Wer sind „wir“?

Die Masken fallen, die Mass­nahmen wurden prak­tisch abge­schafft. Alle freuen sich darauf, in die Norma­lität zurück­zu­kehren. Alle? Natür­lich nicht. 
Freiheit für alle? Natürlich nicht. (Bild: Aboodi Vesakaran / Unsplash)

Seit dieser Woche gelten die neuen Corona-Mass­nahmen, was eigent­lich bedeutet: Es gelten prak­tisch keine Mass­nahmen mehr. Einzig im ÖV sind Masken noch Pflicht, Konzerte können wieder unein­ge­schränkt statt­finden und im Coop und in der Migros kann man einander wieder ins ganze Gesicht schauen. Das haben „wir“ uns schliess­lich verdient. Bloss: Wer sind eigent­lich „wir“? 

In der Schweiz leben über zwei Millionen Menschen mit einer chro­ni­schen Krank­heit. Rund jede:r Vierte in diesem Land hat also Diabetes, Demenz, Lungen­krank­heiten, Krebs, Herz-Kreis­lauf-Probleme, Depres­sionen, Rheuma oder andere Schmerzen. Rund 1.8 Millionen Menschen in der Schweiz haben eine Behin­de­rung, etwa eine halbe Million davon lebt mit starker Behin­de­rung. Also nochmal unge­fähr jede:r Vierte. Hier noch nicht mitge­zählt sind Menschen, die eine Auto­im­mun­krank­heit wie zum Beispiel Morbus Crohn, Zöli­akie oder Schup­pen­flechten haben oder aus anderen Gründen immun­ge­schwächt sind.

Es sind vor allem diese Menschen, die wir mit „vulnerabel“ meinen. Und es sind folg­lich diese Menschen, an die sich der Bundesrat an der gest­rigen Pres­se­kon­fe­renz rich­tete, als es hiess: Einkaufen könne man ja zur Not online erle­digen oder man könne halt zu Rand­zeiten gehen. Menschen mit Behin­de­rungen sind verletz­li­cher als andere, das war schon vor Corona so. Für sie ist unter Umständen auch eine Grippe gefähr­li­cher als für Menschen ohne chro­ni­sche Krank­heiten oder Behinderungen.

Und nicht nur das: Diese Menschen sind in allen Berei­chen des öffent­li­chen Lebens benach­tei­ligt. Sie wissen genau, wie schwer der Zugang zu einer ausrei­chenden IV-Rente oder ander­wei­tiger Unter­stüt­zung vom Staat sein kann. Mit dem Roll­stuhl dauert es auch mal eine halbe Stunde länger, um pünkt­lich in der Uni-Vorle­sung zu sein. Auch viele andere Einrich­tungen sind nicht barrie­re­frei. Und die Arbeits­welt ist über­haupt nicht auf Menschen mit mentalen Krank­heiten ausgelegt.

Mit der Kommu­ni­ka­tion des Bundes­rates wird aber nun einmal mehr gesagt: Ihr seid eine Rand­gruppe, um euch kümmern wir uns später, irgend­wann, oder naja, viel­leicht gar nie. Bloss: Diese Menschen sind keine Rand­gruppe. Immun­ge­schwächte oder Leute mit einer chro­ni­schen Krank­heit oder Behin­de­rung sind in der Gesell­schaft genauso vertreten wie Menschen, die von alledem nicht betroffen sind: Sie sind auch Lehrer:innen, Bari­stas, Kassierer:innen, Banker:innen – ihnen zu raten, sie sollen halt zu Hause bleiben, wenn es geht, ist unrea­li­stisch und auch ein biss­chen pein­lich von einer Regierung.

Die viel­be­schwo­rene „Soli­da­rität“ jeden­falls – mit der ist jetzt erst einmal genug. Daran ändert auch eine leise Erin­ne­rung daran, man könne die Masken aber trotzdem noch tragen, nichts. Das zeigt: Ein „wir“ gibt es nicht. Es gibt die vermeint­liche Mehr­heit und es gibt die „anderen“. Auf welche Perso­nen­gruppen wir als Gesell­schaft Rück­sicht nehmen, sagt einiges über unser Verständnis von Demo­kratie und Menschen­würde aus und wird in einer Pandemie noch­mals verschärft. Dass in der Schweiz relativ schnell Menschen­leben gegen den Erhalt der Wirt­schaft aufge­rechnet wurden, ist im Prinzip faschi­stisch: Dieser Über­le­gung liegt zugrunde, dass das Leben von den einen mehr wert ist als das von den anderen. 

Plötz­lich war es salon­fähig, zu sagen: „Es sterben ja vor allem die Alten und die Kranken, die wären viel­leicht sowieso gestorben.“ Es ist also kein Wunder, dass dieje­nigen, die am laute­sten gegen die Mass­nahmen schimpften, oft auch keine Probleme mit Äusse­rungen und Einstel­lungen dieser Art haben. Das hat sich vor allem in den letzten Wochen gezeigt: An Coronagegner:innen-Demos liefen Nazis ganz offen und zuvor­derst mit. 

Aber abge­sehen von der Verant­wor­tung des Indi­vi­duums: Es wäre jetzt die Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass eben nicht wieder bloss die vermeint­liche Mehr­heit heil aus der Sache heraus­kommt. Es wäre jetzt drin­gend nötig, eine klare Stra­tegie aufzu­gleisen, nicht nur für Menschen mit chro­ni­schen Krank­heiten oder Behin­de­rungen, sondern auch für Betrof­fene von Long Covid: Unser Sozi­al­sy­stem ist schon jetzt nicht auf die Menschen ausge­legt, die es in Anspruch nehmen müssen. Und es ist schon gar nicht bereit, in den näch­sten Jahren eine noch unge­wisse Anzahl Leute mehr aufzu­nehmen. Unser Gesund­heits­sy­stem übri­gens auch nicht, denn bis die Pfle­ge­initia­tive ihre Wirkung entfalten kann, dauert es noch ein paar Muta­tionen. Und dass es noch nicht einmal verläss­liche Zahlen zu Betrof­fenen zu Long Covid gibt, spricht für sich. 

Es wäre jetzt wichtig, klar zu kommu­ni­zieren: Ihr müsst keine Masken mehr tragen, aber wenn ihr sie tragt, schützt ihr weiterhin dieje­nigen, die beson­deren Schutz benö­tigen. Was wir bis dahin tun können? Betrof­fenen zuhören und von ihnen lernen. Es gibt zum Beispiel auf Insta­gram Aktivist:innnen, die sich zum Thema äussern und es gibt ganz neu einen Account von verschie­denen Betrof­fenen, die sich zu einem soli­da­ri­schen Netz­werk zusammenschliessen.

Die letzten zwei Jahre haben gezeigt: Ein „wir“ gibt es nicht, dieses Boot, in dem wir angeb­lich alle sitzen, gibt es nicht. Es gibt verschie­dene Boote: Arme, Kranke, Alte, Obdach­lose, ander­weitig Gefähr­dete, Menschen, die sich illegal in der Schweiz aufhalten müssen, Menschen, die sich ihre Arbeit nicht aussu­chen können und die durch die Mass­nahmen erheb­lich bestraft wurden, wie etwa Sexarbeiter:innen. 

Wenn eine Norma­lität also wieder möglich sein soll, muss die anders aussehen als vor Corona: empa­thisch, soli­da­risch und nach­haltig. Sonst steht die Schweiz in der näch­sten Pandemie wieder am genau glei­chen Punkt. Und dann bleiben „wir“ alle wieder zu Hause.


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