Die 99-Prozent-Initiative ist das 223. Volksbegehren, über das die Schweizer Stimmbürger:innen entscheidet – und trotzdem scheinen die Grundlagen des direktdemokratischen Instruments immer noch nicht allen ganz geläufig zu sein. Das wäre eigentlich kein Problem, wenn denn wenigstens diejenigen, die Leitkommentare für grosse Tageszeitungen der Schweiz schreiben, nicht die Ahnungslosen mimen würden.
In den Zeitungen der TX Group bemängelt Philipp Felber-Eisele, dass die schwammige Formulierung der Juso-Initiative einen zu grossen Spielraum für das Parlament lassen würde. Mit einer klareren Formulierung hätten die Jungsozialist:innen verhindern können, dass jetzt über KMU und Start-ups anstatt über die weltweit überdurchschnittliche Vermögensungleichheit in der Schweiz diskutiert würde.
Also back to the basics: Verfassungsinitiativen sind keine Gesetzestexte, und wenn nicht mal das Schweizer Steuerrecht definiert, was Kapitalerträge sind, dann hat diese Definition auch zwischen Präambel und der Amtsdauer von Bundesrichter:innen nichts zu suchen. Die Umsetzung einer Initiative liegt beim Parlament (was Felber-Eisele erwähnt…), was aber auch bedeutet, das Volksvertreter:innen politische Verantwortung übernehmen müssen, wie sie den Volkswillen umsetzen (…was er geflissentlich ausblendet).
Denn: Dass das Parlament, das die Initiative hochkant abgelehnt hat, mit der STAF erst vor zwei Jahren Kapital entlastet und Arbeitseinkommen mit einem höheren AHV-Abzug belastet hat sowie gerade mit der Abschaffung der Emissionsabgabe auf Eigenkapital Unternehmen jährlich eine Viertelmilliarde zuschanzen möchte, die Initiative im Sinne der Jungsozialist:innen umsetzen würde, ist ausgeschlossen. Aber mit der Entscheidung, wer und welche Einkünfte bei den 99 Prozent mitgemeint sind, müssten sich die Parteien positionieren – und transparent machen, für wen sie Politik machen.
Wie politisch unbequem für Parlamentarier:innen und doch zentral dieses Prinzip ist, hat die Umsetzung der sogenannten Masseneinwanderungsinitiative gezeigt: Unter der Führung der FDP wurde die Initiative 2017 abgeschwächt umgesetzt. Die SVP stellte die verantwortlichen Politiker:innen an einen Pranger und verschrie das Vorgehen als Verrat am Volkswillen, doch bei diesem Volk fanden sich keine 50’000 Unterschriften für ein Referendum.
Fast noch schlimmer als die gespielte Ahnungslosigkeit gegenüber dieser staats- und realpolitischen Ausgangslage vor der Abstimmung zur 99-Prozent-Initiative ist die Tatsache, dass ein Journalist in einer der auflagestärksten Zeitungen im Land beklagt, über was in der Öffentlichkeit nicht diskutiert wird – als wären Medien unbeteiligte, unideologische Beobachtende und nicht jene, die Öffentlichkeit erst konstruieren.
Wenn Journalist:innen nicht bei jeder Abstimmung das Schreckgespenst des untergehenden Kleinunternehmer:innentums von Wirtschaftsverbänden unkritisch reproduzieren würden, könnte hierzulande vielleicht tatsächlich eine ehrliche Debatte darüber stattfinden, wie das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit in einer solidarischen Gesellschaft aussehen könnte.
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