenden verdienen, gleichzeitig aber deutlich höhere Kosten tragen müssen. Trotzdem bezogen nur rund dreizehn Prozent aller Studierenden mit Kindern im Jahr 2009 finanzielle Unterstützung in Form von Darlehen oder Stipendien. Das sind weniger als unter Studierenden ohne Kinder.
Dieser geringere Prozentsatz liegt laut Fehlmann daran, dass klare Zuständigkeiten, Regeln und Hilfsangeboten fehlen. Besonders hart würde dies jene treffen, die während des Studiums ein Kind bekommen. Neben dem Mehraufwand für die Betreuung des Kindes fehlt oft die Zeit für die langwierige Suche nach Hilfsangeboten.
Laut dem BFS arbeiten Studierende mit Kind um die 68 Stunden in der Woche. Gerade einmal 25 Stunden davon können sie für das Studium aufwenden, der Rest fällt für Arbeit und die Kategorie Haus- und Familienarbeit an.
Fehlmann ist sich bewusst: Die Hochschulen alleine werden dies nicht lösen können. Gesellschaftlich seien die gängigen familiären Rollenbilder und Arbeitsmodelle ein Problem, politisch würde zu wenig gemacht: „Familienbetreuung liegt bis heute meist in den Händen der Familien und Frauen. Letztere haben häufig das Gefühl, allem gerecht werden zu müssen: Studium, Nebenjob und Kind. Doch für die meisten ist das viel zu viel und führt zu Überlastung.“
Schwanger im Studium
Auch Juliana* kommt an ihr Limit. Sie schaltet sich per Videogespräch dazu und erzählt, dass sie gelernte Pflegefachfrau ist und in der Psychiatrie arbeitet. Schnell wurde ihr aber klar: „In diesem Beruf will ich nicht alt werden.“ Also begann sie, an der Universität Bern zu studieren. Im Bachelor bekam sie ein Kind. Sie erzählt: „Zu Beginn musste ich mich erst kundig machen. Es fehlte an klaren Informationen über Hilfsangebote vonseiten der Universität und dem Kanton.“
Die Situation für die werdende Mutter war kritisch: Ihr Ehemann, der Vater des Kindes, hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, ihre Eltern leben im Ausland. Sie muss sich ihr Studium komplett selbst finanzieren und beginnt nach der Geburt wieder zu arbeiten. „Ich musste am Wochenende Nachtschichten in der Psychiatrie übernehmen“, sagt sie. Zeit für die Familie oder gar die Beziehung blieb wenig, soziale Kontakte mussten hintangestellt werden.
An manchen Tagen brachte sie ihr Kind – dank der Subventionen halbwegs kostengedeckt – in der Krippe der Universität Bern unter. Eine Betreuung über die ganze Woche konnte sie sich aber trotzdem nicht leisten und arbeitete deshalb am Wochenende, wenn ihr Mann zu Hause war.
Rückblickend war der Alltag sehr schwierig, manchmal einer Zwickmühle gleich. Sofern ihr Ehemann einen Job hatte, war sie hauptverantwortlich für das Kind. Und wenn er keinen hatte, wurde das Geld knapp. „Studieren wurde immer als ein zeitintensives Hobby dargestellt. Dem ist nicht so, neben Arbeit und Kind war ich am Ende so richtig ausgebrannt.“
Mehrfach überlegte sich Juliana, das Studium hinzuwerfen, doch nun ist der Abschluss ganz nah. Ihr fehlt nur noch die Masterarbeit und dann ist sie, nach acht Jahren Studium, fertig. „Endlich, ich bin so richtig froh darüber“, seufzt sie in die Kamera.
Zwischen fehlenden Zahlen und Musterstudium
Seit der BFS-Studie von 2009 hat keine staatliche Stelle ausführliche Daten über Studierende mit Kind gesammelt. Dies, obwohl das BFS damals feststellte, dass die im europäischen Vergleich geringe Anzahl an Studierenden mit Kindern am Fehlen von Betreuungsinfrastruktur und Studienteilzeitangeboten liege. Es gäbe also einen enormen Handlungsbedarf, der durch weitere Studien begleitet werden müsse.
Das ist nicht passiert. Die neuesten Zahlen zum Thema Studium und Kind stammen ausgerechnet von der Studierendenschaft selber. Seit dem Jahr 2017 macht die Studierendenschaft der Universität Bern (SUB) alle drei Jahre eine Umfrage, die unter anderem auch konkrete Fragen zur Elternschaft an der Uni beinhaltet. Aufgrund freiwilliger Teilnahme haben zwar nur 10 Prozent der Studierenden teilgenommen, die Ergebnisse fielen aber trotzdem klar aus.
Nur 42 Prozent der Eltern kannten das Kinderbetreuungsangebot der Universität Bern. Andere Angebote wie etwa der Eltern-Kind-Raum waren in manchen Fakultäten gerade einmal 21 Prozent der Studierenden mit Kindern bekannt. Ebenfalls sagte eine Mehrzahl der Eltern aus, dass das fehlende Angebot an Krippen und Kitas sie in ihrem Studium extrem einschränken würde: Sie können gewisse Kurse nicht besuchen, das Studium würde neben der Kinderbetreuung zur Nebensache.
Natascha Flückiger von der SUB ist überzeugt, ein Grundproblem liege darin, wie heutzutage das Studium gesehen werde: „Es wird von einem Typ von Studierenden ausgegangen, die direkt vom Gymnasium kommen und sich 100 Prozent ihrem Studium hingeben. Dabei wird verkannt, dass die Wege zu einem Studium vielfältig sind und Studierende neben ihrem Studium arbeiten, andere Engagements leisten oder Care-Arbeit übernehmen.“ Jede aussenstehende Aktivität kann zu Überlastung, Verlängerung der Studienzeit oder beidem führen. Die Universitäten gehen also von einem falschen Verständnis der Studierenden aus und vernachlässigen deren komplexen Lebensrealitäten.
Dabei trifft es vor allem Mütter. Flückiger von der Studierendenschaft sieht auch die gegenwärtige Wissenschaftskultur als Problem: „Die Studierenden und Dozierenden sollen sich einzig ihrem Fach widmen, ihr privates Leben wird dabei ausser Acht gelassen. Auf individuelle Bedürfnisse zu reagieren, liegt daher für die Universitäten nicht drinnen.“ Männer können diesem akademischen Rollenbild viel eher entsprechen, da Frauen viel häufiger die Care-Arbeit im Haushalt übernehmen, wie das BFS bereits 2009 aufzeigte.
Handeln ohne Macht
Im Zuge der Studie von 2009 und aufgrund einer starken Nachfrage nach universitären Krippenplätzen bauten viele Hochschulen ihr Angebot für Eltern mit Kind aus. Die Universität Bern nahm damals den Bau von 30 weiteren Kitaplätzen in Angriff.
Claudia Willen war damals schon Gleichstellungsbeauftragte in Bern. Im Gespräch mit das Lamm begrüsst sie die Umfrage der SUB und meint, dass ihre Politik zum Teil auf dieser aufbauen würde. Aus Gründen des Datenschutzes hätten sie selbst bisher keine breit angelegten Umfragen durchführen können.
Sie ist der Meinung, dass es an einer Sensibilisierung fehle: „Gerade deswegen stellen wir im öffentlichen Raum der Uni Angebote für Eltern und Kinder auf.“ In den Bibliotheken gibt es Spielecken und an unterschiedlichen Orten Räume, wo sich Eltern mit ihren Kindern aufhalten und austauschen können.
Ein grosses Problem für Eltern liegt aber konkret in den unflexiblen Studienplänen. Besonderen Handlungsbedarf sieht Willen in den Studienbereichen mit zeitintensiven Praktika: „Die medizinischen Studiengänge haben zum Teil Wochenend- oder 24-Stunden-Dienste. Ohne Zugeständnisse durch Vorgesetzte und Teams sind diese Situationen für Eltern kaum zu managen.“
Resigniert stellt die Gleichstellungsbeauftragte fest, dass zwar regelmässig Treffen mit Eltern und Studienvertreter:innen durchgeführt würden, sie aber kaum die Studienpläne beeinflussen könne: „Die Fakultäten sind kleine Königreiche, wir können da nur Empfehlungen aussprechen.“
Und jetzt?
Gioia und Juliana sind sich einig: Eigentlich bräuchte es einen Systemwandel, doch konkret fehlt es an staatlicher Unterstützung und einem einheitlichen System, das Studierende mit Kindern unterstützt. Dabei wären vergleichbar kleine Gesten schon wichtig und wertvoll. Juliana sagt: „Ich wäre froh um mehr finanzielle Entlastung. Eine Senkung der Studiengebühren wäre ein wichtiger Schritt.“
Die Gleichstellungsbeauftragten der ZHAW und Universität Bern sehen die Verantwortung in der Politik: „Kitaplätze müssen weiterhin ausgebaut und kostenlos angeboten werden“, so Willen. „Sofern wir das Studium auch als Arbeit verstehen, sollte hier der gleiche rechtliche Schutz stattfinden wie auch für Angestellte“, fügt Fehlmann an. Dies findet so allerdings noch nicht statt.
Fehlmann und Willen verweisen derweil auf das nahe Ausland: „Die Schweiz ist in diesem Bereich rückständig“, so Fehlmann, denn sowohl Frankreich, Österreich oder auch Deutschland haben deutlich attraktivere Modelle, was die Vereinbarkeit von Studium und Kind angeht. Sei es im Bereich der Kindergartenplätze oder auch in der finanziellen Unterstützung. Studierende mit Kindern brauchen einen einfacheren und direkteren Zugang zu Hilfsmassnahmen.
*Die beiden betroffenen Frauen zogen es vor, nur beim Vornamen genannt zu werden.
Das Lamm hat versucht, auch mit Vätern in Kontakt zu treten. Bis Redaktionsschluss war dies nicht möglich.
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