Von Kaiser­augst bis Rise up for Change: Ziviler Unge­horsam ist nötig

Mit zivilem Unge­horsam will die Klima­be­we­gung diese Woche das Bewusst­sein für die Klima­krise wieder wach­rüt­teln. Sind solche subver­siven Aktionen wirksam? Ein Blick in die Protest­ge­schichte der Schweiz zeigt: Ja. 
Anti-AKW-Demonstration auf dem Gelände des geplanten Atomkraftwerks Kaiseraugst am 2. November 1981. Quelle: Schweizerisches Sozialarchiv

„Ab Diens­tag­morgen sechs Uhr wollen 50 bis 100 Mitglieder der Gewalt­freien Aktion Kaiser­augst (GAK) den Bauplatz des Atom­kraft­werks besetzen“, schrieb die Basler National-Zeitung am Vorabend des 1. Aprils 1975. Die eben­falls infor­mierte Baufirma Motor-Columbus AG glaubte nicht an eine Durch­füh­rung der Aktion.

Doch die GAK machte ernst. In der Region verbrei­tete sie Flyer, auf denen zu lesen war: „Kaiser­augst. Der Aushub hat begonnen. Atom­kraft­werk­ge­lände: besetzt. Wir fordern: Demo­kra­ti­scher Volks­ent­scheid! Meteo­ro­lo­gi­sche Ober­ex­per­tise! Gesamt­energie-Konzep­tion ohne voll­endete Tatsachen!“

Die Gewalt­freie Aktion Kaiser­augst war bereits die zweite Gruppe, die den Bauplatz des geplanten Atom­kraft­werks besetzte. Ende 1973 hatte ein Dutzend Basel­bieter Jungsozialist*innen den Platz während fünf Tagen in einem „Probe­hock“ für sich einge­nommen. Die rege Anteil­nahme von Sympathisant*innen führte zur Grün­dung erster Orts­gruppen. Es begannen Vorbe­rei­tungen für weiteren gewalt­freien Wider­stand, der grös­sere Bevöl­ke­rungs­kreise animieren sollte.

An Veran­stal­tungen im Herbst 1974 konkre­ti­sierte die GAK ihre Pläne für geset­zes­wid­rige Aktionen: Um Hemmungen bei poten­ti­ellen Teilnehmer*innen abzu­bauen, liess sie „Bereit­schafts­er­klä­rung“ unter­schreiben, die zur Teil­nahme an einer ille­galen „Volks­ver­samm­lung“ auf dem Bauge­lände im September verpflich­tete. Über 4’000 Menschen hatten unter­schrieben. Gekommen sind schliess­lich 6’000.

Der grosse Aufmarsch veran­lasste den Ener­gie­kon­zern Motor-Columbus AG dazu, die Bautä­tig­keiten zu verschieben. Es erüb­rigte sich vorerst eine länger­fri­stige Beset­zung. Trotzdem versuchten die AKW-Gegner*innen über das Nicht­be­zahlen von Strom­rech­nungen oder den Boykott von Alumi­nium-Produkten ihrem Anliegen Nach­druck zu verleihen.

Doch im Früh­ling 1975 fuhren trotzdem die ersten Bagger auf dem Gelände auf. Die GAK beschloss daraufhin die Beset­zung für den 1. April 1975.

Als sich die AKW-Gegner*innen am Morgen auf dem Gelände einfanden, blockierten sie die Zufahrts­wege und setzten sich auf die Bauma­schinen. Nach Gesprä­chen bekun­deten einige Bauarbeiter*innen ihre Soli­da­rität mit den Besetzer*innen, andere versuchten dennoch, mit Last­wagen auf das Bauge­lände zu gelangen.

Die Span­nungen legten sich erst, als das Bauun­ter­nehmen die Maschinen abzog. In den folgenden Tagen wurden Einrich­tungen aufge­baut und Arbeits­zirkel gebildet. Immer mehr Menschen schlossen sich den Aktivist*innen an. Eine Woche später versam­melten sich 15’000 Menschen.

Dies war möglich, weil die AKW-Gegner*innen in breiten Bevöl­ke­rungs­schichten bereits ein Bewusst­sein für die immense Gefahr geschaffen hatten, die das Bauvor­haben von acht Atom­kraft­werken und insge­samt 14 Atom­re­ak­toren in einem solch kleinen Raum wie der Nord­west­schweiz mit sich zog.

Die Beset­zung in Kaiser­augst war der letzte Ausweg für die Aktivist*innen, um vermeiden zu können, dieser Gefahr ausge­setzt zu werden. Bis dahin hatten sie den „Gang durch die Insti­tu­tionen“ bereits hinter sich. Verschie­dene Anti-AKW-Grup­pie­rungen versuchten in Form von Reso­lu­tionen, Peti­tionen und Appellen an die Regie­rung, aber auch in Abstim­mungen und auf dem Rechtsweg die Bauvor­haben zu verhin­dern. Ohne Erfolg.

Denn die Gesetz­ge­bung über den Bau von Atom­kraft­werken lag seit 1957 und der Zustim­mung der Stimm­be­völ­ke­rung zu Artikel 24 der Bundes­ver­fas­sung in der Kompe­tenz des Bundes. Im Sinne des Vorha­bens einer „fried­li­chen Nutzung der Kern­energie“ liess der Bundesrat 1957 dazu verlauten: „Jeden­falls wird das zukünf­tige schwei­ze­ri­sche Atom­recht davon auszu­gehen haben, dass die Nutzung der Kern­energie Sache der Wirt­schaft sei, auch dass der freie Wett­be­werb möglichst gewahrt bleiben soll…“

Entgegen dem Gesetz – weil demokratisch

Das heute in Bern für einen echten Klima­schutz einste­hende Konglo­merat aus Klima­streik, Extinc­tion Rebel­lion, Coll­ec­tive Climate Justice, Coll­ec­tive Break Free sowie Green­peace Schweiz sieht sich in der Frage der poli­ti­schen Verhält­nisse mit ähnli­chen Umständen wie damals in Kaiser­augst konfron­tiert – wenn auch der Kampf der Klima­be­we­gung funda­men­taler ist.

Auch ihr ist es gelungen, das Bewusst­sein für eine existen­zi­elle Gefahr zu schaffen, wie die National- und Stän­de­rats­wahlen von Herbst 2019 gezeigt haben. Die Klima­be­we­gung hat einen grossen Teil der Stimm­be­völ­ke­rung dazu animieren können, grünen Listen und Kandidat*innen ihre Stimme zu geben.

Doch die Verwäs­se­rung des CO2-Gesetzes oder das Milli­ar­den­hilfs­paket für die Swiss haben verdeut­licht, dass der Zuwachs an grünen Parlamentarier*innen noch lange nicht zu effek­tiven poli­ti­schen Hand­lungen führt, um die Ziele des Pariser Klima­ab­kom­mens zu erfüllen. Ausserdem wurde in mehreren Städten und Kantonen der Klima­not­stand ausge­rufen, ohne dass rasche und einschnei­dende poli­ti­sche Mass­nahmen gefolgt wären.

Zum einen erweist sich die Lang­sam­keit des poli­ti­schen Systems der Schweiz in der Klima­krise als wenig kompa­tibel mit den Verän­de­rungen, die schnell herbei­ge­führt werden müssten, um die Folgen der Klima­krise mindern zu können.

Zum anderen – um wieder bei Kaiser­augst anzu­knüpfen – liegt das Problem vor allem darin, dass die Politik die Gross­kon­zerne und den Finanz­markt bei ihren Inve­sti­tionen in die Fossil­in­du­strie gewähren lässt.

Wie auch die AKW-Gegner*innen bei Kaiser­augst 1975 hat die Klima­be­we­gung heute versucht, von aussen Druck auf Regie­rung, Parla­ment und Gross­kon­zerne auszu­üben – mit mässigem Erfolg. Die Untä­tig­keit und Verant­wor­tungs­lo­sig­keit der hiesigen Mandatsträger*innen zeigt, dass sie durch die Sakra­li­sie­rung ökono­mi­scher Inter­essen noch immer die Augen vor der bevor­ste­henden Klima­ka­ta­strophe verschliessen. Und dass es der Klima­be­we­gung bisher nicht gelungen ist, die Politik zu Regu­lie­rungen zu bewegen. Entschei­dungen, welche die Existenz des Planeten und somit aller Menschen betreffen, liegen nach wie vor nicht nur in den Händen der Politik, sondern auch in von Aktionär*innen gewählten Verwaltungsräten.

Das wiederum liegt daran, dass Gross­kon­zerne ein Monopol besitzen und die Bevöl­ke­rung von ihnen abhängig ist. Dieser Umstand fördert den Wahl­er­folg von Parteien, die sich gegen Markt­ein­griffe stellen – ein Teufels­kreis. Um mit aller Deut­lich­keit auf diesen Miss­stand hinzu­weisen, ist es äusserst demo­kra­tisch, wenn die Klima­be­we­gung ihrer­seits gegen bestehende Gesetze verstösst.

Ein Schritt in Rich­tung radi­kale Veränderung

„Lieber heute aktiv als morgen radio­aktiv“, lautete eine der Parolen auf dem besetzten Gelände des geplanten Atom­kraft­werkes in Kaiser­augst 1975. Die Signal­wir­kung der elfwö­chigen Beset­zung führte zur vorläu­figen Einstel­lung der Bauar­beiten, zu Verhand­lungen mit dem Bundesrat und legte den Grund­stein für das Ende des Projektes 1988.

Kampa­gnen­plakat der GAGAK (Gewalt­freie Aktion gegen das AKW Kaiser­augst), 1986. (Quelle: Sozialarchiv)

Ausserdem lancierten die AKW-Gegner*innen infolge der Auswir­kungen der deut­li­cher werdenden Umwelt­ver­schmut­zung und Zwischen­fällen an Reak­toren in Tscher­nobyl und Harris­burg in den USA um 1980 eine Debatte rund um das „Recht auf Wider­stand im Rechts­staat“. Sie orien­tierten sich dabei an der vom ameri­ka­ni­schen Schrift­steller Henry David Thoreau erst­malig 1848 in seinem Essay „On the Duty of Civil Diso­be­dience“ formu­lierten Ausübung ziviler Unge­horsam: die gewalt­freie und subver­sive Verwei­ge­rung der Einhal­tung von Gesetzen der bestehenden Ordnung.

Indem sich die Anti-AKW-Bewe­gung auf dem Bauge­lände basis­de­mo­kra­tisch orga­ni­sie­rend wider­setzte, zeigte sie alter­na­tive Möglich­keiten zu den gege­benen poli­ti­schen Struk­turen und Gesetzen auf und trug dabei zu ihrer Hinter­fra­gung bei. Ob Blockade, Boykott oder eben Beset­zung – durch konse­quentes Handeln für die Sache und die dadurch provo­zierte ange­drohte Repres­sion seitens des Staates gelang es der Bewe­gung, Aufmerk­sam­keit zu gene­rieren und eine Welle der Soli­da­rität auszulösen.

So gesellten sich vor allem gegen Abend und an den Wochen­enden unzäh­lige Sympathisant*innen zu der dauer­haft anwe­senden, aber relativ klein geblie­benen Anzahl Aktivist*innen (vor allem Student*innen mit Nähe zur 68er-Bewe­gung und an den Rand der Gesell­schaft gedrängte Menschen). Die Entwick­lungen in Kaiser­augst verdeut­li­chen: Die Ausübung zivilen Unge­hor­sams war der entschei­dende Schritt, um eine grosse Masse zu mobi­li­sieren und somit das Vorhaben des AKW-Baus hinaus­zu­zö­gern und schliess­lich zu verhindern.

In Anbe­tracht der radi­kalen Verän­de­rungen, deren es bedarf, um die Folgen des Klima­wan­dels im Rahmen zu halten, werden Zuwi­der­hand­lungen und Beset­zungen wohl nicht ausrei­chend sein, um die poli­ti­schen Akteur*innen effektiv in ihren Grund­fe­sten zu erschüttern.

Doch sie sind ein erster Schritt, um aufzu­zeigen, dass sich junge Menschen bereit erklären, Verhaf­tung und Straf­ver­fol­gung auf sich zu nehmen, um für die Verab­schie­dung sofor­tiger Mass­nahmen zur Verrin­ge­rung der Emis­sionen einzustehen.

In dem vom Bundesrat schon 1957 propa­gierten „freien Wett­be­werb, der gewahrt bleiben soll“, wird eine klima­po­li­ti­sche Umkehr nicht möglich sein. Im Unter­schied zu Kaiser­augst kämpft die Klima­be­we­gung mit einem Problem, das einen lang­fri­stigen, gene­ra­tio­nen­über­grei­fenden und globalen Einsatz erfor­dert. Dies zu verdeut­li­chen, wird ihre Aufgabe in den näch­sten Monaten sein.

Folgende Artikel zur Aktion und deren Hinter­grund sind bereits erschienen:

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