„Uns geht es den Umständen entsprechend gut“, erzählt Ramsis. „Nur wissen wir nicht, wie es finanziell weitergehen soll. Meine Mutter fragt mich jeden Tag, was aus uns werden wird.“
Ramsis ist Mitte 20 und Student. Er hat in Barcelona studiert und Europa bereist. Nun sitzt Ramsis wieder fest – bei seiner Familie in einem der grossen Flüchtlingslager, die mittlerweile zu Dörfern geworden sind, bei Nablus inmitten der Westbank. Seit dem Ausbruch des Coronavirus in Israel und den Palästinensergebieten haben die raschen und strikten israelischen Massnahmen viel internationale Aufmerksamkeit erfahren. Was aber in der Westbank und in Gaza passiert, wurde kaum beachtet.
Die ersten COVID-19-Fälle waren Hotelangestellte und Gäste in Bethlehem. Dort wurde der Notstand als Erstes ausgerufen, bevor er sich von Stadt zu Stadt ausbreitete, bis es zum kompletten Lockdown kam, erzählt Ramsis. „Wir haben hier in Palästina im internationalen Vergleich relativ früh den Notstand erklärt, aber das liegt vor allem daran, dass unser Gesundheitssektor nicht sonderlich gut ist.“ Am schlimmsten seien bisher aber die wirtschaftlichen Folgen: Die Regierung habe zwar einen Preisdeckel verhängt und würde hart gegen HändlerInnen vorgehen, die Waren zu überteuerten Preisen anbieten würden. Doch das ändere nur wenig, sagt Ramsis. „Wenn wir nicht arbeiten, können sich viele Menschen auch die Produkte zu normalen Preisen nicht leisten.“ Nur den Staatsangestellten gehe es etwas besser: Ihre Löhne sind vorerst gesichert.
Zwar wird die Palästinensische Autonomiebehörde bzw. der Staat Palästina von internationalen SpenderInnen wie etwa Saudi-Arabien unterstützt, aber gerade die Hunderttausenden Menschen, die wie Ramsis in inländischen Flüchtlingslagern leben, sind nicht der palästinensischen Führung sondern der UNRWA unterstellt, dem UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge. Und die UNRWA steckt in einer grossen finanziellen Krise, seit US-Präsident Trump medienwirksam die US-Beiträge an das Hilfswerk sistiert hat. So appelliert das UNRWA momentan an internationale GeldgeberInnen, um das Loch in der Kasse zu füllen und „an vorderster Front gegen die Ausbreitung des Coronavirus zu kämpfen“, wie es in einer Pressemitteilung heisst. Bisher eher erfolglos.
„Mein Vater hatte Lebensmittel für die Ausgangssperre eingekauft, doch ohne seinen Job – er verkauft Früchte und Gemüse aus seinem Van heraus – fehlt uns das Geld, um weitere Lebensmittel zu besorgen. Mit jedem Tag wird es schlimmer“, erzählt Ramsis. Auf den Märkten innerhalb der Westbank gibt es kaum noch zahlungsfähige Kundschaft und auch sonst steht das soziale, und somit auch das wirtschaftliche Leben so ziemlich still. Auch der Tourismus, gerade für Bethlehem, Hebron oder Ramallah ausschlaggebend, liegt komplett brach.
Viele palästinensische Hilfs- oder GastarbeiterInnen hätten sich wegen der Krise dafür entschieden, in Israel zu bleiben, wo sie oftmals während einiger Monate quasi als Saisoniers Geld verdienen: „In Israel gibt es immerhin noch ein bisschen was zu verdienen“, sagt Ramsis. Doch nicht alle wollen bleiben.
Risikogruppe GastarbeiterInnen
Rund 45’000 palästinensische GastarbeiterInnen befinden sich momentan in Israel oder der Region, viele von Ihnen möchten nun zurückkehren, was die Gefahr einer weiteren Ausbreitung erhöht, erzählt Ely Sok, Missionsleiter von Ärzte ohne Grenzen in Jerusalem. „An den Checkpoints gibt es Hygienemassnahmen, aber wie gut diese eingehalten werden, wissen wir nicht.“
Ramsis erhebt derweil schwere Vorwürfe gegen Israel: Die palästinensischen ArbeiterInnen, die innerhalb Israels gebraucht wurden, würden beim kleinsten Verdacht auf eine Ansteckung an den Checkpoints abgesetzt, was die Zahlen der Infizierten im Westjordanland steigen liesse. Zudem ist die Chance, dass sich gerade palästinensische ArbeiterInnen innerhalb Israels anstecken, erhöht: Zahlen der israelischen NGO Kav LaOved besagten, dass üblicherweise rund 60’000 palästinensische ArbeiterInnen in Israel arbeiten, meist auf dem Bau, auf Farmen oder als ErntehelferInnen. Die jetzt geltenden und so wichtigen Hygieneregeln würden aber gerade in diesen Berufssparten oft nicht eingehalten. Wie die NGO schreibt, seien bisher auch keine besonderen Massnahmen zum Schutz dieser vulnerablen Gruppen getroffen worden. Viele der GastarbeiterInnen würden, um Geld zu sparen auf den Baustellen oder Feldern schlafen, oft in grossen Gruppen und ohne Zugang zu angemessenen sanitären Einrichtungen.
Dass Erkrankte oder auch nur scheinbar Infizierte palästinensische ArbeiterInnen von israelischen Sicherheitsleuten an den Checkpoints abgeliefert und sich selbst überlassen werden, wie Ramsis erzählt, scheint keine Propaganda zu sein. Videos solcher Ausschaffungen kursieren momentan zuhauf auf den sozialen Medien. Oftmals heisst es, israelische Autoritäten würden mit dem Auto an einen Checkpoint fahren, einen Arbeiter aus dem Auto stossen und sich abschliessend die Hände desinfizieren, bevor sie weiterfahren. Auch die Times of Israel schreibt über die Zwischenfälle.
Ely Sok möchte zur politischen Situation öffentlich keine Stellung beziehen. Zusammen mit MSF leitet er momentan ein Projekt zur psychischen Gesundheit in der Westbank und arbeitet daran, eine Hotline für COVID-19-Verdachtsfälle ins Leben zu rufen. In Gaza sind MSF derweil damit beschäftigt, eine etwas stabilere Infrastruktur zu etablieren. Sok lobt die Arbeit der palästinensischen Autoritäten in der Westbank und deren schnelles Durchgreifen nach Bekanntwerden der ersten Fälle. Stand jetzt gab es in der Westbank bisher nur zwei registrierte Todesfälle.
“Die Infrastruktur in der Westbank ist nicht gut, aber stabil genug, um einem kleineren Ausbruch Stand zu halten“, sagt Sok. Was primär fehlt, sind Testkits und Hygienematerialien, wie sie auch sonst vielerorts gerade Mangelware sind. Auch wenn momentan keine offizielle Importblockade besteht, ist der Import für Palästina noch einmal schwieriger, gerade bei begehrten Gütern wie Atemmasken. Die grösste Sorge der Ärzte ohne Grenzen sei im Hinblick auf die Ausbreitung momentan der bevorstehende Fastenmonat Ramadan und dessen Auswirkungen auf die Ausgangssperren und Abstandsregeln.
„Die Menschen kämpfen so lange schon gegen die Belagerung; ich glaube vielen erscheint Corona nicht wie eine ernsthafte Bedrohung vor dem Hintergrund der alltäglichen Verelendung, die sie in gewissen Teile der Westbank täglich erfahren. Von Gaza ganz zu schweigen“, sagt Sok. Um die Ausgangsperren aufrecht zu erhalten, stehen in der ganzen Westbank Polizei und Sicherheitsdienst im Einsatz. „In Ramallah und Bethlehem kontrolliert die Armee die Städte. Ramallah, weil dort der Präsidentenpalast ist, und Bethlehem, weil dort der Ausbruch stattfand.“ Die meisten Fälle auf staatsrechtlich palästinensischem Gebiet gebe es bisweilen aber in den gemäss Völkerrecht illegalen israelischen Siedlungen, wo sich viele der BewohnerInnen nicht an die Massnahmen halten würden, sagt Sok.
Die Polizei im Dauereinsatz
Während Ramsis Zuhause ausharrt, stehen Polizei, Armee und Sicherheitsdienste im Dauereinsatz. „24/7 – sie dürfen teilweise nicht heim zu ihren Familien.“ Die ganze Westbank sei voll mit Polizisten, die sich darum kümmern, dass die Sperrstunde eingehalten wird, sagt Ramsis und bestätigt damit die Aussagen Ely Soks. „Mein kleiner Bruder, er ist 21, arbeitet beim nationalen Sicherheitsdienst. Er war schon lange nicht mehr zuhause.“ Einige Stunden nach dem ersten Gespräch meldet sich Ramsis noch einmal. Seine Mutter hatte gerade berichtet, dass sein kleiner Bruder am folgenden Tag für ein paar Tage heimkommen würde. Nach 15-tägigem Dauereinsatz.
Ramsis sagt, er fühle sich wehr- und machtlos. „Das einzige Gute dran ist: Wir sind seit 70 Jahren an die Ausgangssperren und Sperrstunden gewöhnt und wissen, was mit uns anzufangen. Ich höre von vielen meiner Freunde in Europa, dass sie sich unglaublich langweilen.“
Balata bei Nablus, wo Ramsis lebt, ist das grösste innerpalästinenstische Flüchtlingscamp. Die Menschen leben hier sehr eng aufeinander. Enger ist es in der Region nur im Gazastreifen, einem der am dichtesten bevölkerten Gebiete der Welt. Rund zwei Millionen Menschen leben hier auf 365 Quadratkilometer, das sind eine halbe Million mehr Menschen als die Bevölkerung des Kantons Zürich – auf weniger als einem Fünftel der Fläche.
„Immer, wenn wir erfahren, dass in Gaza etwas passiert, halten wir den Atem an, denn wir wissen, wenn die Krankheit hier ausbricht, ist die ganze Region betroffen“, sagt Ramsis.
Die Armut steigt rapide an
110 Krankenhausbetten. So viele gibt es üblicherweise in Gaza. Alle Spitäler und privaten NGO-Einrichtungen mitgezählt. In Windeseile wurden in den letzten Wochen 27 Quarantänezentren und Notfallstationen aus dem Boden gestampft und in Hotels und Schulen eigerichtet, rund 2000 Betten sind es jetzt. „Im Fall eines Ausbruchs wird das Gesundheitssystem von Gaza nicht reagieren können. Wenn mehr als hundert Menschen infiziert sind, wird es zu vielen Toten kommen.“ Die Sprecherin des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (ICRC) in Gaza Suhair Zakkout hat wenig Grund für Optimismus. Am Telefon erzählt sie von der Situation: “Der Lockdown ist für die Menschen hier nichts Neues, sie sind für die letzten 14 Jahre von der Welt isoliert gewesen”, sagt Zakkout bitter. COVID-19 bedroht nun die Existenz all jener, die ohnehin nur wenig haben.
„In Gaza ist es unmöglich, Abstand zu halten“, sagt auch Omar Shaban vom Thinktank Pal-Think in Gaza. „Aber viele Menschen können auch nicht zuhause rumsitzen, da sie nur zwölf Stunden Elektrizität am Tag haben. Ohne Internet verlieren sie jede Verbindung zur Welt und gehen auf die Strassen, ich kann es ihnen nicht verübeln.“
Im Moment gibt es 13 bestätigte Ansteckungen in Gaza. Auch wenn jetzt Quarantänezentren errichtet wurden, in denen Menschen bis zu 21 Tage isoliert werden können, bleibt die Situation prekär: „Viele Spitäler haben maximal acht Stunden Strom am Tag – und auch hierfür sind sie auf Generatoren angewiesen, welche importiert werden müssen, was ein weiteres Hindernis darstellt“, sagt Zakkout.
Das Hauptproblem scheint auch in Gaza im Moment die zunehmende Armut zu sein. „Die Armutsrate ist in Gaza ohnehin hoch, viele Familien haben kein stabiles Einkommen“, sagt Zakkout. Sogar stabile Volkswirtschaften seien von COVID-19 in die Knie gezwungen worden. „Was soll also aus Gaza werden?“
Schulen und Universitäten sind wie in der Westbank seit einem Monat geschlossen, genauso Restaurants und Coffeeshops. Lediglich die grossen Märkte sind weiterhin offen. „Ein Farmer, der Blumen für den Markt anpflanzt, hat mir von seiner Angst erzählt“, sagt Zakkout. „Hochzeiten finden nicht statt, der Muttertag fällt aus – wer soll da noch Blumen kaufen? Die Menschen sind besorgt.“
Nichts anderes gewohnt
Omar Shaban von Pal-Think ist in Gaza zuhause, hat eine Lokalgruppe von Amnesty International initiiert und im Gegensatz zu IKRK und MSF darf und will er sich politisch äussern. „Die humanitäre Hilfe für Gaza bleibt aus. Es gibt zwar ein bisschen Geld, etwa von Kanada und der Weltbank, aber weil die ’no-contact-policy‘ gegenüber der regierenden radikalislamischen Hamas für viele Länder und Organisationen, etwa für die EU, gilt, wird kein Geld direkt nach Gaza gegeben, alles dauert extrem lange.“ Einmal mehr leiden die Menschen in der Region unter den politischen Spannungen, wenn auch anders als sonst.
Tausende Menschen in Gaza haben in den letzten Wochen ihre Arbeit verloren, „20’000 bis 30’000“, sagt Shaban, „und die Zahlen steigen“. Die regierende Hamas hat keine Kapazitäten, diesen Menschen zu helfen, und gleichzeitig liegt so viel Konflikt in Bezug auf Gaza und die Region in der Luft, dass keine schnelle Hilfe zu erwarten ist. „Die Menschen in Gaza haben keine Zeit zu warten, bis sich alle Player auf ein Vorgehen geeinigt haben“, resümiert er.
„Wenn man es gezwungen positiv sehen möchte, können wir immerhin festhalten, dass sich die Menschen in Gaza besser zu helfen wissen als anderswo in der Welt“, sagt Suhair Zakkout am Ende des Telefonats. „Sie sind sich gewohnt, unter Hausarrest zu stehen. Ausserdem glauben hier viele, dass wir Menschen ohnehin psychisch verbunden sind, es gibt also keine Bedürfnisse nach Berührungen und Umarmungen.“
“Die Mehrheit der Menschen in Gaza leben gezwungenermassen ihr normales Leben weiter“, sagt auch Omar Shaban. „Viele hoffen zudem, dass der grosse Schock für Gaza ausbleiben wird, da die Region so stark vom Rest der Welt abgeschnitten ist. Ich bin weniger optimistisch. Der kleinste Fehler könnte in einer Katastrophe münden.“
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