„Leute nennen mich naiv, anti­se­mi­tisch, eine Verräterin“

Die 18-jährige Israelin Sofia Orr sitzt als Wehr­dienst­ver­wei­gerin im Gefängnis. Im Inter­view erzählt sie, warum sie trotz des harten Vorge­hens gegen Kriegsgegner*innen in Israel nie von ihrer Entschei­dung abge­wi­chen ist. 
Die 18-jährige Sofia Orr verweigert den Kriegsdienst in Israel. (Foto: Oren Ziv)

Dieser Text ist ursprüng­lich im Magazin +972 erschienen. Selina Schön­holzer hat ihn für das Lamm aus dem Engli­schen übersetzt.

An einem Sonntag Ende Februar erschien die 18-jährige poli­ti­sche Kriegs­dienst­ver­wei­gerin Sofia Orr im Rekru­tie­rungs­zen­trum der Armee in der Nähe von Tel Aviv. Hier erklärte sie, dass sie sich aus Protest gegen den Krieg Israels gegen Gaza weigert, sich zum obli­ga­to­ri­schen Wehr­dienst zu melden. 

Nachdem der eben­falls knapp voll­jäh­rige Tal Mitnick letzten Dezember dasselbe tat, verwei­gert mit Orr nun der zweite Teen­ager seit dem 7. Oktober öffent­lich und aus poli­ti­schen Gründen den Dienst. Sie wurde zu einer ersten 20-tägigen Haft­strafe im Mili­tär­ge­fängnis Neve Tzedek verur­teilt, die voraus­sicht­lich verlän­gert wird, sollte sie sich weiterhin weigern, zum Dienst anzutreten.

„Ich verwei­gere mich dem Mili­tär­dienst, weil es im Krieg keine Gewinner*innen gibt.“

Sofia Orr, israe­li­sche poli­ti­sche Kriegdienstverweigerin

„Die aktu­elle Stim­mung begegnet meinen Über­zeu­gungen mit deut­lich mehr Gewalt, weshalb ich selbst­ver­ständ­lich auch mehr Angst habe. Gleich­zeitig bin ich über­zeugt, dass es gerade jetzt wich­tiger denn je ist, Stimmen des Wider­stands zu erheben“, erzählt Orr im Inter­view. „Ich verwei­gere mich dem Mili­tär­dienst, weil es im Krieg keine Gewinner*innen gibt. Das sehen wir heute deut­li­cher als je zuvor. Alle Menschen, vom Jordan bis zum [Mittel-]Meer, leiden unter diesem Krieg. Nur Frieden, eine poli­ti­sche Lösung und der Vorschlag einer tatsäch­li­chen Alter­na­tive können für Sicher­heit sorgen.“

Orr erklärt weiter, dass für sie schon lange vor Kriegs­be­ginn fest­stand, dass sie ihre Wehr­pflicht verwei­gern würde; wegen „der Besat­zung und Unter­drückung, die die [israe­li­sche] Armee gegen die Palästinenser*innen in der West Bank durch­setzt“. Die von der Hamas ange­führten Anschläge vom 7. Oktober, so Orr, „haben uns wieder einmal gezeigt, dass Gewalt nur zu mehr Gewalt führt und dass wir das Problem fried­lich lösen müssen, nicht durch noch mehr Gewalt.“

Unge­fähr dreissig junge linke Aktivist*innen beglei­teten Orr bis vors Rekru­tie­rungs­zen­trum. Hier zeigen sie mit einer Kund­ge­bung ihre Unter­stüt­zung für Orrs Entschei­dung, den Wehr­dienst zu verwei­gern. Damit weckten sie auch das Inter­esse einiger ultra­or­tho­doxer Jeschiwa-Schüler*innen, die gleich­zeitig ange­reist waren, um sich vom Wehr­dienst befreien zu lassen.

Tausende israe­li­scher Jugend­li­cher werden jedes Jahr vom Wehr­dienst befreit – primär aus reli­giösen Gründen. Doch nur eine Hand­voll bekennt sich öffent­lich zur poli­ti­schen Ableh­nung des Mili­tär­dien­stes. Eine poli­tisch moti­vierte Verwei­ge­rung kann neben einer Gefäng­nis­strafe auch die Berufs­aus­sichten schmä­lern und zu sozialer Stig­ma­ti­sie­rung führen.

Sofia Orr vor dem Rekru­tie­rungs­zen­trum der Armee in der Nähe von Tel Aviv im Februar 2024. (Foto: Oren Ziv)

Trotz alledem war Orr eine von insge­samt 230 israe­li­schen Jugend­li­chen, die Anfang September – also vor dem Angriff der Hamas – einen offenen Brief unter­zeich­neten, in dem sie kollektiv ankün­digten, ihren Einbe­ru­fungs­be­fehl zu verwei­gern. Sie verstanden dies als Teil eines brei­teren Protests gegen die Vorstösse der rechts­extremen israe­li­schen Regie­rung, die Macht der Justiz zu beschneiden. 

Die Schüler*innen, die sich unter dem Banner „Youth Against Dicta­tor­ship“ orga­ni­sierten, stellten die anti­de­mo­kra­ti­schen Justiz­re­form­pläne der Regie­rung klar mit Israels lang­jäh­riger Mili­tär­herr­schaft über Palä­stina in Verbin­dung. Sie erklärten, dass sie nicht in die Armee eintreten würden, „bis die Demo­kratie für alle, die im Herr­schafts­be­reich der israe­li­schen Regie­rung leben, gesi­chert ist.“

Seit dem 7. Oktober unter­stützt die über­wäl­ti­gende Mehr­heit der israe­li­schen Öffent­lich­keit die mili­tä­ri­schen Angriffe auf Gaza. Linke Aktivist*innen, die sich gegen den Krieg ausspre­chen, sind mit heftiger Poli­zei­re­pres­sion konfron­tiert und regel­mässig von „Doxxing“ betroffen; sie werden mit Bild und persön­li­chen Daten im Internet an den Pranger gestellt. Damit wurde das Risiko für poli­ti­sche Militärdienstverweiger*innen noch höher. 

„Ich begann zu verstehen, dass ich mich mit dem Mili­tär­dienst an einem jahr­zehn­te­langen Kreis­lauf der Gewalt betei­ligen und ihn weiter norma­li­sieren würde.“

Sofia Orr, israe­li­sche poli­ti­sche Kriegdienstverweigerin

Im folgenden Inter­view, das der Länge und Klar­heit halber gekürzt wurde, erklärt Orr, wieso ihre Entschei­dung, den Mili­tär­dienst zu verwei­gern, trotzdem nie ins Wanken geraten ist. 

Oren Ziv: Wie kommt es, dass du dich entschieden hast, den Mili­tär­dienst zu verweigern? 

Sofia Orr: Schon immer habe ich mich mehr den Menschen als Staaten verbunden gefühlt. Richtig klar wurde mir meine Ableh­nung der Wehr­pflicht aber mit etwa 15. Dann drängten sich mir Fragen auf: Wem würde ich durch meinen Mili­tär­dienst wirk­lich dienen? Wen würde ich damit wobei unterstützen?

Ich begann zu verstehen, dass ich mich mit dem Mili­tär­dienst an einem jahr­zehn­te­langen Kreis­lauf der Gewalt betei­ligen und ihn weiter norma­li­sieren würde. Ich reali­sierte nicht nur, dass ich dies unter keinen Umständen tun kann – sondern auch, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun muss, um dem Kreis­lauf ein Ende zu setzen und Wider­stand zu leisten.

Indem ich offen darüber rede, was der Wehr­dienst für mich bedeutet, hoffe ich, auch andere Menschen dazu zu bewegen, über ihren Wehr­dienst nach­zu­denken und zu hinter­fragen, ob sie damit etwas Gutes bewirken. Ich tue dies aus Empa­thie, Soli­da­rität und Liebe für alle Israelis und Palästinenser*innen, die in Israel, Gaza oder in der West­bank leben, unab­hängig von ihrer Natio­na­lität oder Reli­gion – aus der einfa­chen Über­zeu­gung, dass jeder Mensch ein Leben in Sicher­heit und Würde verdient. 

Aktivist*innen unter­stützen Sofia Orrs Dienst­ver­wei­ge­rung vor dem Rekru­tie­rungs­zen­trum. (Foto: Oren Ziv) 

Du hast deine Meinungen in den Jahren gebildet, in denen viele libe­rale Israelis gegen die Regie­rung demon­strierten – auf den „Balfour“-Protesten in Jeru­salem um 2020 und den „Kaplan“-Protesten in Tel Aviv im Jahr 2023. Warst Du in diesen Bewe­gungen aktiv? 

Diese Proteste waren wichtig, aber sie fokus­sierten nie auf das, was meiner Meinung nach die Wurzel des Problems ist. Deswegen war es mir sehr wichtig, an den Prote­sten teil­zu­nehmen und die Diskus­sion zu erwei­tern. Die israe­li­sche Gesell­schaft versucht mit aller Kraft, die Besat­zung und die Palästinenser*innen zu igno­rieren, in der Hoff­nung, das Problem würde sich einfach auflösen. Aber das tut es nicht, wie wir jetzt sehr deut­lich sehen. Das Problem verschwindet nicht einfach, nur weil man wegschaut. Es bleibt, wächst weiter – bis es schliess­lich explodiert.

Wie hat dein Umfeld auf deine Entschei­dung reagiert?

Die meisten Leute finden mich seltsam und wollen nicht verstehen, wovon ich rede. Sie nennen mich naiv und egoistisch, manchmal auch anti­se­mi­tisch und eine Verrä­terin, und wünschen mir alle mögli­chen gewalt­vollen Dinge. Zum Glück begegne ich diesen Reak­tionen nicht in meinem näch­sten Umfeld, doch ich habe sowohl von Freund*innen als auch Verwandten schwie­rige Rück­mel­dungen erhalten.

In dem Moment, in dem man aufhört zu glauben, dass Palästinenser*innen Menschen sind, wird es möglich, ihrem Leben den Wert abzu­spre­chen; wird es möglich, sie umzu­bringen, ohne nachzudenken.

Sofia Orr, israe­li­sche poli­ti­sche Kriegdienstverweigerin

Nach dem 7. Oktober mit der Welle der „Desil­lu­sio­nierten“ wurde es viel schlimmer. So nennen sich Leute, die vor dem 7. Oktober an die Möglich­keit einer [fried­li­chen poli­ti­schen] Lösung geglaubt hatten und diese Hoff­nung danach verloren. Dabei hat der 7. Oktober genau bewiesen, dass eine poli­ti­sche Lösung notwendig ist. Sonst wird die Gewalt weitergehen.

In der israe­li­schen Gesell­schaft herrscht ein noch nie da gewe­senes Verlangen nach Rache. Siehst du deine Verwei­ge­rung als Versuch, die Öffent­lich­keit zu über­zeugen oder als dekla­ra­tive Aktion ange­sichts dieser Welle?

Auch wenn ich damit niemanden über­zeuge, stehe ich hinter meiner Entschei­dung zu verwei­gern. Es ist das einzig Rich­tige. Aber ich weiss nicht, ob ich es öffent­lich tun würde, hegte ich nicht die Hoff­nung, dass Leute mich hören werden; dass es immer noch einen gewissen Raum für Gespräche gibt. 

Es ist mir wichtig, die israe­li­sche Gesell­schaft zu errei­chen, vor allem junge Leute, die am glei­chen Punkt stehen wie ich, und ihnen aufzu­zeigen, warum ich mich so entschied.

Am 25. Februar verwei­gert Sofia Orr den israe­li­schen Mili­tär­dienst und muss dafür ins Gefängnis. (Bild: Oren Ziv)

Hast du Freund*innen oder Verwandte, die gerade in Gaza dienen?

Inner­halb von Gaza – nein. Aber ich habe sehr viele Freund*innen, die in der Armee dienen oder gedient haben. Ich will auch für sie nur das Beste. Ich will, dass der Staat aufhört, Soldat*innen in den Tod zu schicken. Ich will, dass sie ein normales Leben führen können – doch sie sehen das anders.

Haben dir Begeg­nungen mit Palästinenser*innen geholfen, dich für die Verwei­ge­rung zu entscheiden?

Meine Über­zeu­gungen waren auch schon bevor ich Palästinenser*innen kennen­lernte ziem­lich gefe­stigt. Doch die Begeg­nungen machten alles konkreter: Menschen kennen­zu­lernen, von denen uns immer erzählt wurde, sie seien unsere Feinde, und zu sehen, dass sie ganz normale Menschen wie du und ich sind, Menschen, die genau wie ich einfach ihr Leben leben wollen. 

Die Entmensch­li­chung ist ein gewal­tiges Problem, deshalb sind diese Begeg­nungen sehr wichtig. Denn in dem Moment, in dem man aufhört zu glauben, dass Palä­sti­nen­se­rinnen Menschen sind, wird es möglich, ihrem Leben den Wert abzu­spre­chen; wird es möglich, sie umzu­bringen, ohne nachzudenken.

Machst du dir Sorgen, im gegen­wär­tigen poli­ti­schen Klima ins Gefängnis zu gehen?

Ja, natür­lich. Die momen­tane Stim­mung begegnet meinen Über­zeu­gungen und meiner Entschei­dung mit enormer Gewalt. Es versteht sich also von selbst, dass ich sowohl vor der Gefäng­nis­strafe als auch von den Reak­tionen draussen Angst habe. Aber genau das macht die Entschei­dung für mich umso wich­tiger. In diesen Zeiten ist es wich­tiger denn je, eine Stimme des Wider­stands und der Soli­da­rität zu erheben und nicht tatenlos zuzusehen.


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