In den frühen Morgenstunden ist die internationale Autobahn M4 ganz ruhig. Entlang dieser strategischen Achse, die an die besetzten Gebiete grenzt, liegt die Stadt Tell Tamr. Das Gebiet von Tell Tamr in Nordsyrien wird überwiegend von syrischen und assyrischen Christ*innen, Kurd*innen und Araber*innen bewohnt, an denen der IS während des Vormarsches im Jahr 2015 massive Massaker begangen hat.
Jetzt sind sie Opfer eines erneuten Angriffs des türkischen Militärs geworden. Vom Hügel mit Blick auf die Stadt ist die Front nur wenige Kilometer entfernt. Darunter steht eine Kirche zwischen Häusern. Früher gab es mehr als 30 in diesem Gebiet, verstreut in verschiedenen Siedlungen. Sie wurden alle beschädigt, zerstört oder sind aufgrund der Angriffe unzugänglich. Nur diese, die älteste, ist bisher stehen geblieben.
Die Türkei startete zwischen 2016 und heute fünf Offensiven in Nordsyrien. Das erklärte Ziel: die Bekämpfung angeblicher „Terroristen“. Einer der jüngsten Angriffe der Türkei nennt sich „Operation Peace Spring“. Dieser wurde mit Unterstützung von bewaffneten Gruppen der Syrischen Nationalen Opposition (SNA) im gesamten Gebiet der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES) durchgeführt. Seit der jüngsten türkischen Invasion im Jahr 2019 wird das Gebiet täglich angegriffen. Gezielt wird hauptsächlich auf Dörfer in der Nähe des Khabour-Flusses, um die Autobahn zu erreichen. Auch Tell Tamr liegt in dieser Zone.
„Als Milizen des Islamischen Staates Anfang des Jahres versuchten, das Al-Sina-Gefängnis in Heseke anzugreifen, versuchten wir, unsere Kameraden zu erreichen“, sagt Demhat Brusk, Co-Kommandeur des Militärrats von Tell Tamr, der mit den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) verbunden ist. „Als der Angriff gewalttätiger wurde, schlugen die Türkei und ihre Verbündeten auf unsere Streitkräfte ein und versuchten, uns daran zu hindern, die Stadt zu erreichen. Die Razzien kamen direkt aus den besetzten Gebieten und verdeutlichten, dass die Offensive des Islamischen Staates bekannt war und von den türkischen Behörden vertuscht wurde, um das Gebiet zu destabilisieren.“
Zilan Tal Tamr, Kommandeurin der YPJ (Women’s Protection Unit) und Mitglied des Regierungsrates, sagt: „Der patriarchale Kontext machte es Frauen zunächst schwer, neben den männlichen Kämpfern in Nordsyrien präsent zu sein. Heute sind Frauen sehr prominent im Kampf gegen die Besatzung. Im Nordosten Syriens sind wir in allen sozialen Bereichen aktiv, nicht nur im Militär, und wir kämpfen für die Gleichstellung der Geschlechter, die den gesamten revolutionären Prozess begünstigt.“
Nur wenige Meter vom Hauptquartier des Militärrats entfernt, sitzt Xabûr Ekad vor dem Gebäude, in dem der syrisch-assyrische Militärrat der Region Khabour seinen Sitz hat. Er gehört zu den Sprecher*innen der Organisation und erzählt, wie unzählige Menschen Tell Tamr zwischen 2012 und 2015 ins Ausland verlassen haben. Dank der Fortschritte des Militärrats seien viele zurückgekehrt: „Sie kommen zurück, um das Wachstum der Gemeinschaft zu unterstützen und gegen die türkische Besatzungstruppe zu kämpfen“, sagt Ekad.
Nabil Warda, Sprecher der Assyrians Khabour Guards, einer Miliz, die Assyrer*innen in der Gegend versammelt, ergänzt: „Wir haben fünfzig Familien Unterschlupf gewährt, die aus Dörfern geflohen sind, die von den türkischen Besatzern angegriffen wurden. Sie wollen die syrisch-assyrische Präsenz aus dem Gebiet tilgen. Wir verteidigen nicht nur die Christen, wir verteidigen ein Projekt des Zusammenlebens und der Toleranz, das ständig bedroht ist.“
In Heseke, nicht weit von der Stadt Tell Tamr entfernt, sagt Kendal Rojava, ein junges Mitglied der YPG-Internationale: „Erdoğan will unter dem Vorwand eines Kampfes gegen das, was Ankara ‚Terrorismus‘ nennt, seine Grenzen erweitern.“ Dafür nutze die Türkei islamistische und dschihadistische Verbündete, ergänzt ein anderer junger Freiwilliger.
„Die Türkei will wie in Afrin ihr eigenes ethnisch-politisches Projekt in der ganzen Region durchführen“, fährt Zafer Zagros, ein junges YPG-Mitglied, fort. In Afrin würden Menschen gezwungen, türkisch zu sprechen. „Erdoğan versucht mit seinen nationalistischen Verbündeten eine Neo-Osmanische-Agenda im Nahen Osten durchzusetzen“, betont Zagros. „Dabei gab es immer eine türkische Unterstützung – auch logistisch – für die neuen ISIS-Aktivitäten, wie viele der IS-Milizionäre erklärten, die SDF in letzter Zeit gefangen genommen haben“, fährt Ciwan fort.
Man sei sich hier die Einschüchterung durch die Türkei und ihre Verbündeten gewöhnt, berichten die drei Freiwilligen. Bisher gäbe es keine genaue Zahl, wie viele Menschen aus Angst vor einer neuen türkischen Invasion geflohen sind. Aber es gibt täglich Demonstrationen zur Unterstützung der SDF und gegen den bevorstehenden Angriff, sagen sie.
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