Gespielte Ahnungs­lo­sig­keit

In der Diskus­sion um die 99-Prozent-Initia­tive wird immer wieder mehr Klar­heit gefor­dert. Ein durch­sich­tiger Versuch von Medien und Politik, sich der Verant­wor­tung zu entziehen, findet unser Autor. 
Die 99-Prozent-Initiative will das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit neu regeln. (Foto: Pixabay)

Die 99-Prozent-Initia­tive ist das 223. Volks­be­gehren, über das die Schweizer Stimmbürger:innen entscheidet – und trotzdem scheinen die Grund­lagen des direkt­de­mo­kra­ti­schen Instru­ments immer noch nicht allen ganz geläufig zu sein. Das wäre eigent­lich kein Problem, wenn denn wenig­stens dieje­nigen, die Leit­kom­men­tare für grosse Tages­zei­tungen der Schweiz schreiben, nicht die Ahnungs­losen mimen würden.

In den Zeitungen der TX Group bemän­gelt Philipp Felber-Eisele, dass die schwam­mige Formu­lie­rung der Juso-Initia­tive einen zu grossen Spiel­raum für das Parla­ment lassen würde. Mit einer klareren Formu­lie­rung hätten die Jungsozialist:innen verhin­dern können, dass jetzt über KMU und Start-ups anstatt über die welt­weit über­durch­schnitt­liche Vermö­gens­un­gleich­heit in der Schweiz disku­tiert würde.

Also back to the basics: Verfas­sungs­in­itia­tiven sind keine Geset­zes­texte, und wenn nicht mal das Schweizer Steu­er­recht defi­niert, was Kapi­tal­erträge sind, dann hat diese Defi­ni­tion auch zwischen Präambel und der Amts­dauer von Bundesrichter:innen nichts zu suchen. Die Umset­zung einer Initia­tive liegt beim Parla­ment (was Felber-Eisele erwähnt…), was aber auch bedeutet, das Volksvertreter:innen poli­ti­sche Verant­wor­tung über­nehmen müssen, wie sie den Volks­willen umsetzen (…was er geflis­sent­lich ausblendet).

Denn: Dass das Parla­ment, das die Initia­tive hoch­kant abge­lehnt hat, mit der STAF erst vor zwei Jahren Kapital entla­stet und Arbeits­ein­kommen mit einem höheren AHV-Abzug bela­stet hat sowie gerade mit der Abschaf­fung der Emis­si­ons­ab­gabe auf Eigen­ka­pital Unter­nehmen jähr­lich eine Vier­tel­mil­li­arde zuschanzen möchte, die Initia­tive im Sinne der Jungsozialist:innen umsetzen würde, ist ausge­schlossen. Aber mit der Entschei­dung, wer und welche Einkünfte bei den 99 Prozent mitge­meint sind, müssten sich die Parteien posi­tio­nieren – und trans­pa­rent machen, für wen sie Politik machen.

Wie poli­tisch unbe­quem für Parlamentarier:innen und doch zentral dieses Prinzip ist, hat die Umset­zung der soge­nannten Massen­ein­wan­de­rungs­in­itia­tive gezeigt: Unter der Führung der FDP wurde die Initia­tive 2017 abge­schwächt umge­setzt. Die SVP stellte die verant­wort­li­chen Politiker:innen an einen Pranger und verschrie das Vorgehen als Verrat am Volks­willen, doch bei diesem Volk fanden sich keine 50’000 Unter­schriften für ein Refe­rendum.

Fast noch schlimmer als die gespielte Ahnungs­lo­sig­keit gegen­über dieser staats- und real­po­li­ti­schen Ausgangs­lage vor der Abstim­mung zur 99-Prozent-Initia­tive ist die Tatsache, dass ein Jour­na­list in einer der aufla­ge­stärk­sten Zeitungen im Land beklagt, über was in der Öffent­lich­keit nicht disku­tiert wird – als wären Medien unbe­tei­ligte, unideo­lo­gi­sche Beob­ach­tende und nicht jene, die Öffent­lich­keit erst konstruieren.

Wenn Journalist:innen nicht bei jeder Abstim­mung das Schreck­ge­spenst des unter­ge­henden Kleinunternehmer:innentums von Wirt­schafts­ver­bänden unkri­tisch repro­du­zieren würden, könnte hier­zu­lande viel­leicht tatsäch­lich eine ehrliche Debatte darüber statt­finden, wie das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit in einer soli­da­ri­schen Gesell­schaft aussehen könnte.


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