COVID-19 in den Palä­sti­nen­ser­ge­bieten: „In Gaza könnte es zur Kata­strophe kommen.“

Wie es ist, Zuhause bleiben zu müssen und was es bedeutet, einge­schlossen zu sein, wissen die Menschen in den Palä­sti­nen­si­schen Auto­no­mie­ge­bieten nur zu gut. Doch in den Flücht­lings­la­gern in der West­bank und im Gaza­streifen ist Social Distan­cing nicht möglich, es fehlt an Infra­struktur, Wirt­schafts­hilfe und an Geld für Lebens­mittel. Gerade für Gaza könnte ein COVID-19 Ausbruch zur huma­ni­tären Kata­strophe werden. 
Ein Früchtehändler in Khan Younis, einer Stadt im südlichen Teil des Gazastreifens, trägt Maske und Handschuhe, um sich und andere vor einer Infektion zu schützen. Die Kundschaft bleibt aus. (Khan Younis, 25.03.2020. Abed Zagout, ICRC )

„Uns geht es den Umständen entspre­chend gut“, erzählt Ramsis. „Nur wissen wir nicht, wie es finan­ziell weiter­gehen soll. Meine Mutter fragt mich jeden Tag, was aus uns werden wird.“

Ramsis ist Mitte 20 und Student. Er hat in Barce­lona studiert und Europa bereist. Nun sitzt Ramsis wieder fest – bei seiner Familie in einem der grossen Flücht­lings­lager, die mitt­ler­weile zu Dörfern geworden sind, bei Nablus inmitten der West­bank. Seit dem Ausbruch des Coro­na­virus in Israel und den Palä­sti­nen­ser­ge­bieten haben die raschen und strikten israe­li­schen Mass­nahmen viel inter­na­tio­nale Aufmerk­sam­keit erfahren. Was aber in der West­bank und in Gaza passiert, wurde kaum beachtet.

Die ersten COVID-19-Fälle waren Hotel­an­ge­stellte und Gäste in Beth­lehem. Dort wurde der Notstand als Erstes ausge­rufen, bevor er sich von Stadt zu Stadt ausbrei­tete, bis es zum kompletten Lock­down kam, erzählt Ramsis. „Wir haben hier in Palä­stina im inter­na­tio­nalen Vergleich relativ früh den Notstand erklärt, aber das liegt vor allem daran, dass unser Gesund­heits­sektor nicht sonder­lich gut ist.“ Am schlimm­sten seien bisher aber die wirt­schaft­li­chen Folgen: Die Regie­rung habe zwar einen Preis­deckel verhängt und würde hart gegen Händ­le­rInnen vorgehen, die Waren zu über­teu­erten Preisen anbieten würden. Doch das ändere nur wenig, sagt Ramsis. „Wenn wir nicht arbeiten, können sich viele Menschen auch die Produkte zu normalen Preisen nicht leisten.“ Nur den Staats­an­ge­stellten gehe es etwas besser: Ihre Löhne sind vorerst gesichert.

Zwar wird die Palä­sti­nen­si­sche Auto­no­mie­be­hörde bzw. der Staat Palä­stina von inter­na­tio­nalen Spen­de­rInnen wie etwa Saudi-Arabien unter­stützt, aber gerade die Hundert­tau­senden Menschen, die wie Ramsis in inlän­di­schen Flücht­lings­la­gern leben, sind nicht der palä­sti­nen­si­schen Führung sondern der UNRWA unter­stellt, dem UN-Hilfs­werk für palä­sti­nen­si­sche Flücht­linge. Und die UNRWA steckt in einer grossen finan­zi­ellen Krise, seit US-Präsi­dent Trump medi­en­wirksam die US-Beiträge an das Hilfs­werk sistiert hat. So appel­liert das UNRWA momentan an inter­na­tio­nale Geld­ge­be­rInnen, um das Loch in der Kasse zu füllen und „an vorder­ster Front gegen die Ausbrei­tung des Coro­na­virus zu kämpfen“, wie es in einer Pres­se­mit­tei­lung heisst. Bisher eher erfolglos.

„Mein Vater hatte Lebens­mittel für die Ausgangs­sperre einge­kauft, doch ohne seinen Job er verkauft Früchte und Gemüse aus seinem Van heraus fehlt uns das Geld, um weitere Lebens­mittel zu besorgen. Mit jedem Tag wird es schlimmer“, erzählt Ramsis. Auf den Märkten inner­halb der West­bank gibt es kaum noch zahlungs­fä­hige Kund­schaft und auch sonst steht das soziale, und somit auch das wirt­schaft­liche Leben so ziem­lich still. Auch der Tourismus, gerade für Beth­lehem, Hebron oder Ramallah ausschlag­ge­bend, liegt komplett brach.

Viele palä­sti­nen­si­sche Hilfs- oder Gast­ar­bei­te­rInnen hätten sich wegen der Krise dafür entschieden, in Israel zu bleiben, wo sie oftmals während einiger Monate quasi als Saiso­niers Geld verdienen: „In Israel gibt es immerhin noch ein biss­chen was zu verdienen“, sagt Ramsis. Doch nicht alle wollen bleiben.

Risi­ko­gruppe GastarbeiterInnen

Rund 45’000 palä­sti­nen­si­sche Gast­ar­bei­te­rInnen befinden sich momentan in Israel oder der Region, viele von Ihnen möchten nun zurück­kehren, was die Gefahr einer weiteren Ausbrei­tung erhöht, erzählt Ely Sok, Missi­ons­leiter von Ärzte ohne Grenzen in Jeru­salem. „An den Check­points gibt es Hygie­ne­mass­nahmen, aber wie gut diese einge­halten werden, wissen wir nicht.“

Ramsis erhebt derweil schwere Vorwürfe gegen Israel: Die palä­sti­nen­si­schen Arbei­te­rInnen, die inner­halb Israels gebraucht wurden, würden beim klein­sten Verdacht auf eine Ansteckung an den Check­points abge­setzt, was die Zahlen der Infi­zierten im West­jor­dan­land steigen liesse. Zudem ist die Chance, dass sich gerade palä­sti­nen­si­sche Arbei­te­rInnen inner­halb Israels anstecken, erhöht: Zahlen der israe­li­schen NGO Kav LaOved besagten, dass übli­cher­weise rund 60’000 palä­sti­nen­si­sche Arbei­te­rInnen in Israel arbeiten, meist auf dem Bau, auf Farmen oder als Ernte­hel­fe­rInnen. Die jetzt geltenden und so wich­tigen Hygie­ne­re­geln würden aber gerade in diesen Berufs­sparten oft nicht einge­halten. Wie die NGO schreibt, seien bisher auch keine beson­deren Mass­nahmen zum Schutz dieser vulner­ablen Gruppen getroffen worden. Viele der Gast­ar­bei­te­rInnen würden, um Geld zu sparen auf den Baustellen oder Feldern schlafen, oft in grossen Gruppen und ohne Zugang zu ange­mes­senen sani­tären Einrichtungen.

Dass Erkrankte oder auch nur scheinbar Infi­zierte palä­sti­nen­si­sche Arbei­te­rInnen von israe­li­schen Sicher­heits­leuten an den Check­points abge­lie­fert und sich selbst über­lassen werden, wie Ramsis erzählt, scheint keine Propa­ganda zu sein. Videos solcher Ausschaf­fungen kursieren momentan zuhauf auf den sozialen Medien. Oftmals heisst es, israe­li­sche Auto­ri­täten würden mit dem Auto an einen Check­point fahren, einen Arbeiter aus dem Auto stossen und sich abschlies­send die Hände desin­fi­zieren, bevor sie weiter­fahren. Auch die Times of Israel schreibt über die Zwischenfälle.

Ely Sok möchte zur poli­ti­schen Situa­tion öffent­lich keine Stel­lung beziehen. Zusammen mit MSF leitet er momentan ein Projekt zur psychi­schen Gesund­heit in der West­bank und arbeitet daran, eine Hotline für COVID-19-Verdachts­fälle ins Leben zu rufen. In Gaza sind MSF derweil damit beschäf­tigt, eine etwas stabi­lere Infra­struktur zu etablieren. Sok lobt die Arbeit der palä­sti­nen­si­schen Auto­ri­täten in der West­bank und deren schnelles Durch­greifen nach Bekannt­werden der ersten Fälle. Stand jetzt gab es in der West­bank bisher nur zwei regi­strierte Todesfälle.

“Die Infra­struktur in der West­bank ist nicht gut, aber stabil genug, um einem klei­neren Ausbruch Stand zu halten“, sagt Sok. Was primär fehlt, sind Test­kits und Hygie­ne­ma­te­ria­lien, wie sie auch sonst vieler­orts gerade Mangel­ware sind. Auch wenn momentan keine offi­zi­elle Import­blockade besteht, ist der Import für Palä­stina noch einmal schwie­riger, gerade bei begehrten Gütern wie Atem­masken. Die grösste Sorge der Ärzte ohne Grenzen sei im Hinblick auf die Ausbrei­tung momentan der bevor­ste­hende Fasten­monat Ramadan und dessen Auswir­kungen auf die Ausgangs­sperren und Abstandsregeln.

„Die Menschen kämpfen so lange schon gegen die Bela­ge­rung; ich glaube vielen erscheint Corona nicht wie eine ernst­hafte Bedro­hung vor dem Hinter­grund der alltäg­li­chen Verelen­dung, die sie in gewissen Teile der West­bank täglich erfahren. Von Gaza ganz zu schweigen“, sagt Sok. Um die Ausgangsperren aufrecht zu erhalten, stehen in der ganzen West­bank Polizei und Sicher­heits­dienst im Einsatz. „In Ramallah und Beth­lehem kontrol­liert die Armee die Städte. Ramallah, weil dort der Präsi­den­ten­pa­last ist, und Beth­lehem, weil dort der Ausbruch statt­fand.“  Die meisten Fälle auf staats­recht­lich palä­sti­nen­si­schem Gebiet gebe es bisweilen aber in den gemäss Völker­recht ille­galen israe­li­schen Sied­lungen, wo sich viele der Bewoh­ne­rInnen nicht an die Mass­nahmen halten würden, sagt Sok.

Die Polizei im Dauereinsatz

Während Ramsis Zuhause ausharrt, stehen Polizei, Armee und Sicher­heits­dienste im Dauer­ein­satz. „24/7 sie dürfen teil­weise nicht heim zu ihren Fami­lien.“ Die ganze West­bank sei voll mit Poli­zi­sten, die sich darum kümmern, dass die Sperr­stunde einge­halten wird, sagt Ramsis und bestä­tigt damit die Aussagen Ely Soks. „Mein kleiner Bruder, er ist 21, arbeitet beim natio­nalen Sicher­heits­dienst. Er war schon lange nicht mehr zuhause.“ Einige Stunden nach dem ersten Gespräch meldet sich Ramsis noch einmal. Seine Mutter hatte gerade berichtet, dass sein kleiner Bruder am folgenden Tag für ein paar Tage heim­kommen würde. Nach 15-tägigem Dauereinsatz.

Ramsis sagt, er fühle sich wehr- und machtlos.  „Das einzige Gute dran ist: Wir sind seit 70 Jahren an die Ausgangs­sperren und Sperr­stunden gewöhnt und wissen, was mit uns anzu­fangen. Ich höre von vielen meiner Freunde in Europa, dass sie sich unglaub­lich langweilen.“

Balata bei Nablus, wo Ramsis lebt, ist das grösste inner­pa­lä­sti­nen­sti­sche Flücht­lings­camp. Die Menschen leben hier sehr eng aufein­ander. Enger ist es in der Region nur im Gaza­streifen, einem der am dich­te­sten bevöl­kerten Gebiete der Welt. Rund zwei Millionen Menschen leben hier auf 365 Quadrat­ki­lo­meter, das sind eine halbe Million mehr Menschen als die Bevöl­ke­rung des Kantons Zürich – auf weniger als einem Fünftel der Fläche.

„Immer, wenn wir erfahren, dass in Gaza etwas passiert, halten wir den Atem an, denn wir wissen, wenn die Krank­heit hier ausbricht, ist die ganze Region betroffen“, sagt Ramsis.

Die Armut steigt rapide an

110 Kran­ken­haus­betten. So viele gibt es übli­cher­weise in Gaza. Alle Spitäler und privaten NGO-Einrich­tungen mitge­zählt. In Windes­eile wurden in den letzten Wochen 27 Quaran­tä­ne­zen­tren und Notfall­sta­tionen aus dem Boden gestampft und in Hotels und Schulen eige­richtet, rund 2000 Betten sind es jetzt. „Im Fall eines Ausbruchs wird das Gesund­heits­sy­stem von Gaza nicht reagieren können. Wenn mehr als hundert Menschen infi­ziert sind, wird es zu vielen Toten kommen.“ Die Spre­cherin des Inter­na­tio­nalen Komi­tees des Roten Kreuzes (ICRC) in Gaza Suhair Zakkout hat wenig Grund für Opti­mismus. Am Telefon erzählt sie von der Situa­tion: “Der Lock­down ist für die Menschen hier nichts Neues, sie sind für die letzten 14 Jahre von der Welt isoliert gewesen”, sagt Zakkout bitter. COVID-19 bedroht nun die Existenz all jener, die ohnehin nur wenig haben.

Bau eines impro­vi­sierten Quaran­tä­ne­spi­tals beim Grenz­über­gang Rafah, dem einzigen Über­gang zwischen Ägypten und dem Gaza­streifen. (Rafah, 23.03.2020, Abed Zagout, ICRC)

„In Gaza ist es unmög­lich, Abstand zu halten“, sagt auch Omar Shaban vom Thinktank Pal-Think in Gaza. „Aber viele Menschen können auch nicht zuhause rumsitzen, da sie nur zwölf Stunden Elek­tri­zität am Tag haben. Ohne Internet verlieren sie jede Verbin­dung zur Welt und gehen auf die Strassen, ich kann es ihnen nicht verübeln.“

Im Moment gibt es 13 bestä­tigte Ansteckungen in Gaza. Auch wenn jetzt Quaran­tä­ne­zen­tren errichtet wurden, in denen Menschen bis zu 21 Tage isoliert werden können, bleibt die Situa­tion prekär: „Viele Spitäler haben maximal acht Stunden Strom am Tag und auch hierfür sind sie auf Gene­ra­toren ange­wiesen, welche impor­tiert werden müssen, was ein weiteres Hindernis darstellt“, sagt Zakkout.

Das Haupt­pro­blem scheint auch in Gaza im Moment die zuneh­mende Armut zu sein. „Die Armuts­rate ist in Gaza ohnehin hoch, viele Fami­lien haben kein stabiles Einkommen“, sagt Zakkout. Sogar stabile Volks­wirt­schaften seien von COVID-19 in die Knie gezwungen worden. „Was soll also aus Gaza werden?“

Schulen und Univer­si­täten sind wie in der West­bank seit einem Monat geschlossen, genauso Restau­rants und Coffee­shops. Ledig­lich die grossen Märkte sind weiterhin offen. „Ein Farmer, der Blumen für den Markt anpflanzt, hat mir von seiner Angst erzählt“, sagt Zakkout. „Hoch­zeiten finden nicht statt, der Muttertag fällt aus wer soll da noch Blumen kaufen? Die Menschen sind besorgt.“

Nichts anderes gewohnt

Omar Shaban von Pal-Think ist in Gaza zuhause, hat eine Lokal­gruppe von Amnesty Inter­na­tional initi­iert und im Gegen­satz zu IKRK und MSF darf und will er sich poli­tisch äussern. „Die huma­ni­täre Hilfe für Gaza bleibt aus. Es gibt zwar ein biss­chen Geld, etwa von Kanada und der Welt­bank, aber weil die ’no-contact-policy‘ gegen­über der regie­renden radi­kal­is­la­mi­schen Hamas für viele Länder und Orga­ni­sa­tionen, etwa für die EU, gilt, wird kein Geld direkt nach Gaza gegeben, alles dauert extrem lange.“ Einmal mehr leiden die Menschen in der Region unter den poli­ti­schen Span­nungen, wenn auch anders als sonst.

Tausende Menschen in Gaza haben in den letzten Wochen ihre Arbeit verloren, „20’000 bis 30’000“, sagt Shaban, „und die Zahlen steigen“.  Die regie­rende Hamas hat keine Kapa­zi­täten, diesen Menschen zu helfen, und gleich­zeitig liegt so viel Konflikt in Bezug auf Gaza und die Region in der Luft, dass keine schnelle Hilfe zu erwarten ist. „Die Menschen in Gaza haben keine Zeit zu warten, bis sich alle Player auf ein Vorgehen geei­nigt haben“, resü­miert er.

„Wenn man es gezwungen positiv sehen möchte, können wir immerhin fest­halten, dass sich die Menschen in Gaza besser zu helfen wissen als anderswo in der Welt“, sagt Suhair Zakkout am Ende des Tele­fo­nats.  „Sie sind sich gewohnt, unter Haus­ar­rest zu stehen. Ausserdem glauben hier viele, dass wir Menschen ohnehin psychisch verbunden sind, es gibt also keine Bedürf­nisse nach Berüh­rungen und Umarmungen.“

“Die Mehr­heit der Menschen in Gaza leben gezwun­ge­ner­massen ihr normales Leben weiter“, sagt auch Omar Shaban. „Viele hoffen zudem, dass der grosse Schock für Gaza ausbleiben wird, da die Region so stark vom Rest der Welt abge­schnitten ist. Ich bin weniger opti­mi­stisch. Der kleinste Fehler könnte in einer Kata­strophe münden.“


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 24 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1508 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Löse direkt über den Twint-Button ein Soli-Abo für CHF 60 im Jahr!

Ähnliche Artikel

Keine blosse Willensfrage

Der Zugang zur Corona-Impfung ist nicht nur eine Frage des Willens, sondern auch eine soziale Frage. Neben konsequenten Impfverweigerer:innen gibt es Menschen, die aus sozioökonomischen Gründen über weniger Zugang zur Impfung verfügen. Gemäss der neuen Teststrategie des Bundes sollen sie nun die Kosten tragen.