„Der Boden­an­griff könnte jeder­zeit beginnen“

Seit Wochen greift die Türkei Rojava aus der Luft an: Kampf­flug­zeuge und Drohnen zielen auf zivile Infra­struktur, die Revo­lu­tion steht unter Beschuss. Das Lamm sprach mit einer Akti­vi­stin vor Ort. 
Kreisel im Zentrum der Stadt Kobane. Nachdem durch den türkischen Beschuss die einzige Gasanlage für die Stadt beschädigt wurde, leben 17'000 Familien ohne Gas (Foto: Flickr/ Simon Conway)

Das Lamm: Rosa Nicole*, seit Wochen greift die Türkei die kurdi­schen Provinzen in Nord­ost­sy­rien an. Was passiert dort derzeit genau?

Rosa Nicole: In der Nacht zum 19. November hat der türki­sche Staat verschie­dene Städte wie Kobane, Derik und Zirgan an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien aus der Luft ange­griffen. Das geschah bereits früher schon, doch dieses Mal zielt die Türkei mit ihren Angriffen auf zivile Infra­struktur wie Kran­ken­häuser, Elek­tri­zi­täts­werke, Getrei­de­silos oder Schulen.

Um nur ein Beispiel zu nennen: In der ersten Nacht des Beschusses am 19. November griff die Türkei das Elek­tri­zi­täts­werk in Derik an und traf dabei den Wächter des Gebäudes. Zivilist*innen versuchten ihn zu retten, doch als sie das Werk erreichten, schlug eine zweite Rakete ein. Neun von ihnen wurden getötet.

Was macht diese Situa­tion mit den Menschen?

Die Lage ist ange­spannt. Die Menschen wissen nicht, wann und wo der nächste Anschlag statt­finden wird. Obwohl in der Region seit elf Jahren Krieg herrscht, ist die Angst im Moment beson­ders gross. Denn die Kampf­drohnen und Artil­le­rie­ge­schütze können überall und jeder­zeit einschlagen.

Trotzdem ist die Bevöl­ke­rung sehr tapfer. Viele sagen, dass sie auch im Falle eines Boden­an­griffs bleiben werden, wie im Krieg von Afrin und Aleppo. Wenn man sich die Bilder von der Beer­di­gung der Zivilist*innen in Derik ansieht und den Trau­er­reden zuhört, merkt man: Die Angst der Bevöl­ke­rung verwan­delt sich in Wut und in den Willen, bis zum Ende zu kämpfen.

Wie zeigt sich dies im Alltag der Leute?

Obwohl die Angst und der Wille, sich zu vertei­digen sehr gross sind, muss das Leben weiter­gehen. Unsere Tage sehen trotz der Anschläge aus wie früher, wir müssen immer noch arbeiten und die Dinge tun, die alle tun müssen.

Was sich geän­dert hat, ist die grosse Unsi­cher­heit, die entstanden ist. Die Vorsichts­mass­nahmen, die wir treffen müssen. Und die Tatsache, dass wir vor dem Schla­fen­gehen nicht wissen, was in der Nacht passieren wird.

Wenn wir aufwa­chen, schauen wir sofort in die Nach­richten, um uns zu infor­mieren, was passiert ist: Wo gab es einen Angriff? Mit wie vielen Toten und Verwun­deten? Manchmal sehen wir in den Sozialen Medien Bilder von Bekannten, die verwundet wurden oder gestorben sind. Die Fami­lien sind ständig am Telefon, um zu erfahren, ob es ihren Ange­hö­rigen gut geht. Und in jedem Haus läuft ständig der Fernseher.

Wie sieht es mit dem Zugang zu medi­zi­ni­scher Versor­gung, Nahrung und Wasser aus?

Die Wasser­si­tua­tion war schon immer schwierig, weil die Türkei den Fluss Euphrat seit Jahren blockiert. Auch die Gesund­heits­si­tua­tion ist prekär: Wegen dem Wasser­mangel breiten sich Krank­heiten wie Cholera und Corona schnell aus. Und das Embargo der Türkei, der syri­schen Regie­rung und der kurdi­schen Regio­nal­re­gie­rung im Nord­irak gegen Rojava führt zu einer Wirt­schafts­krise, die wiederum einen Mangel an Medi­ka­menten und Lebens­mit­teln zur Folge hat.

Zudem sind viele Ärzt*innen während des elf-jährigen Krieges, den Syrien und Rojava erleben, nach Europa geflohen.

Sie selbst kommen aus der Schweiz. Warum haben Sie sich entschieden, nach Rojava zu gehen?

Ich bin vor andert­halb Jahren nach Rojava gekommen, um mehr über die Revo­lu­tion zu erfahren und sie so gut wie möglich zu unter­stützen. Ich inter­es­siere mich beson­ders für die auto­nome Frau­en­or­ga­ni­sa­tion und war etwa bei den jungen Frauen und bei Kongra Star, der Konfö­de­ra­tion der Frau­en­or­ga­ni­sa­tionen aktiv. Ich habe aber auch in den Gesund­heits­struk­turen und bei Jineolojî mitge­wirkt, einer Frau­en­struktur, die über das Frau­sein und die Geschichte der Frauen forscht.

Nicht alle lokalen linken Kämpfer*innen heissen Menschen von aussen will­kommen. Warum ist gerade der Kampf um Rojava so international?

Ich denke, dafür gibt es verschie­dene Gründe. Der wich­tigste ist viel­leicht, dass die Ideo­logie, auf der die Revo­lu­tion beruht, an sich sehr inter­na­tio­na­li­stisch ist. Das neue poli­ti­sche und ideo­lo­gi­sche System, das hier aufge­baut wird, ist der demo­kra­ti­sche Konfö­de­ra­lismus, der von Abdullah Öcalan erdacht und vorge­schlagen wird. Aber dieser Vorschlag gilt nicht nur für Kurdi­stan, sondern für die ganze Welt.

Rojava sollte daher auch ausdrück­lich zu einem Ort werden, an dem Revolutionär*innen aus der ganzen Welt lernen und sich ausbilden können, um danach ihre eigenen Bewe­gungen in der Heimat zu stärken.

Die Rojava-Revo­lu­tion fand vor dem Hinter­grund des seit 2011 andau­ernden Bürger­kriegs in Syrien statt. Die Kurd*innen, die in der Grenz­re­gion zur Türkei und zum Irak leben, stellten sich weder auf die Seite der Assad-Regie­rung, die ihnen jahr­zehn­te­lang elemen­tare Rechte verwei­gerte, noch auf die Seite der eben­falls von arabi­schen Nationalist*innen domi­nierten Oppo­si­ti­ons­gruppen, die die kurdi­sche Selbst­be­stim­mung eben­falls nicht aner­kannten. Unter der Führung der Partei der Demo­kra­ti­schen Union (PYD), die Abdullah Öcalan nahe­steht und aus der kurdi­schen Arbeiter*innenpartei (PKK) entstand, wurden zunächst im Unter­grund Komi­tees gegründet, um die Bevöl­ke­rung zu versorgen und zu vertei­digen. Als sich der Krieg auf die kurdi­schen Gebiete auszu­breiten drohte, mobi­li­sierte die PYD zusammen mit der Christ­li­chen-Syri­schen Einheits­partei (SUP) und weiteren Klein­par­teien die Bevöl­ke­rung, um im Sommer 2012 die Macht zu über­nehmen, und bildete die Auto­nome Selbst­ver­wal­tung von Nord- und Ostsy­rien, auch bekannt unter dem kurdi­schen Namen Rojava.

Seitdem gilt Rojava als welt­weit einzig­ar­tiges Projekt für radi­kale Demo­kratie in Form eines Räte­sy­stems, deren kleinste Einheit der Selbst­ver­wal­tung die Kommune ist, etwa die Bewohner*innen eines Vier­tels, einer Strasse oder eines Dorfes. Die Verwal­tung wider­spie­gelt die multi­eth­ni­sche und ‑reli­giöse Situa­tion der Region und ist bekannt für Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit und ökolo­gi­sche Nach­hal­tig­keit. Mit Ausnahme des kata­la­ni­schen Parla­ments wird die de facto auto­nome Region von keinem Staat offi­ziell anerkannt.

Wie ist die aktu­elle Sicher­heits­lage in der Region Cizire, wo sie sich befinden?

Auch hier finden seit Jahren Droh­nen­an­griffe statt. Sie zielen auf Zivilist*innen. Die Lage ist sehr ange­spannt. Wie in anderen Regionen gibt es in Cizire zudem viele Schlä­fer­zellen des IS. Unsere Streit­kräfte kämpfen gegen sie, aber die Gefahr ist immer noch gross. Eines der grössten Sicher­heits­pro­bleme sind die Gefäng­nisse und Lager, in denen Zehn­tau­sende von IS-Gefan­genen und deren Fami­lien unter­ge­bracht sind.

Denn der türki­sche Staat versucht, sie zum Ausbruch zu bewegen, um eine weitere Kraft gegen die Revo­lu­tion zu haben. Viel­leicht erin­nern Sie sich daran, dass die IS-Gefan­genen zu Beginn dieses Jahres versucht haben, aus dem Gefängnis in der Stadt Hasakah auszu­bre­chen.

Wie inter­pre­tieren Sie die jüng­sten Angriffe?

Die neusten Beschüsse über­ra­schen uns nicht, denn seit den Angriffen auf Afrin im Jahr 2018 und dann auf Serê­ka­niyê und Gire Spi im Jahr 2019 will der türki­sche Staat das Projekt, das hier aufge­baut wird, loswerden.

Seit einigen Jahren häufen sich die Droh­nen­an­griffe und zielen vor allem auf poli­ti­sche Persön­lich­keiten ab. Nun werden die verschie­denen Regionen wie Sheba, Kobane und Cizire massiv von Kampf­flug­zeugen und Drohnen ange­griffen. Der Luft­raum wird je nach Region von den USA oder von Russ­land kontrol­liert. Heisst: Sie haben ihre Zustim­mung zu diesen Angriffen gegeben.

Laut türki­schen Staats­me­dien sind die jüng­sten Anschläge ein Akt der Vergel­tung für die Terror­an­schläge in Istanbul, für die sie unter anderem die PKK verant­wort­lich machen.

Es ist lächer­lich, dass der türki­sche Staat die Explo­sion in Istanbul zum Anlass nimmt, um im Namen der Sicher­heit in die Auto­nomen Gebiete von Nord- und Ostsy­rien einzu­dringen. Der Terror­vor­wurf ist zudem zynisch: Es gibt genü­gend Beweise dafür, dass der türki­sche Staat dschi­ha­di­sti­sche Gruppen wie den IS unter­stützt und ihnen gezielt dabei hilft, Gebiete in Rojava einzunehmen.

Die türki­sche Armee greift nicht nur mili­tä­ri­sche Einrich­tungen an, sondern auch Wohn­ge­biete und Zivilist*innen. Warum ist das Ihrer Meinung nach so?

Der türki­sche Staat will die Moral der Zivilist*innen zerstören und so viel emotio­nalen Schmerz wie möglich verur­sa­chen. Er schreckt nicht zurück vor Kriegs­ver­bre­chen wie dem Einsatz von von weissem Phos­phor im Krieg gegen die kurdi­sche Stadt Serê­ka­niyê oder von chemi­schen Waffen gegen die mili­tanten Flügel der PKK in den Bergen Kurdi­stans, die People’s Defence Forces (HPG) und die Free Women’s Units (YJA-STAR).

Die Türkei will, dass die Menschen die Städte und Dörfer verlassen, damit sie die Region leichter unter ihre Kontrolle bringen können. Es ist ein faschi­sti­sches Land, das seit Jahr­zehnten eine rassi­sti­sche Politik gegen das kurdi­sche Volk betreibt und ein neo-osma­ni­sches Reich schaffen will.

Was bedeutet das genau? Faschismus ist ja ein sehr spezi­fi­scher Begriff.

Es ist ganz klar, dass der türki­sche Staat eine faschi­sti­sche Politik verfolgt, aber das ist nichts Neues, sondern etwas Histo­ri­sches. Wenn wir Faschismus als eine Ideo­logie verstehen, die auf der Fantasie der Schaf­fung und des Schutzes einer verlo­renen und glor­rei­chen Nation basiert und die alle Mittel einsetzt, um dies zu errei­chen, dann können wir ohne Zweifel sagen, dass die Türkei ein faschi­sti­scher Staat ist.

Und diese Politik versucht der türki­sche Präsi­dent Erdogan auf der Ebene der Geostra­tegie umzu­setzen. Die Türkei ist Teil der NATO und er nutzt sie für seine eigenen Vorteile. Zum Beispiel gibt die Türkei viel Geld für Waffen an verschie­dene NATO-Länder, etwa an Deutsch­land. Ausserdem beher­bergt die Türkei eine grosse Anzahl von Geflüch­teten in Lagern, und Erdogan weiss, dass die EU diese Geflüch­teten eigent­lich nicht aufnehmen will.

Der EU ist es also wich­tiger, das euro­päi­sche Grenz­re­gime aufrecht­zu­er­halten, als sich gegen die Angriffe der Türkei auszusprechen?

Ich denke, das ist eine Antwort, aber nicht die einzige. Die Abma­chung zwischen der EU und der Türkei, möglichst keine Geflüch­teten nach Europa zu lassen, spielt sicher­lich eine Rolle. Aber auch die wirt­schaft­li­chen Verein­ba­rungen der Türkei mit verschie­denen EU-Ländern sind ein Grund dafür, dass diese zu den Angriffen der Türkei schweigen.

Zudem scheint seit dem Krieg in der Ukraine die Loya­lität gegen­über den NATO-Staaten zu einem Schlüs­sel­ele­ment geworden zu sein. Deshalb trauen sich nur wenige, ihre Stimme gegen NATO-Mitglieder wie die Türkei zu erheben.

In den Schweizer Medien wird nur sehr wenig über die jüng­sten Bomben­an­schläge berichtet. Haben Sie Erklä­rungen hierfür?

Der türki­sche Staat nutzt alles, was möglich ist, für seine eigenen Inter­essen. Es ist kein Zufall, dass die Angriffe während der Fuss­ball­welt­mei­ster­schaft und der irani­schen Unruhen statt­finden. So sind die Chancen natür­lich kleiner, dass darüber berichtet wird.

Wir erwarten deshalb auch, dass die Anschläge weiter­gehen und inten­siver werden. Denn die Türkei will die ökolo­gi­sche, demo­kra­ti­sche und frau­en­zen­trierte Revo­lu­tion, die hier statt­findet, zerstören.

Der Boden­an­griff könnte jeder­zeit beginnen, viel­leicht in ein paar Stunden, ein paar Tagen oder ein paar Monaten. Noch ist nichts klar, aber ich bin über­zeugt, dass Erdogan vor den Wahlen in der Türkei alles Mögliche versu­chen wird, um in die Region einzudringen.

*Name von der Redak­tion geändert.

Mitar­beit: Natalia Widla


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