Fair­phones Zinn­lie­fer­kette: Diffe­rent but same (1/4)

Mit Rohstoffen aus verant­wor­tungs­vollem Bergbau soll sich das Fair­phone vom Rest der Elek­tronik­branche unter­scheiden. Doch stimmt das wirk­lich? Unsere Repor­terin geht dem Ursprung des Zinns in ihrem eigenen Fair­phone auf den Grund und taucht ein in eine Welt voller Verspre­chen, die bei genauerem Hinschauen zu platzen scheinen. Teil 1 unserer Fairphone-Serie. 
Fairphones Lieferkettenpraxis im Vergleich: Die Ähnlichkeiten sind grösser als die Unterschiede. (Illustration: Iris Weidmann)

Zürich, Februar 2018. Vor mir liegt das Fair­phone. Das scheinbar ethischste Telefon auf dem Markt. „Change is in your hands“ – der Slogan steht auf der Karton­ver­packung, erscheint beim ersten Einschalten auf dem Bild­schirm, liest sich auf der heraus­nehm­baren Batterie. Ich lade das Telefon auf und der Bild­schirm zeigt eine kleine Land­karte der Demo­kra­ti­schen Repu­blik Kongo – Zinn und Wolfram sind darauf verzeichnet. „Change is in your hands.“ Fühlt sich ganz gut an.

Die Schweiz hat laut dem Unter­nehmen die höchste Fair­phone-Dichte der Welt: Jedes zehnte Fair­phone wandert zwischen dem Rhein und dem Lago Maggiore über den Laden­tisch. Genau wie ich scheinen hier viele ein Telefon besitzen zu wollen, das etwas über ihre Werte aussagt. Ein Handy, das zeigt, dass es ihnen nicht egal ist, woher die über 30 Mine­ra­lien kommen, die darin verbaut sind.

Dass die Rohstoffe aus konflikt­freien Minen stammen, ist bei Fair­phone nur eines von vier Verspre­chen. Auch faire Arbeits­be­din­gungen für die chine­si­schen Fabrikarbeiter:innen, modu­lares Design zum Auswech­seln von defekten Einzel­teilen, Recy­cling und Kreis­lauf­wirt­schaft schreibt sich die nieder­län­di­sche Firma auf die Fahne.

Zu Beginn von Fair­phone stand aber die Herkunft der Rohstoffe im Zentrum. Nachdem die Gründer:innen eine Sensi­bi­li­sie­rungs­kam­pagne gegen Konflikt­mi­ne­ra­lien in Elek­tronik­ge­räten lanciert hatten, begannen sie 2013, ihr eigenes Telefon herzu­stellen. Ein Telefon, das Mensch und Planet vor Profit setzen soll, so die Mission.

Schnell mussten sie jedoch reali­sieren: Es ist nicht möglich, ein 100 Prozent faires Telefon herzu­stellen. Sie kommu­ni­zierten daraufhin den Anteil der fairen Rohstoffe in ihrem Smart­phone und die Absicht, diesen laufend zu erhöhen. Das Fair­phone 2, das ich mir damals gekauft hatte, besteht aus 25 Prozent fairen Mate­ria­lien. Ein Beginn, dachte ich, und wollte Fair­phone unter­stützen, mit jedem verkauften Telefon ihre Liefer­kette zu verbessern.

Doch als ich zwei Jahre später während einer Recherche zu Menschen­rechts­ver­let­zungen um eine Zinn­mine im Ostkongo heraus­fand, dass sich genau diese auch in Fair­phones Liefer­kette befindet, wollte ich mehr wissen. Was genau macht Fair­phone anders als Apple oder Samsung?

Konflikt­freies Zinn

Amsterdam, November 2013. Fair­phone-Gründer Bas van Abel steht für einen TED Talk auf der Bühne. Die Lein­wand über ihm zeigt einen Kühl­schrank mit Tupper­ware und Pfir­si­chen. Mitten­drin steht ein Plastik­sack mit einem Post-it versehen: „Konflikt­freies Lötzinn – bitte nicht essen.“ Van Abel zeigt auf sein Fair­phone und erzählt von seinem Mitar­beiter in China: „Er hat dieses Lötzinn, das wir aus einer Mine im Kongo bezogen haben, persön­lich gekühlt, um sicher­zu­stellen, dass es in der Fabrik für diesen Prototyp verwendet wird.“

Als das Problem der Konflikt­mi­ne­ra­lien vor knapp zehn Jahren öffent­lich bekannt wurde, haben die meisten Tech­no­lo­gie­un­ter­nehmen die Rück­ver­fol­gung von Rohstoffen bis zu den Minen Afrikas als Unmög­lich­keit darge­stellt – zu komplex und intrans­pa­rent sei die Produk­ti­ons­kette. Dabei wäre der Ursprungsort bei den Konflikt­mi­ne­ra­lien, zu denen nebst Zinn auch Tantal, Gold und Wolfram zählen, entschei­dend: Denn der hand­werk­liche Abbau dieser Mine­ra­lien würde bewaff­nete Gruppen im Kongo finan­zieren und viel Leid verur­sa­chen – so das Narrativ.

Ohne Zinn würde aber mein Smart­phone nicht funk­tio­nieren. Als graue dicke Lötpaste wird es auf die Leiter­platte – das Herz­stück meines Smart­phones – aufge­tragen, um Bauteile wie Wider­stände oder Schalt­kreise darauf zu verkleben. Das Lötzinn lässt die Elek­tronen fliessen und garan­tiert, dass die verschie­denen Kompo­nenten über­haupt mitein­ander kommu­ni­zieren können.

Das Zinn für diese Funk­tion in meinem Telefon kommt aus dem Kongo. Denn anders als viele Unter­nehmen hat Fair­phone der Region nicht einfach den Rücken gekehrt, als der Öffent­lich­keit damals klar wurde, dass poten­tiell schmut­zige Rohstoffe in ihre Handys gelangen. Viel­mehr wollte Fair­phone hinschauen und Verbes­se­rungen bewirken. 

Denn im Gegen­satz zum indu­stri­ellen Bergbau, wie ihn Gross­kon­zerne wie Glen­core betreiben, schafft der hand­werk­liche Abbau viele Arbeits­plätze. Schät­zungs­weise eine Million Kongoles:innen verdienen damit ihren Lebens­un­ter­halt. Diese Beschaf­fungs­phi­lo­so­phie von Fair­phone hatte mich überzeugt.

Direkt an die Quelle

Nyabibwe, Februar 2013. Zusammen mit Vertreter:innen der Elek­tronik­kon­zerne Philips und Moto­rola ist van Abel von Fair­phone Teil einer Dele­ga­tion der Conflict Free Tin Initia­tive im Ostkongo. Ihr Ziel ist die Kalimbi-Mine, in der Bergbauarbeiter:innen Zinnerz abbauen. 

Die Dele­ga­tion wird von Jaime de Bourbon Parme geleitet, einem nieder­län­di­schen Prinzen, der als Sonder­be­auf­tragter für natür­liche Ressourcen sein Aussen­mi­ni­ste­rium reprä­sen­tiert. Auf Fotos der Medi­en­be­richte inspi­ziert der Prinz gemeinsam mit van Abel eine Ladung Kassi­terit – das schwarz bis grau-braun glän­zende Erz aus Zinn­oxid. Der Sack mit dem Kassi­terit ist mit einem Strich­code-Etikett versehen.

We go straight to the source“, wir gehen direkt an die Quelle, kommu­ni­ziert Fair­phone seit diesem Besuch der Kalimbi-Zinn­mine. Denn mittels eines Systems, das einzelne Säcke von Mine­ra­lien mit Strich­code-Etiketten numme­riert und in einer Daten­bank aufzeichnet, gelangt das als „konflikt­frei“ vali­dierte Zinnerz über eine Zinn­schmelze in Malaysia und einen Lötpa­sten­her­steller in Indien bis zur chine­si­schen Fabrik, in der das Fair­phone zusam­men­ge­setzt wird. Die Dele­ga­tion musste sich dieses System nicht selbst ausdenken, sondern konnte nutzen, was bereits existierte: die Inter­na­tional Tin Supply Chain Initia­tive (ITSCI).

Die Inter­na­tional Tin Supply Chain Initia­tive (ITSCI) wurde 2011 von der Inter­na­tional Tin Asso­cia­tion als Reak­tion auf das Quasi-Embargo von Konflikt­mi­ne­ra­lien ins Leben gerufen. Es vali­diert hand­werk­liche Minen als „konflikt­frei“ und gewähr­lei­stet die Rück­ver­fol­gung von Rohstoffen aus Zentralafrika.

„Wir waren das erste Elek­tronik­un­ter­nehmen, das Mate­rial aus einer konflikt­freien Mine im Kongo in die Liefer­kette inte­griert hat“, sagt Monique Lempers acht Jahre später gegen­über das Lamm. Sie ist Impact Inno­va­tion Director bei Fair­phone und dafür verant­wort­lich, dass der Anteil an fairen Mine­ra­lien in ihren Tele­fonen stetig ansteigt. Doch auch andere Elek­tronik­un­ter­nehmen haben das Zinn der ersten Ladung der Conflict Free Tin Initia­tive in ihre Liefer­kette inte­griert. Zum Beispiel hat Philips damit eine Start­hilfe für Leucht­stoff­lampen hergestellt.

Und es gibt noch mehr Unge­reimt­heiten. Erstaunt stelle ich im Laufe meiner Recherche fest, dass es die Conflict Free Tin Initia­tive gar nicht mehr gibt. Und trotzdem verweist Fair­phone weiterhin auf die angeb­liche Rück­ver­folg­bar­keit ihrer Liefer­kette – etwa in Blog­posts vom Mai und Juni 2020. Auch in Medi­en­be­richten oder der Vermark­tung der Fair­phones 3 und 4 wird die Conflict Free Tin Initia­tive erwähnt. Doch die hat bereits 2014 aufge­hört zu existieren.

Weshalb brüstet sich Fair­phone noch immer mit dieser Initia­tive? Die Antwort kommt schrift­lich: „Die Conflict Free Tin Initia­tive war ein Pilot­pro­jekt, das zeigen sollte, dass rück­ver­folg­bares konflikt­freies Zinn aus dem Kongo auf den Markt gebracht werden kann. Da das Pilot­pro­jekt erfolg­reich war, wurde es enorm ausge­weitet und brauchte daher in seiner ursprüng­li­chen Form nicht mehr zu existieren.“

Also steckt das Zinn aus der Kalimbi-Mine nun doch noch in meinem Fairphone?

Ade physisch rück­ver­folg­bare Lieferkette

Butter­worth, Juli 2015. Auf einer Fabrik­fläche direkt am Hafen der malay­si­schen Stadt sind sechs Flamm­öfen in Betrieb: Seit 1901 wird hier Zinn­kon­zen­trat auf bis zu 1450 Grad Celsius erhitzt und das Zinn­me­tall aus seinem Erz gelöst. Die rotglü­hende Metall­masse fliesst aus den Öfen, bevor sie in Zinn­barren gepresst oder zu Zinn­pulver verfei­nert wird.

Auch das Zinn aus Kalimbi landete in dieser Fabrik. Nun wurde es beim Schmelz­pro­zess mit Zinn aus aller Welt vermischt und an alle mögli­chen Abnehmer:innen verteilt. An Apple und Samsung genauso wie an Fair­phone. Denn mit der Herstel­lung des Fair­phone 2 und der Auflö­sung der Conflict Free Tin Initia­tive wurde die zuvor vom Zinnerz bis zur Zinn­löt­paste separat gehal­tene Produk­ti­ons­linie ins ITSCI-System überführt.

Auch ITSCI gewähr­lei­stet die Rück­ver­folg­bar­keit von Rohstoffen aus zentral­afri­ka­ni­schen Minen – jedoch nur bis zu den Schmelz­öfen. Das heisst: Was Fair­phone-Gründer van Abel seinem TED-Talk-Publikum 2013 in Amsterdam verkün­dete, funk­tio­nierte bereits 2014 nicht mehr. Fair­phone kann nicht mehr sagen, wie viel Zinn aus der Kalimbi-Mine oder dem ITSCI-Programm tatsäch­lich in ihren Tele­fonen landet, wenn über­haupt. Dies ist bei Massen­bi­lanz­mo­dellen von Liefer­ketten aber immer der Fall – solange die einge­speiste Menge des zerti­fi­zierten Mate­rials dem entspricht, was schluss­end­lich verwendet wird. So funk­tio­nieren auch Initia­tiven wie Fair­trade Gold, Fair­trade Oran­gen­saft oder Ökostrom.

Das ist zwar schade, hat aber durchaus nach­voll­zieh­bare Gründe. Denn die physi­sche Tren­nung des Zinns auf jeder Stufe der Liefer­kette, also beim Trans­port, beim Handel, bei der Lage­rung und schluss­end­lich bei der Verar­bei­tung, war logi­stisch kaum umsetzbar und kommer­ziell nicht tragbar. Zu wenig und zu unreines Zinnerz wurde unter der dama­ligen Conflict Free Tin Initia­tive aus der Kalimbi-Mine heraus­ge­holt, um dafür extra die riesigen Schmelz­öfen in Malaysia laufen zu lassen.

ITSCI gewähr­lei­stet also zwar keine physi­sche Rück­ver­folg­bar­keit, konnte sich aber wohl auch deswegen ausweiten. Macht Sinn, finde ich. Doch in dem Moment, in dem ich mich beru­higt zurück­lehnen will, stol­pere ich über die näch­sten Fragen.

Finde den Unterschied

Zürich, April 2021. Auf meinem Laptop öffne ich Fair­phones Liste von Unter­nehmen, die Rohstoffe und Bauteile für das damals neueste Modell lieferten. 239 Schmelzen und Raffi­ne­rien kann Fair­phone auf dieser Liste ausweisen. 239 Orte, an denen Zinn, Wolfram, Tantal und Gold für das Fair­phone verar­beitet werden. Für US-Unter­nehmen ist es seit 2010 Pflicht, die Schmelzen und Raffi­ne­rien in ihrer Liefer­kette aufzu­li­sten. Für euro­päi­sche Unter­nehmen wurde dies erst verbind­lich mit der EU-Konflikt­mi­ne­ra­li­en­ver­ord­nung, die seit Januar 2021 in Kraft ist.

Dass auch Apple oder Samsung diese Daten zur Verfü­gung stellen, lädt zu einem Vergleich ein – und dieser über­rascht: Denn offen­sicht­lich unter­scheiden sich die Bezugs­quellen von Zinn für das iPhone kaum von denen für das Fair­phone. Apple gibt in seiner Liste 54 Schmelz­hütten an, Fair­phone 51. Diese 51 Zinn­schmelzen kommen in beiden Listen vor. Auch mit Samsung teilt sich Fair­phone 51 Zinnschmelzen.

Ich bin perplex: Wie bitte kann mein Fair­phone fairer sein als ein normales Samsung oder iPhone, wenn das Zinn aus denselben Schmelzen stammt? 

Man kann sich die Liefer­ket­ten­welt der Smart­phones ein biss­chen wie eine Sanduhr vorstellen. In diesem Sanduhr-Modell bilden Schmelzen und Raffi­ne­rien die engste Stelle und damit eine gut iden­ti­fi­zier­bare Gruppe von Akteur:innen. Deshalb sind sie auch am einfach­sten zu kontrol­lieren. Wie die meisten Elek­tronik­un­ter­nehmen verlässt sich auch Fair­phone auf ein Kontroll­pro­gramm, den Respon­sible Mine­rals Assu­rance Process (RMAP), das die Beschaf­fungs­praxis von Schmelzen und Raffi­ne­rien bewertet.

Der Respon­sible Mine­rals Assu­rance Process (RMAP) ist ein von der Respon­sible Mine­rals Initia­tive (RMI) verwal­tetes Kontroll­pro­gramm, dass die Rohstoff­be­schaf­fung von Schmelzen und Raffi­ne­rien durch unab­hän­gige Kontroll­firmen überprüft. 

In Zusam­men­ar­beit mit ITSCI und anderen Konflikt­frei-Initia­tiven gewähr­lei­stet das Programm den Endverbraucher:innen, dass sie keine Konflikt­mi­ne­ra­lien in ihren Produkten haben.

Die Respon­sible Mine­rals Initia­tive (RMI) listete im Juni 2019 gesamt­haft 83 Zinn­schmelzen auf. 72 davon haben am RMAP teil­ge­nommen. Sechs wurden als nicht konform beur­teilt. Im November 2021 haben von gesamt­haft 80 Zinn­schmelzen 67 am RMAP teil­ge­nommen, bislang wurden nur 54 davon als konform und somit als konflikt­frei einge­stuft. Die Zahl der konformen Zinn­schmelzen sei wegen Verzö­ge­rungen der Kontrollen durch die COVID-Pandemie aktuell vergleichs­weise niedrig, so die RMI auf Anfrage von das Lamm.

Was fest­zu­halten ist: Bei dieser relativ kleinen Anzahl von Zinn­schmelzen mit einer grund­sätz­lich sehr hohen Konfor­mität über­rascht es nicht, dass Apple, Samsung und Fair­phone über beinahe iden­ti­sche Liefer­ketten verfügen. Durch die RMAP beziehen sie alle – indi­rekt über die Komponentenhersteller:innen – als konflikt­frei dekla­riertes Zinn von denselben Schmelzen. Dies gilt auch für Gold, Tantal und Wolfram.

Monique Lempers von Fair­phone kann aber erklären, wie sie ihr Zinn nichts­de­sto­trotz, anders als Apple oder Samsung, haupt­säch­lich aus konflikt­freien hand­werk­li­chen Minen aus dem Kongo beziehen: „Wir haben die Kompo­nenten iden­ti­fi­ziert, in welchen Zinn gebraucht wird und haben heraus­ge­funden: Die Lötpaste macht 90 Prozent des Zinns in unseren Handys aus.“

Die benö­tigte Menge Zinn­kon­zen­trat für Fair­phones Lötpaste wird von einem Händler als ITSCI-Mate­rial in die Schmelze einge­speist und nach der Verar­bei­tung an den Lötpa­sten­her­steller weiter­ver­kauft. Via Massen­bi­lanz­mo­dell und durch die Iden­ti­fi­ka­tion des Anteils der Lötpaste kann Fair­phone ihren kommer­zi­ellen Anspruch also geltend machen.

Diese Frage scheint geklärt. Doch wie fair sind die 90 Prozent ITSCI-Mate­rial wirklich?

Frag­liche 90 Prozent

Univer­sität Zürich, Juli 2019. Chri­stoph Vogel vom Geogra­phi­schen Institut erhält für seine Doktor­ar­beit eine Auszeich­nung. Seine Forschung fokus­sierte auf die Auswir­kungen von ITSCI im Ostkongo. Er kam zum Schluss: Das indu­strie­ge­führte Rück­ver­folg­bar­keits­sy­stem dient vor allem als Preis­kon­troll- und Monopolisierungsinstrument.

ITSCI kontrol­liert mitt­ler­weile rund 95 Prozent des hand­werk­lich abge­bauten Zinns, Tantals und Wolf­rams aus dem Kongo, Burundi, Ruanda und Uganda. Das Programm wird zu mehr als 90 Prozent über eine Mine­ral­ge­winn­ab­gabe finan­ziert, die bei den inter­na­tio­nalen Händler:innen erhoben wird. Die Handels­ver­träge sollten dafür sorgen, dass die Abgabe fair über die ganze Liefer­kette aufge­teilt wird.

Doch tatsäch­lich sind es die Berg­leute, die den höch­sten Preis dafür bezahlen, dass sie ihre Mine­ra­lien mit dem Etikett „konflikt­frei“ verkaufen dürfen. Denn die von ITSCI gefor­derte Abgabe für jede Tonne Zinn wird vorwie­gend vom Verkaufs­preis abge­zogen, den die Händler:innen den Berg­leuten bezahlen. Dies legt auch eine neuere Studie der Univer­sität Antwerpen dar. Die Einhal­tung der Sorg­falts­pflicht von Firmen wie Apple oder Fair­phone wird finan­ziell also in erster Linie auf die Berg­leute abgewälzt.

Frei­willig betei­ligen sich die Endverbraucher:innen gerade einmal mit einem Prozent der Kosten am Programm. Beispiels­weise zahlen HP, Intel, Moto­rola oder Apple je einen Mitglie­der­bei­trag von jähr­lich 7500 US-Dollar an ITSCI, um die unver­hält­nis­mässig starke Kosten­last für die Berg­leute zu verrin­gern. Sie unter­stützen die Initia­tive direkt, obwohl sie wie Fair­phone nicht wissen, ob oder wieviel ITSCI-Mate­rial tatsäch­lich in ihren Geräten landet.

Fair­phone tut das nicht. Aufgrund der geringen Grösse und begrenzter Ressourcen sei das Unter­nehmen kein zahlendes Mitglied, heisst es gegen­über das Lamm. Fair­phone verweist zudem auf die zusätz­li­chen Betriebs­ko­sten, welche entstehen, weil sie ihre Massen­bi­lanz aus konflikt­freien Zinn­minen beziehen und für das Thema sensibilisieren.

Über­springe die Lieferkette

Amsterdam, April 2021. Abge­hakt ist das Thema Zinn bei Fair­phone aber nicht: „Wir haben den näch­sten Schritt von konflikt­freiem zu soge­nannt fairem Zinn iden­ti­fi­ziert“, erklärt Monique Lempers. In den näch­sten drei Jahren, sagt sie, wird das Unter­nehmen Initia­tiven rund um Zinn unter­stützen, die sich auch mit sicheren Arbeits­be­din­gungen, Kinder­ar­beit und fairen Einkommen beschäftigen.

Solche Initia­tiven sind in der Branche gängige Praxis: Ohne zu wissen, ob sie deren Mate­rial wirk­lich in ihren Liefer­ketten haben, inve­stieren Elek­tronik­un­ter­nehmen in Programme, die zu besseren Bedin­gungen in einzelnen Minen beitragen sollen. Fair­phone war unter anderem an der Grün­dung der Fair Cobalt Alli­ance oder der Uganda Gold Part­ner­ship beteiligt.

Die Kalimbi-Mine selbst hat Fair­phone seit einer zweiten Besich­ti­gung 2015 nicht mehr besucht, geschweige denn in sie inve­stiert, obwohl dies in einer Evalua­tion der Conflict Free Tin Initia­tive als weiterer mögli­cher Schritt vorge­schlagen wurde. Statt­dessen plant die Firma mit ‚Fair Tin‘ wohl ein neues Presti­ge­pro­jekt, das sich zwar auf verbes­serte Bedin­gungen in einer oder zwei Minen konzen­triert, aber die notwen­digen struk­tu­rellen Verän­de­rungen aussen vor lässt. Wie Apple oder Intel zahlendes Mitglied bei ITSCI zu sein, scheinen die Fairphonemacher:innen weniger sexy zu finden, als sich als Vorreiter:in einer neuen Fair­trade-Initia­tive präsen­tieren zu können.

Jeden­falls brau­chen Endverbraucher:innen keine physisch rück­ver­folg­baren Liefer­ketten, um in Programme vor Ort zu inve­stieren. Doch was bedeutet es, wenn sie schluss­end­lich alle über Listen verfügen, die ledig­lich aussagen, dass sie Rohstoffe aus denselben Schmelzen und Raffi­ne­rien verwenden?

Teil 2 dieser Serie führt an einen Konflikt um eine indu­stri­elle Mine im Kongo. In Gesprä­chen mit ehema­ligen Berg­leuten und Menschenrechtsaktivist:innen wird das Lamm noch tiefer in die Rohstoff­welt eintau­chen und Respon­sible-Mining-Zerti­fi­kate um einen wich­tigen Zulie­ferer von Fair­phone genauer unter die Lupe nehmen.

„Es ist kein Geheimnis: Wir wollen die Welt verän­dern. Fair­phone stellt Mensch und Umwelt an erste Stelle.“ Mit diesem Anspruch will Fair­phone nun schon seit bald zehn Jahren die Geschäfts­welt der Smart­phones revo­lu­tio­nieren. Anfang Oktober 2021 ist ihr viertes Fair­phone-Modell erschienen. Kann dieses Telefon wirk­lich eine fairere Welt schaffen?

In einer vier­tei­ligen Serie geht das Lamm dieser Frage nach.

Teil 1: Fair­phones Zinn­lie­fer­kette: Diffe­rent but same

Teil 2: Wenn Zerti­fi­kate Menschen­rechts­ver­let­zungen vertuschen

Teil 3:  Fair­phone: Der Preis des Wachstums 

Teil 4: Wenn das Geld abfliesst

Die Serie enthält Links zu wissen­schaft­li­cher Lite­ratur, die nicht für alle frei zugäng­lich ist. Kontak­tiere uns, wenn du sie lesen möchtest.

Diese Repor­tage wurde in Zusam­men­ar­beit mit dem kongo­le­si­schen Geologen Lucien Kamala reali­siert und von der Jour­na­li­stin Sylke Gruhn­wald begleitet. Die Recherche wurde geför­dert und unter­stützt von Netz­werk Recherche und der Olin gGmbH.


Jour­na­lismus kostet

Diese Recherche hat vor über einem Jahr begonnen und es ist unmög­lich, die Zeit, die unsere Autorin zusammen mit ihrem Kollegen im Kongo gebraucht hat, in Stunden anzu­geben. Unter­stütze auch du uns mit einer Spende dabei, dass wir solche Beiträge weiter reali­sieren können.