An einem der südlichsten Punkte Europas befindet sich auf 295 Metern über Meer ein Torbogen. Wer hindurchblickt, steht in Riace und sieht das Ionische Meer. Das regenbogenfarbige Amphitheater ist an diesem herbstlichen Samstagnachmittag leer, in der zentralen Via Roma trinken ein paar wenige Einwohner:innen ihren nachmittäglichen Espresso. Neben dem Torbogen auf der Piazza sitzen Alba und Giuseppe in weissen Plastikstühlen. Die beiden sind Gefährt:innen des ehemaligen Bürgermeisters von Riace, Domenico Lucano, der Ende September zu 13 Jahren Haft wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder und Beihilfe zu illegaler Migration verurteilt wurde.
Sie sind eigens von Cosenza für eine Solidaritätskundgebung angereist. „Heute ist es sehr hart in Riace“, sagt Giuseppe mit konsternierter Stimme und setzt sich in Bewegung in Richtung Via Roma. Alba, die neben ihm geht, erklärt: „Das Modell Riace ist vorbei. Man hat den Menschen hier alles genommen.“
Bis 2018 lief in dem kleinen Dorf, das in einen Teil am Meer und einen am Berg gebaut ist, ein Vorzeigeprojekt zur Aufnahme von Geflüchteten, das eine Oase inmitten einer der strukturschwächsten Regionen Europas schuf. Denn wie im Rest Kalabriens stehen auch in Riace viele Häuser leer, die Menschen wandern seit Jahrzehnten ab – wegen der Arbeitslosigkeit, den fehlenden Perspektiven und der Mafia. Seit Jahrzehnten üben die Familienclans der ‘Ndrangheta massiven Einfluss auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen Kalabriens aus und sorgen mitunter dafür, dass die Region abgehängt bleibt.
Als 1998 kurdische Geflüchtete mit dem Boot am Strand Riaces ankamen, öffnete das Dorf seine Pforten. Der damalige Lehrer und spätere Bürgermeister Domenico Lucano sorgte dafür, dass das Dorf wiederbelebt wurde: Geflüchtete zogen in leerstehende Häuser ein, restaurierten sie gemeinsam mit schon ansässigen Riacesi. Das Dorf erlebte einen wirtschaftlichen Aufschwung: Handwerksläden, eine Post und eine Arztpraxis eröffneten, eine Schule wurde gebaut. Sogar eine lokale Gutscheinwährung wurde eingeführt, um die Verzögerungen der Unterstützungsgelder des Innenministeriums und der EU zu überbrücken.
Zwischen 2004 und 2018 nahm die Dorfbevölkerung um fast über die Hälfte zu. Riace sei zum autonomen Gebiet innerhalb einer von Kriminalität durchzogenen Gegend geworden, erzählt die Journalistin Tiziana Barillà. „Die Wasserversorgung wurde öffentlich, indem ein Brunnen gebaut wurde. Dutzende neue Arbeitsstellen wurden geschaffen. Domenico Lucano machte Riace so zu einem von der ‘Ndrangheta unabhängigen Gebiet.“
Als lokales und integratives Aufnahmemodell – einer sogenannten „Accoglienza Diffusa“ – stand Riace der neueren Politik der EU entgegen, die Geflüchtete in grossen Zeltstädten an oder hinter den Aussengrenzen sammelt und sie von der lokalen Bevölkerung absondert. Gerade deshalb wurde das „Modell Riace“ zu einem vorbildhaften Beispiel. Doch im Oktober 2018, kurz nachdem die rechtspopulistische Lega mit dem Movimento 5 Stelle auf nationaler Ebene eine neue Regierungskoalition eingegangen war, kam die Guardia di Finanza bei Domenico Lucano zu Besuch. „Damals hat sich in Italien die Haltung verbreitet, dass das Modell Riace dazu da sei, Profit zu machen“, erinnert sich Barillà. „Dass die Aufnahme von Geflüchteten Business sei.“
In der Folge wird Lucano Veruntreuung öffentlicher Gelder vorgeworfen. Die Polizei stellte ihn unter Hausarrest, Innenminister Matteo Salvini setzte Hetz-Tweets gegen ihn und „alle anderen Gutmenschen“ ab. Zwischenzeitlich musste Lucano Riace verlassen, ebenso ein Großteil der 450 in Riace lebenden Geflüchteten. Viele von ihnen wurden in Sammelunterkünfte gebracht, von denen einige unter der Kontrolle der ‘Ndrangheta stehen.
Abfallentsorgung mit Maultieren
Die ‘Ndrangheta zieht in Kalabrien viele Fäden gleichzeitig, während der Staat nicht genügend Struktur und Sicherheit bieten kann. Neben Erpressung, dem Drogengeschäft und dem Baugeschäft schlägt die Mafia auch von der Organisation der Müllabfuhr Profit.
In Riace war dies bis 2018 anders, wie Guiseppe und Alba erzählen, während sie einen Abhang voller Ställe überblicken. „Lucano hat die Natur hier wiederbelebt und gleichzeitig Arbeitsmöglichkeiten für die Geflüchteten geschaffen“, sagt Alba. Diese seien mit den Maultieren auf einem grossen Wagen durch die engen Gassen gefahren und hätten den Abfall der 2100 Einwohner:innen eingesammelt.
Weil die Vergabe der Aufträge nur an Geflüchtete stattgefunden haben soll, verurteilt das Gericht Lucano auch dafür. Der Eselwagen steht heute unbenutzt in einer Scheune, der neue Bürgermeister – ein Politiker der rechtsnationalen Lega – habe die Abfallentsorgung den Geflüchteten wieder entzogen, erklärt Giuseppe beim Spaziergang durch das Dorf. Immer wieder bleiben er und Alba bei Wandmalereien von Aktivist:innen stehen. „Die Person, die dieses Graffiti hier gemacht hat, wurde später ermordet. Von der Mafia.“ Überall sieht man auch Haustüren, die zerkratzt sind. Von den Anhänger:innen des neuen Bürgermeisters, als Protest gegen Lucano und die Geflüchteten, wie sie erzählen.
Dass nach Lucano nun ein Lega-Politiker die Geschicke des Dorfes lenkt, liege daran, dass der Widerstand der rechten Regierung gegen das Projekt so immens gewesen sei und das Dorf gespalten habe, wie Alba meint. Das durch die Absetzung Lucanos entstandene Vakuum hinterliess neben Wut auch Verunsicherung und Angst. Die Rechte wusste dies zu nutzen. Es besteht aber der Verdacht, dass der damalige Innenminister Salvini die Staatsanwaltschaft in der Präfektur Locri dazu gebracht hat, Untersuchungen gegen den Bürgermeister zu starten.
Die Verurteilung von Lucano Ende September sende eine klare Botschaft, wie Gianfranco Schiavone meint: „Wenn du etwas verändern willst in dieser Gesellschaft, dann musst du hinter Gitter.“ Der in Triest lebende Jurist hat sich auf internationales Migrationsrecht spezialisiert und ist Präsident des Consorzio Italiano di Solidarietà (Konsortium der italienischen Solidarität). Der Verein leistet seit 1998 juristische Unterstützung für Geflüchtete. In dieser Funktion hat er auch die Frau von Lucano verteidigt.
Trotzdem klingt bei Schiavone leise Kritik am Vorgehen von Lucano an: „Ich habe ihm immer gesagt: Das Modell hat seine Limits. Die Aufnahme von Menschen muss nachhaltig sein.“ Oft habe Lucano zu starr und ideologisch gehandelt. Es sei vergessen gegangen, dass auch Riace nur ein Durchgangsort sei, man ausser psychologischem Schutz nicht gross etwas bieten könne und viele der Geflüchteten irgendwann in Richtung Norden weiterziehen würden.
Heute leben noch rund 100 Geflüchtete in Riace. Das Dorf wirkt wieder ausgestorben, nur eine Gruppe Kinder, die die Via Roma herrunterrennen, versprühen ein wenig Leben. Gianfranco Schiavone sieht aktuell keine Perspektive für Veränderung in Riace. „Seit 2018 ist das Projekt lahmgelegt, die juristischen Prozesse belasten Domenico Lucano sehr. Und auch in den umliegenden Dörfern ist der Elan nicht gross, das Modell Riace wieder zum Leben zu erwecken.“ Auch Alba weiss, dass die Situation nicht rosig ist. „Doch wir werden nicht aufgeben und versuchen, alles wieder aufzubauen“, sagt sie müde, aber überzeugt.
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