Das Listicle aus der Zukunft ist mit anderem Inhalt bereits vor dem letzten Rise Up For Change vor knapp einem Jahr erschienen.
Es ist Abend. Du hast deine Kinder gerade ins Bett gebracht und ihnen wie jeden Tag einen Gutenachtkuss auf die Stirn gedrückt. Als du nachschaust, ob die elektrischen Mückenfallen und die Feuermelder eingeschaltet sind, läufst du am farbenfrohen Kalender vorbei, der im Treppenaufgang hängt. Du hast ihn von deinen Kindern zu Weihnachten gekriegt. Er besteht aus Erinnerungsfotos der vergangenen Jahre.
Heute ist der 2. August. Trotzdem strahlen dir immer noch die Fotos vom Kalenderblatt Juli entgegen. Du nimmst den Kalender von der Wand, um zum aktuellen Monat umzublättern: August 2042.
In der Mitte klebt ein Bild von dir und deinen Jugendfreund:innen mit einem sommerlichen Drink in der Hand. Im Hintergrund der türkisfarbene Ozean, weisser Sandstrand und ein Kellner mit einem Mundnasenschutz. Das Bild muss während des zweiten Corona-Sommers entstanden sein, als du allen Quarantänen zum Trotz auf die Malediven geflogen warst. Also zu der Zeit, in der die Klimaproteste so richtig Fahrt aufnahmen. Und du fragst dich, wieso du eigentlich nicht dabei warst bei den Klimademos und den grossen Protestwochen.
1) Du hattest halt leider einen Kater
Einmal wärst du fast mitgegangen. Du hattest sogar schon so halb mit einer Freundin abgemacht, dass ihr zusammen hingehen würdet. Und du magst dich noch daran erinnern, dass sich diese Freundin schon gegen Mitternacht von der spontanen Bierrunde im sommerlichen Park verabschiedet hatte. Die Begründung: Sie wolle am nächsten Tag fit sein für die Demo.
Kurz hattest du noch überlegt, sie zu fragen, wo sie denn eigentlich starten werde, die Demo. Aber die dummen Sprüche der anderen Kolleg:innen waren leider lauter. Und du hattest gedacht, du könntest sie dann ja morgen früh noch fragen. Doch dem fröhlichen Abend folgte ein unfreundlicher Kater und aus der Demo wurde dann leider doch nichts mehr. Immerhin nahmst du dir vor, dir das nächste Protest-Datum in die Agenda zu schreiben.
2) Du hattest halt Fernweh
Aber als deine Freundinnen gerade für diese Woche damit begannen, den gemeinsamen Strandurlaub zu planen, klappte es dann halt doch nicht. Nach den langen Corona-Einschränkungen sei dieser spezielle Urlaub auch wirklich verdient, dachtest du damals.
Als deine Kinder beim Basteln des Kalenders aber von dir wissen wollten, wo denn dieser wunderschöne Ort mit den Palmen und den weissen Stränden sei und ob man nicht mal dorthin gehen könne, warst du froh, dass die zwei noch klein genug waren, um der Antwort auszuweichen.
Denn jedes Kind weiss heute, dass es vor der Klimaneutralität wunderschöne Inseln gegeben hat, die aber im Meer versunken sind, weil wir unseren CO2-Ausstoss damals nicht im Griff hatten. In ein, zwei Jahren wirst du dich den unangenehmen Fragen deiner Kinder aber stellen müssen, das ist dir heute klar.
3) Du hattest wohl Mückennetze und Himmelbetten verwechselt
Auf den Malediven hattest du auch zum ersten Mal unter einem Mückennetz geschlafen. Du erinnerst dich daran, dass dir das ganz romantisch erschienen war – ein bisschen wie ein Himmelbett.
Wenn dir heute wieder einmal die Bettdecke an der Haut klebt, weil es draussen auch in der Nacht tropisch warm bleibt, wünschst du dir, dass das bisschen Luftzug, das durch die Fenster weht, wenigstens nicht noch von deinem Moskitonetz zurückgehalten würde.
Zwar hattest du schon damals Artikel darüber gelesen, dass mit steigenden Temperaturen tropische Krankheiten wie Malaria oder das Dengue-Fieber in die Schweiz kommen könnten. Dass du heute nach der Dämmerung aber lieber nicht mehr draussen sitzen willst und die Sommerabende trotz tropischer Temperaturen in der mückensicheren Stube verbringst – daran hattest du damals nicht gedacht. Heute fragst du dich, wo sich denn deine Kinder mit ihren Freund:innen dereinst zum Sommerabendbier treffen werden.
4) Du dachtest, Corona gehe dann schon wieder weg
Auch wenn es die Malediven heute noch gäbe, würdest du wohl kaum mit deinen zwei Kindern dorthin fahren. Nicht nur, weil es natürlich klimamässig nicht drinliegt, sondern auch wegen der Pandemieregeln.
Denn mit diesen immer wieder wechselnden Quarantäneregeln und Einreisebeschränkungen muss man heute maximal flexibel sein, wenn man weiter wegreisen will. Mit zwei Kindern geht das einfach nicht.
Und spätestens nach deiner fünften Pandemie war dir klar, dass es eben nicht einfach Pech war, dass dieses Virus von den Fledermäusen zu den Menschen gewandert ist. Zwar kannst du dich schon an einen Beitrag auf Arte erinnern, der aufgezeigt hatte, dass Klimaschutz präventiver Pandemieschutz ist. Aber dass diese Pandemieregeln zur Norm werden könnten, hattest du damals nicht auf dem Schirm.
Sicher: Sie sind mal mehr und mal weniger streng. Aber Urlaubsplanung wie damals ist nicht mehr möglich. Vor allem nicht, wenn es um Länder des Globalen Südens geht. Die sind nämlich bei jeder Pandemie die Letzten, die eine Impfung kriegen.
5) Du dachtest wohl, das mit den ganzen Menschen auf der Flucht betreffe dich ja nicht direkt
Und an die paradiesischen Strände des Globalen Südens reisen heute sowieso keine Tourist:innen mit Sonnenbrille und Bikini mehr, sondern Söldner:innen mit Sturmgewehr und Tarnanzug. Zwar hattest du schon damals mitgekriegt, dass in Madagaskar Tausenden von Menschen wegen der Klimakrise der Hungertod drohte. Dass noch weitere hundert Millionen Menschen wegen Hurrikans, Überschwemmungen und Dürren dazu gezwungen werden würden, ihre Heimat zu verlassen, drang zwar bis zu Wikipedia, aber nicht bis zu dir vor – jedenfalls nicht so richtig.
Du magst dich daran erinnern, dass die EU schon damals Millionen von Franken investiert hatte, um Geflüchtete davon abzuhalten, nach Europa einzureisen. Auch Medienberichte, die zeigten, wie der europäische Grenzschutz Frontex schon damals Menschenrechte verletzt hat, hatten dich jeweils kurz erzürnt. Heute fragst du dich, weshalb man dieses Geld nicht für einen effizienten Klimaschutz eingesetzt hatte. Dann müssten sich heute vielleicht ein paar Millionen Menschen weniger auf den Weg machen.
Und du fragst dich auch, ob du dir damals eigentlich je wirklich überlegt hattest, wie sich die Menschen auf den überfüllten Booten mitten auf dem Meer gefühlt haben müssen. Oder ob du unter deiner Empörung insgeheim einfach froh warst, dass das Ganze nicht direkt etwas mit dir zu tun hatte – noch nicht. Heute trennt eine Mauer von Frontex-Booten Afrika von Europa. Es wird geschossen und du fürchtest dich vor dem Tag, an dem deine Kinder für den obligatorischen Dienst eingezogen werden.
6) Du dachtest, die Klimaproteste seien zu radikal
Du erinnerst dich daran, dass du ein paar Wochen nach der grossen Protestwoche die Freundin wieder trafst, mit der du dich im Park eigentlich für die Klimademo verabredet hattest. Sie war ziemlich sauer auf dich. Nicht nur, weil du sie einfach hattest sitzen lassen, sondern auch, weil du auf die Malediven in den Urlaub geflogen warst, statt für das Klima zu kämpfen. „Wie ich meinen Urlaub gestalte, darf ich wohl immer noch selbst entscheiden!“, hattest du ihr damals entgegnet, denn das war dir jetzt endgültig zu radikal.
Heute denkst du anders darüber. Denn radikal waren die anderen: die Regierungsvertreter:innen und die CEOs von Konzernen, die damals bewusst in Kauf genommen hatten, dass dein Leben und das deiner Kinder schwerer sein würde als das ihrige. Dass es vielmehr diese profitgeile und ignorante Ego-Truppe war, die sich bereits damals radikal nicht an die geltende Gesetzgebung hielt, hätte dir eigentlich schon damals auffallen können. Spätestens als die Gerichte entschieden, dass das damalige deutsche Klimagesetz verfassungswidrig war und Shell per Gerichtsentschluss dazu gezwungen wurde, die Treibhausgase massiv zu reduzieren, wäre ja eigentlich klar gewesen, welche Seite wirklich radikal war.
Dass Shell und Co. mit ihrem Verhalten deine Freiheiten noch um einiges mehr beschränken würden als nur in der Wahl der nächsten Feriendestination, war dir damals aber noch nicht klar.
7) Du dachtest wohl, dass mit diesen Riesenbränden sei nur in Kanada und Kalifornien ein Problem
Lange warst du dir nicht sicher, ob das mit den Feuern nun schlimmer würde oder nicht. Früher hat es ja auch immer wieder mal gebrannt. Vielleicht war das ja ganz normal. Aber wenn du heute darüber nachdenkst, dann hättest du es nach dem Brand in Lytton schon merken können.
Denn dort wüteten die Feuer, obwohl es in dieser Region in Kanada im Sommer eigentlich gar nicht so heiss und trocken war. Du hattest damals sogar noch das Klimadiagramm von Lytton gegoogelt und warst erstaunt, dass die Maximaltemperaturen dort tiefer angegeben waren als in Zürich. Laut Klimadiagramm klettert das Thermometer in Lytton sonst nur auf 15 Grad. Und trotzdem kam es dort im Sommer 2021 zu 50 Grad. Ein Blitzschlag hatte dann genügt, um die trockene Vegetation in Brand zu setzen. Dieser zerstörte das gesamte Dorf und tötete mehrere Menschen.
Du erinnerst dich daran, kurz darüber nachgedacht zu haben, dass das dann ja auch in der Schweiz passieren könnte. Dass du und deine Freund:innen heute alle nicht nur eine Feuer- sondern auch eine Hagel‑, Sturm‑, Überschwemmungs- und Erdrutschversicherung haben, das hättest du damals nicht gedacht. Die sind zwar sauteuer, aber wer es sich leisten kann, nimmt das gerne in Kauf. Denn alle kennen eine Person, der schon das ganze Leben abgebrannt ist oder weggeschwemmt wurde. Natürlich hättest du gern mehr Zeit für deine Kinder. Doch dann würde es wohl kaum für alle Versicherungen reichen.
8) Ihr wolltet halt die Kirschen pflücken
Einmal hattest du den Klimastreik auch verpasst, weil ihr halt gerade an diesem Datum abgemacht hattet, um die Kirschen in deinem Garten zu pflücken. Und du erinnerst dich daran, dass ihr auch dabei darüber geredet hattet, dass die Klimastreikenden schon ein bisschen radikal seien mit ihren Forderungen. Klar, man müsse schon etwas unternehmen gegen den Klimawandel, aber das müsse dann halt schon auch noch wirtschaftlich tragbar sein.
Heute denkst du dabei an deinen Onkel im Wallis. Er hat früher vom Aprikosenanbau und dem Rebbau gelebt. Schon 2021 erfroren ihm beinahe alle Aprikosenblüten. Kurz darauf machten der Hagel und die laufenden Unwetter die Weintrauben platt. Und zuletzt riss eine Schlammlawine noch sein Haus weg. Heute lebt dein Onkel von der Sozialhilfe.
Und auch dein Kirschbaum steht nicht mehr. Schon vor mehreren Jahren wurde er von einem Tornado entwurzelt. Immer wenn du von deinem Balkon aus auf die Stelle blickst, wo der Baum früher stand, musst du daran denken, dass bereits 2021 der erste Tornado in Europa auftauchte. Aber obwohl der in Tschechien ein ganzes Dorf flach machte, schafften es die Regierungen damals nicht, Netto-null konsequent anzusteuern.
Heute denkst du, dass du damals gar nicht so viel nachgedacht hattest. Es hätte Wichtigeres gegeben, als Bier zu trinken und in die Ferien zu fliegen. Und die Kirschen hättet ihr auch noch am nächsten Tag pflücken können. Wer weiss: Vielleicht wäre der Kirschbaum jetzt noch da, wenn damals mehr Leute auf die Strasse gegangen wären. Zwar konntest du noch einmal die Malediven sehen, bevor sie ganz im Meer versunken sind. Aber das ist dir heute ehrlich gesagt peinlich.
Während du eine Gute-Nacht-Whatsapp an deine Schwester schickst, die gerade im Frontex-Dienst ist und auf deiner WarnApp überprüfst, ob euer Hahnenwasser trotz anhaltender Starkregenlage nach wie vor trinkbar ist, kriechst du unter dein Moskitonetz und fragst dich, wie es wohl gekommen wäre, wenn du damals im August 2021 mit deinen Freund:innen anstatt auf die Malediven an die Klimaprotestwoche Rise Up For Change gegangen wärst.
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