Du dach­test, dass die anderen an den Klima­pro­test gehen

Acht Gründe, weshalb du damals, im August 2021 nicht an die Protest­woche Rise Up For Change gegangen bist. Ein Listicle aus der Zukunft. 
Illustration: Jaski (Instagram: @jaski_art)

Das Listicle aus der Zukunft ist mit anderem Inhalt bereits vor dem letzten Rise Up For Change vor knapp einem Jahr erschienen.


Es ist Abend. Du hast deine Kinder gerade ins Bett gebracht und ihnen wie jeden Tag einen Gute­nacht­kuss auf die Stirn gedrückt. Als du nach­schaust, ob die elek­tri­schen Mücken­fallen und die Feuer­melder einge­schaltet sind, läufst du am farben­frohen Kalender vorbei, der im Trep­pen­auf­gang hängt. Du hast ihn von deinen Kindern zu Weih­nachten gekriegt. Er besteht aus Erin­ne­rungs­fotos der vergan­genen Jahre.

Heute ist der 2. August. Trotzdem strahlen dir immer noch die Fotos vom Kalen­der­blatt Juli entgegen. Du nimmst den Kalender von der Wand, um zum aktu­ellen Monat umzu­blät­tern: August 2042.

In der Mitte klebt ein Bild von dir und deinen Jugendfreund:innen mit einem sommer­li­chen Drink in der Hand. Im Hinter­grund der türkis­far­bene Ozean, weisser Sand­strand und ein Kellner mit einem Mund­na­sen­schutz. Das Bild muss während des zweiten Corona-Sommers entstanden sein, als du allen Quaran­tänen zum Trotz auf die Male­diven geflogen warst. Also zu der Zeit, in der die Klima­pro­teste so richtig Fahrt aufnahmen. Und du fragst dich, wieso du eigent­lich nicht dabei warst bei den Klima­demos und den grossen Protestwochen.

1) Du hattest halt leider einen Kater

Einmal wärst du fast mitge­gangen. Du hattest sogar schon so halb mit einer Freundin abge­macht, dass ihr zusammen hingehen würdet. Und du magst dich noch daran erin­nern, dass sich diese Freundin schon gegen Mitter­nacht von der spon­tanen Bier­runde im sommer­li­chen Park verab­schiedet hatte. Die Begrün­dung: Sie wolle am näch­sten Tag fit sein für die Demo.

Kurz hattest du noch über­legt, sie zu fragen, wo sie denn eigent­lich starten werde, die Demo. Aber die dummen Sprüche der anderen Kolleg:innen waren leider lauter. Und du hattest gedacht, du könn­test sie dann ja morgen früh noch fragen. Doch dem fröh­li­chen Abend folgte ein unfreund­li­cher Kater und aus der Demo wurde dann leider doch nichts mehr. Immerhin nahmst du dir vor, dir das nächste Protest-Datum in die Agenda zu schreiben.

2) Du hattest halt Fernweh

Aber als deine Freun­dinnen gerade für diese Woche damit begannen, den gemein­samen Strand­ur­laub zu planen, klappte es dann halt doch nicht. Nach den langen Corona-Einschrän­kungen sei dieser spezi­elle Urlaub auch wirk­lich verdient, dach­test du damals.

Als deine Kinder beim Basteln des Kalen­ders aber von dir wissen wollten, wo denn dieser wunder­schöne Ort mit den Palmen und den weissen Stränden sei und ob man nicht mal dorthin gehen könne, warst du froh, dass die zwei noch klein genug waren, um der Antwort auszuweichen.

Denn jedes Kind weiss heute, dass es vor der Klima­neu­tra­lität wunder­schöne Inseln gegeben hat, die aber im Meer versunken sind, weil wir unseren CO2-Ausstoss damals nicht im Griff hatten. In ein, zwei Jahren wirst du dich den unan­ge­nehmen Fragen deiner Kinder aber stellen müssen, das ist dir heute klar.

3) Du hattest wohl Mücken­netze und Himmel­betten verwechselt

Auf den Male­diven hattest du auch zum ersten Mal unter einem Mücken­netz geschlafen. Du erin­nerst dich daran, dass dir das ganz roman­tisch erschienen war – ein biss­chen wie ein Himmelbett.

Wenn dir heute wieder einmal die Bett­decke an der Haut klebt, weil es draussen auch in der Nacht tropisch warm bleibt, wünschst du dir, dass das biss­chen Luftzug, das durch die Fenster weht, wenig­stens nicht noch von deinem Moski­to­netz zurück­ge­halten würde.

Zwar hattest du schon damals Artikel darüber gelesen, dass mit stei­genden Tempe­ra­turen tropi­sche Krank­heiten wie Malaria oder das Dengue-Fieber in die Schweiz kommen könnten. Dass du heute nach der Dämme­rung aber lieber nicht mehr draussen sitzen willst und die Sommer­abende trotz tropi­scher Tempe­ra­turen in der mücken­si­cheren Stube verbringst – daran hattest du damals nicht gedacht. Heute fragst du dich, wo sich denn deine Kinder mit ihren Freund:innen dereinst zum Sommer­abend­bier treffen werden.

4) Du dach­test, Corona gehe dann schon wieder weg

Auch wenn es die Male­diven heute noch gäbe, würdest du wohl kaum mit deinen zwei Kindern dorthin fahren. Nicht nur, weil es natür­lich klima­mässig nicht drin­liegt, sondern auch wegen der Pandemieregeln.

Denn mit diesen immer wieder wech­selnden Quaran­tä­ne­re­geln und Einrei­se­be­schrän­kungen muss man heute maximal flexibel sein, wenn man weiter wegreisen will. Mit zwei Kindern geht das einfach nicht.

Und späte­stens nach deiner fünften Pandemie war dir klar, dass es eben nicht einfach Pech war, dass dieses Virus von den Fleder­mäusen zu den Menschen gewan­dert ist. Zwar kannst du dich schon an einen Beitrag auf Arte erin­nern, der aufge­zeigt hatte, dass Klima­schutz präven­tiver Pande­mie­schutz ist. Aber dass diese Pande­mie­re­geln zur Norm werden könnten, hattest du damals nicht auf dem Schirm.

Sicher: Sie sind mal mehr und mal weniger streng. Aber Urlaubs­pla­nung wie damals ist nicht mehr möglich. Vor allem nicht, wenn es um Länder des Globalen Südens geht. Die sind nämlich bei jeder Pandemie die Letzten, die eine Impfung kriegen.

5) Du dach­test wohl, das mit den ganzen Menschen auf der Flucht betreffe dich ja nicht direkt

Und an die para­die­si­schen Strände des Globalen Südens reisen heute sowieso keine Tourist:innen mit Sonnen­brille und Bikini mehr, sondern Söldner:innen mit Sturm­ge­wehr und Tarn­anzug. Zwar hattest du schon damals mitge­kriegt, dass in Mada­gaskar Tausenden von Menschen wegen der Klima­krise der Hungertod drohte. Dass noch weitere hundert Millionen Menschen wegen Hurri­kans, Über­schwem­mungen und Dürren dazu gezwungen werden würden, ihre Heimat zu verlassen, drang zwar bis zu Wiki­pedia, aber nicht bis zu dir vor – jeden­falls nicht so richtig.

Du magst dich daran erin­nern, dass die EU schon damals Millionen von Franken inve­stiert hatte, um Geflüch­tete davon abzu­halten, nach Europa einzu­reisen. Auch Medi­en­be­richte, die zeigten, wie der euro­päi­sche Grenz­schutz Frontex schon damals Menschen­rechte verletzt hat, hatten dich jeweils kurz erzürnt. Heute fragst du dich, weshalb man dieses Geld nicht für einen effi­zi­enten Klima­schutz einge­setzt hatte. Dann müssten sich heute viel­leicht ein paar Millionen Menschen weniger auf den Weg machen.

Und du fragst dich auch, ob du dir damals eigent­lich je wirk­lich über­legt hattest, wie sich die Menschen auf den über­füllten Booten mitten auf dem Meer gefühlt haben müssen. Oder ob du unter deiner Empö­rung insge­heim einfach froh warst, dass das Ganze nicht direkt etwas mit dir zu tun hatte – noch nicht. Heute trennt eine Mauer von Frontex-Booten Afrika von Europa. Es wird geschossen und du fürch­test dich vor dem Tag, an dem deine Kinder für den obli­ga­to­ri­schen Dienst einge­zogen werden.

6) Du dach­test, die Klima­pro­teste seien zu radikal

Du erin­nerst dich daran, dass du ein paar Wochen nach der grossen Protest­woche die Freundin wieder trafst, mit der du dich im Park eigent­lich für die Klima­demo verab­redet hattest. Sie war ziem­lich sauer auf dich. Nicht nur, weil du sie einfach hattest sitzen lassen, sondern auch, weil du auf die Male­diven in den Urlaub geflogen warst, statt für das Klima zu kämpfen. „Wie ich meinen Urlaub gestalte, darf ich wohl immer noch selbst entscheiden!“, hattest du ihr damals entgegnet, denn das war dir jetzt endgültig zu radikal.

Heute denkst du anders darüber. Denn radikal waren die anderen: die Regierungsvertreter:innen und die CEOs von Konzernen, die damals bewusst in Kauf genommen hatten, dass dein Leben und das deiner Kinder schwerer sein würde als das ihrige. Dass es viel­mehr diese profit­geile und igno­rante Ego-Truppe war, die sich bereits damals radikal nicht an die geltende Gesetz­ge­bung hielt, hätte dir eigent­lich schon damals auffallen können. Späte­stens als die Gerichte entschieden, dass das dama­lige deut­sche Klima­ge­setz verfas­sungs­widrig war und Shell per Gerichts­ent­schluss dazu gezwungen wurde, die Treib­haus­gase massiv zu redu­zieren, wäre ja eigent­lich klar gewesen, welche Seite wirk­lich radikal war.

Dass Shell und Co. mit ihrem Verhalten deine Frei­heiten noch um einiges mehr beschränken würden als nur in der Wahl der näch­sten Feri­en­de­sti­na­tion, war dir damals aber noch nicht klar.

7) Du dach­test wohl, dass mit diesen Riesen­bränden sei nur in Kanada und Kali­for­nien ein Problem

Lange warst du dir nicht sicher, ob das mit den Feuern nun schlimmer würde oder nicht. Früher hat es ja auch immer wieder mal gebrannt. Viel­leicht war das ja ganz normal. Aber wenn du heute darüber nach­denkst, dann hättest du es nach dem Brand in Lytton schon merken können.

Denn dort wüteten die Feuer, obwohl es in dieser Region in Kanada im Sommer eigent­lich gar nicht so heiss und trocken war. Du hattest damals sogar noch das Klima­dia­gramm von Lytton gegoo­gelt und warst erstaunt, dass die Maxi­mal­tem­pe­ra­turen dort tiefer ange­geben waren als in Zürich. Laut Klima­dia­gramm klet­tert das Ther­mo­meter in Lytton sonst nur auf 15 Grad. Und trotzdem kam es dort im Sommer 2021 zu 50 Grad. Ein Blitz­schlag hatte dann genügt, um die trockene Vege­ta­tion in Brand zu setzen. Dieser zerstörte das gesamte Dorf und tötete mehrere Menschen.

Du erin­nerst dich daran, kurz darüber nach­ge­dacht zu haben, dass das dann ja auch in der Schweiz passieren könnte. Dass du und deine Freund:innen heute alle nicht nur eine Feuer- sondern auch eine Hagel‑, Sturm‑, Über­schwem­mungs- und Erdrutsch­ver­si­che­rung haben, das hättest du damals nicht gedacht. Die sind zwar sauteuer, aber wer es sich leisten kann, nimmt das gerne in Kauf. Denn alle kennen eine Person, der schon das ganze Leben abge­brannt ist oder wegge­schwemmt wurde. Natür­lich hättest du gern mehr Zeit für deine Kinder. Doch dann würde es wohl kaum für alle Versi­che­rungen reichen.

8) Ihr wolltet halt die Kirschen pflücken

Einmal hattest du den Klima­streik auch verpasst, weil ihr halt gerade an diesem Datum abge­macht hattet, um die Kirschen in deinem Garten zu pflücken. Und du erin­nerst dich daran, dass ihr auch dabei darüber geredet hattet, dass die Klima­strei­kenden schon ein biss­chen radikal seien mit ihren Forde­rungen. Klar, man müsse schon etwas unter­nehmen gegen den Klima­wandel, aber das müsse dann halt schon auch noch wirt­schaft­lich tragbar sein.

Heute denkst du dabei an deinen Onkel im Wallis. Er hat früher vom Apri­ko­sen­anbau und dem Rebbau gelebt. Schon 2021 erfroren ihm beinahe alle Apri­ko­sen­blüten. Kurz darauf machten der Hagel und die laufenden Unwetter die Wein­trauben platt. Und zuletzt riss eine Schlamm­la­wine noch sein Haus weg. Heute lebt dein Onkel von der Sozialhilfe.

Und auch dein Kirsch­baum steht nicht mehr. Schon vor mehreren Jahren wurde er von einem Tornado entwur­zelt. Immer wenn du von deinem Balkon aus auf die Stelle blickst, wo der Baum früher stand, musst du daran denken, dass bereits 2021 der erste Tornado in Europa auftauchte. Aber obwohl der in Tsche­chien ein ganzes Dorf flach machte, schafften es die Regie­rungen damals nicht, Netto-null konse­quent anzusteuern.

Heute denkst du, dass du damals gar nicht so viel nach­ge­dacht hattest. Es hätte Wich­ti­geres gegeben, als Bier zu trinken und in die Ferien zu fliegen. Und die Kirschen hättet ihr auch noch am näch­sten Tag pflücken können. Wer weiss: Viel­leicht wäre der Kirsch­baum jetzt noch da, wenn damals mehr Leute auf die Strasse gegangen wären. Zwar konn­test du noch einmal die Male­diven sehen, bevor sie ganz im Meer versunken sind. Aber das ist dir heute ehrlich gesagt peinlich.

Während du eine Gute-Nacht-Whatsapp an deine Schwe­ster schickst, die gerade im Frontex-Dienst ist und auf deiner WarnApp über­prüfst, ob euer Hahnen­wasser trotz anhal­tender Stark­re­gen­lage nach wie vor trinkbar ist, kriechst du unter dein Moski­to­netz und fragst dich, wie es wohl gekommen wäre, wenn du damals im August 2021 mit deinen Freund:innen anstatt auf die Male­diven an die Klima­pro­test­woche Rise Up For Change gegangen wärst.


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