110 Millionen US Dollar soll Nestlé Maroc an die marokkanische Steuerbehörde bezahlen. Was der grössten Tochtergesellschaft der Nestlé-Gruppe auf dem afrikanischen Kontinent bevorsteht – eine Steuerberichtigung in dieser Höhe – ist laut dem Steuerberater Mourad Chatar und Verrechnungspreismanagerin Sarah Bahous rekordverdächtig. Und doch ist der seit Ende August bekannte Fall bis anhin nur in marokkanischen oder westafrikanischen Medien thematisiert worden.
Was droht der Tochtergesellschaft des weltweit führenden Nahrungsmittelkonzerns, der in Fabriken in Casablanca und El Jadida Milchprodukte produziert? Und wie kam es dazu?
Verrechnungspreise als Schlupfloch
Im Zuge einer Kontrolle von Nestlé Marocs Unternehmensabschluss haben marokkanische Steuerprüfer:innen unzulässige Gewinntransfers an die Muttergesellschaft festgestellt. Die Steuerbehörde wirft dem Konzern vor, die Steuerbemessungsgrundlage in Marokko durch die Manipulation von Verrechnungspreisen verringert zu haben – zugunsten des Hauptsitzes von Nestlé in Vevey am Genfersee.
Verrechnungspreise – also die Preise, die für innerbetrieblich ausgetauschte Güter und Dienstleistungen bezahlt werden – stellen noch immer eines der grössten Probleme in der Besteuerung von multinationalen Unternehmen dar. Vor allem für Länder des globalen Südens bergen die Berechnungsprinzipien grosse Herausforderungen, wie das Lamm mit Blick auf die Verhandlungen über Konzernbesteuerung berichtete.
Forscher:innen des Tax Justice Network haben 2017 geschätzt, dass Marokko aufgrund von Steuerhinterziehung durch multinationale Unternehmen bis zu 2,45 Milliarden US Dollar im Jahr verliert. Laut Oxfam entspricht dies 2,34 Prozent des Bruttoinlandproduktes Marokkos oder dem Gegenwert von 40 Krankenhäusern.
Damit die einzelnen Konzernteile multinationaler Unternehmen dort Gewinn erzielen, wo sie ihn erwirtschaften – und ihn dort dann auch versteuern – müssten sich die Preise für Käufe und Verkäufe von Waren und Dienstleistungen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften eigentlich am Marktpreis orientieren. Das tun sie aber oft nicht. Multinationale Konzerne umgehen damit höhere Unternehmenssteuern – oft in Produktionsländern. Das Problem: Um die Transferpreise zu überprüfen, bedarf es nicht nur finanzieller, sondern auch personeller Ressourcen aufseiten der Steuerbehörden.
Dass sich der Einsatz dieser Ressourcen lohnen kann, zeigt das Beispiel Marokko.
Musterbeispiel Marokko
Marokko verfügt über eine sehr gut organisierte und strukturierte Steuerverwaltung. Sie beinhaltet unter anderem eine eigene Abteilung für Prüfungen, der auch die nationale Abteilung für Grossunternehmen angehört.
Einen Teil ihrer fast 5’000 Beamt:innen hat sie in OECD-Schulungen zu Verrechnungspreisen, Informationsaustausch oder Besteuerung der digitalen Wirtschaft ausbilden lassen. 12,5 Prozent der Mitarbeiter:innen, von denen ein Viertel zwischen 30 und 34 Jahre alt ist, befasst sich ausschliesslich mit Überprüfungen von Steuerzahler:innen.
Steuerprüfungen werden immer gezielter durchgeführt und sind eine der wichtigsten Quellen für Haushaltseinnahmen. Dabei sind der wichtigste Angriffspunkt die Verrechnungspreise in den Tochtergesellschaften multinationaler Unternehmen.
Das Land hat aber auch auf gesetzlicher Ebene Änderungen herbeigeführt. Und zwar, indem es 2019 den Mechanismus der „vorherigen Vereinbarungen über Verrechnungspreise“ eingeführt hat. Dabei können multinationale Unternehmen ihre Verrechnungspreismethode jeweils im Voraus von der Steuerbehörde validieren lassen – freiwillig. Hingegen sind sie dazu verpflichtet, eine Verrechnungspreisdokumentation zu erstellen, die belegt, dass ihre konzerninternen Transaktionen gemäss den OECD-Regeln erfolgt sind.
Als Nestlé der marokkanischen Steuerbehörde die angeforderte Verrechnungspreisdokumentation im Rahmen der Prüfung zur Verfügung stellte, hat diese Nestlés angewandte Methode abgelehnt. Der Lebensmittelkonzern hat scheinbar keine Vorab-Preisvereinbarung mit den marokkanischen Steuerbehörden abgeschlossen. Auf die Frage nach Gründen dafür wollte das Unternehmen gegenüber das Lamm keine Stellung nehmen.
Fall mit Signalwirkung
Die geforderte Zahlung von 110 Millionen US Dollar ist sowohl als Neuveranlagung der Steuern sowie als Strafe konzipiert, die Nestlés Tochtergesellschaft zahlen soll, weil sie einen Teil ihrer Gewinne nicht deklariert, sondern in die Schweiz transferiert hat. Dabei orientiert sich die Steuerbehörde am Haushaltsgesetz 2021, welches neu auch den Umfang der Dokumentationspflichten für Verrechnungspreise sowie die anwendbaren Sanktionen festgelegt hat.
Die Höhe der geforderten Zahlung sei aussergewöhnlich, sagt ein marokkanischer Journalist, der anonym bleiben möchte, gegenüber das Lamm. Seines Wissens sei es die zweitgrösste Steuermahnung, die je an ein Unternehmen in Marokko gerichtet wurde.
Nestlé hat auf diese Beschuldigung hin interne Steueranwält:innen aus Vevey mobilisiert und die marokkanische Steuerberatungsfirma EY angeheuert. Diese haben den Fall der Nationalen Kommission für Steuerbeschwerden vorgelegt und versuchen nun, eine Einigung zu finden oder die Höhe der Strafe zu verringern.
Imane Zaoui, Generaldirektorin von Nestlé Maroc, äusserte sich gegenüber Financial Afrik, dass „die von Nestlé Maroc angewandte Methode ein globales System ist, das in allen Tochtergesellschaften der Gruppe umgesetzt wird“. Dem Lamm gegenüber wollte Nestlé die Angelegenheit zurzeit nicht weiter kommentieren, sie würden in der Sache mit den Steuerbehörden vor Ort zusammenarbeiten.
Neun von zehn Prüfungen der marokkanischen Steuerbehörde werden mit Vergleichsvereinbarungen abgeschlossen. Falls bei der Steuerbeschwerdekommission jedoch keine Einigung erlangt wird, kommt es zu einem Gerichtsverfahren. Je nachdem, wie der Fall Nestlé Maroc ausgeht, könnte er bedeutende Signalwirkung haben: dass die gesetzliche Einführung von Verrechnungspreisvorschriften und Investitionen in die Steuerverwaltung sich auszahlen. Und dass die von Nestlé angewandte Verrechnungspreismethode auch in anderen Ländern unter die Lupe genommen werden sollte.
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