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Du dach­test, dass die anderen an den Klima­pro­test gehen

Acht Gründe weshalb du damals, im September 2020 nicht an die Protest­woche “Rise up for Change” gegangen bist. Ein Listicle aus der Zukunft. 

Nachdem du wie jeden Abend deinen Kindern einen Gute­nacht­kuss auf die Stirn gedrückt und dich davon über­zeugt hast, dass die elek­tri­schen Mücken­fallen einge­schaltet sind, läufst du am farben­frohen Kalender vorbei, der im Trep­pen­auf­gang hängt. Du hast ihn von deinen Kindern zu Weih­nachten gekriegt. Er ist voll­ge­klebt mit Fotos aus vergan­genen Jahren.

Heute ist der 20. September. Trotzdem strahlen dir immer noch die sommer­li­chen Fotos vom Kalen­der­blatt August entgegen. Du seufzt und nimmst den Kalender von der Wand, um zum aktu­ellen Monat umzu­blät­tern: September 2042.

In der Mitte klebt ein Bild von dir und deinen dama­ligen Freund*innen vor einer Glet­scher­zunge, die es heute nicht mehr gibt. Neben euch stehen Tourist*innen mit Atem­schutz­masken. Das Bild muss im Corona-Jahr entstanden sein, denkst du – im Klima­pro­testherbst. Und du fragst dich, wieso du eigent­lich nicht dabei warst bei der grossen Protest­woche in Bern.

1) Du dach­test wohl, du müss­test zügeln, arbeiten und ins Fitness­studio gehen

Oder du hattest halt einfach schon zum Bier trinken mit deinen Freund*innen abge­macht. Einmal lief der Klima­streik sogar an eurem Tisch in der Stras­sen­beiz vorbei. Und kurz hattest du darüber nach­ge­dacht, einfach aufzu­stehen und mitzu­laufen. Doch der nächste Schluck des kühlen Biers wischte diesen Gedanken wieder weg. Immerhin hast du dir vorge­nommen, dir das nächste Klima­streik-Datum in die Agenda zu schreiben. Aber als dein Freun­des­kreis dann anfing, genau für dieses Wochen­ende einen Kurz­trip nach Berlin zu planen, wars dann doch nicht mehr so wichtig. Wenn du nichts vorge­habt hättest, wärst du ja schon hinge­gangen. Aber es hat halt gerade nicht so gepasst. Und es sind doch sicher genug andere hingegangen.

2) Du dach­test wohl, das mit Corona sei halt einfach blöd gelaufen

Also dass dieses Virus von den Fleder­mäusen zu den Menschen wanderte. Aber wenn du jetzt, fünf Pande­mien später, darüber nach­denkst, kannst du dich vage an einen Artikel auf Zeit Online erin­nern, der aufzeigte, dass Klima­schutz ja auch Biodi­ver­si­täts­schutz und das wiederum präven­tiver Pande­mie­schutz sei. Und auch die Beiträge, die davon spra­chen, dass mit stei­genden Tempe­ra­turen tropi­sche Krank­heiten wie Malaria oder das Dengue-Fieber in die Schweiz kommen könnten, hast du eigent­lich schon damals wahr­ge­nommen. Dass du heute nach der Dämme­rung aber lieber nicht mehr draussen sitzen willst und die Sommer­abende trotz tropi­scher Tempe­ra­turen in der mücken­si­cheren Stube verbringst – daran hast du damals nicht gedacht.

3) Du dach­test wohl, dass mit diesen Riesen­bränden sei nur in Kali­for­nien und Austra­lien ein Problem

Du fandest es schon krass, dass die Brände in Kali­for­nien so gross waren, dass der Rauch bis nach Europa kam (Tages­themen, 11.09.2020, Minute 31). Dass heute auch in der Schweiz das Anfeuern im Wald wegen zu hoher Brand­ge­fahr eigent­lich durch­ge­hend verboten sein würde, hattest du dir damals aber nicht vorstellen können. Anders als du haben deine Kinder noch nie ein Schlan­gen­brot gemacht. Denn an den wenigen Tagen, an denen das Feuern im Wald erlaubt ist, sind alle Feuer­stellen so rappel­voll, dass ihr euch das nicht antun wollt.

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Illu­stra­tion: Jaski (Insta­gram: @jaski_art)

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4) Du dach­test wohl, es sei wich­tiger, das Toma­ten­beet zu jäten

Und du erin­nerst dich daran, dass ihr beim Jäten darüber geredet habt, dass die Klima­strei­kenden schon ein biss­chen ein Theater machen würden mit den schmel­zenden Glet­schern. Klar, du fandest es schon schade, dass die Glet­scher verschwinden würden. Aber so wichtig schienen diese Eismassen dann auch wieder nicht. Heute nervst du dich darüber, dass ihr in eurem Garten im Sommer nur noch drei Stunden Wasser habt pro Tag und deine Toma­ten­setz­linge immer öfters verdur­sten, bevor sie auch nur eine Tomate getragen haben. Denn die Glet­scher hatten den im Winter gefal­lenen Nieder­schlag im Eis gespei­chert und über den Sommer das Flach­land mit Wasser gespeist. Heute spei­chern die Glet­scher nichts mehr. Sie sind weg. Und die Mauern der Stau­seen, die diese Spei­cher­funk­tion künst­lich ersetzen sollen, sind noch nicht fertig gebaut worden.

5) Du dach­test wohl, du hast jetzt halt schon zum Wandern abgemacht

Und deinen Freund*innen zu erklären, dass du doch lieber an die Klima­pro­teste gehen würdest, war dir ein biss­chen unan­ge­nehm. Und Rumlaufen ist in den Bergen halt schon schöner als in der Stadt. Heute musst du deinen Freund*innen erklären, dass sie zwar schon wie verab­redet bei dir zum Abend­essen vorbei­kommen können, aber dass ihr zuerst wieder einmal zusammen den Keller ausschöpfen müsst, bevor ihr an die Wein­fla­schen kommt. Wieso? Weil das Wasser, das die Glet­scher früher über den Sommer verteilt ins Flach­land entliessen, nun unge­bremst im Früh­ling runter­kommt. Dein Häus­chen im Reus­stal steht dieses Jahr bereits zum dritten Mal unter Wasser. Und der Schim­mel­pilz frisst sich durch die Decke.

6) Du dach­test wohl, der Stadt­bummel mit deiner Gross­mutter sei wichtiger

Du hast dich nämlich schon lange darauf gefreut, mit deiner Oma durch die Gassen zu streifen und in einem Stras­sen­café Cappuc­cino zu trinken. Heute triffst du deine Oma nur noch im Alters­heim. Nicht weil sie die Innen­stadt nicht mehr mögen würde oder nicht mehr so gut zu Fuss wäre. Sondern weil sie Angst hat vor der Hitze und deshalb im klima­ti­sierten Alters­heim bleiben will. Dass bereits damals die Anzahl der Hitze­toten zunahm und dass die Klima­se­nio­rinnen sich sogar auf dem recht­li­chen Weg dagegen gewehrt hatten, hast du schon irgendwie mitge­kriegt. Aber wer konnte schon ahnen, dass es noch so viel heisser wird.

7) Du dach­test wohl, das mit den über­füllten Flücht­lings­camps würde dann schon vorbeigehen

Das ist halt Politik und das geht manchmal ein biss­chen länger. Und als damals das über­füllte Camp in Moria, welches für 3’000 Leute gebaut worden ist, aber von 12’000 bewohnt wurde, abge­brannt ist, dach­test du, dass es nun sicher bald vorwärts­gehen würde in der Migra­ti­ons­po­litik. Dass durch die Klima­krise noch weitere hundert Millionen Menschen wegen Hurri­kans, Über­schwem­mungen und Dürren dazu gezwungen werden würden, ihre Heimat zu verlassen, drang damals zwar bis zu Wiki­pedia, aber nicht bis zu dir vor. Über Trumps Mauer hast du noch gelacht. Die Mauer, die heute Europa von Asien trennt, findest du nicht mehr zum Lachen. Und vor dem Tag, an welchem deine Kinder zum Frontex-Einsatz an der Mauer einbe­rufen werden, fürch­test du dich.

8) Du dach­test wohl, die Wissenschaftler*innen würden dann schon noch etwas erfinden

Etwas, womit das immer knapper werdende Erdöl ersetzt werden kann. Und auch, dass es ja nicht so schlimm sei, wenn das Öl dann einfach irgend­wann aufge­braucht ist. Plastik ist ja sowieso weder schön noch ökolo­gisch. Jetzt wartest du seit drei Jahren darauf, ein neues Hüft­ge­lenk zu kriegen. Denn Plastik wurde ratio­niert. Und du fragst dich, wie man damals auf die Idee gekommen ist, Trink­halme aus diesem wert­vollen Rohstoff herzu­stellen. Auch mit einer grossen Ladung Schmerz­mittel könn­test du keine Berg­touren mehr machen. Aber das würdest du heute sowieso nicht mehr – denn niemand weiss, wo wegen des aufge­tauten Perma­frosts der nächste Hang ins Rutschen kommt.

Heute denkst du, dass du damals gar nicht so viel nach­ge­dacht hast. Es hätte Wich­ti­geres gegeben als das Feier­abend­bier, die Toma­ten­beete oder den Städ­te­trip nach Berlin. Ja, sogar als den Stadt­bummel mit deiner Oma. Zwar hast du beim Wandern noch den Silvret­ta­glet­scher gesehen, bevor er voll­ends verschwand, aber das bringt deinem vertrock­neten Toma­ten­beet und den Klima­flücht­lingen an der Mauer zu Europa jetzt auch nichts mehr. Während du einen Bogen um den Schim­mel­pilz machst und dich mit deiner schmer­zenden Hüfte unter das Moski­to­netz legst, fragst du dich, wie es wohl gekommen wäre, wenn du damals im September 2020 mit deinen Freund*innen anstatt zum Silvret­ta­glet­scher nach Bern an die Klima­pro­test­woche Rise up for Change gegangen wärst.

Folgende Artikel zur Aktion und deren Hinter­grund sind bereits erschienen:
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