Seit ihrem ersten Treffen 2020 hat sich sowohl in Fabians wie auch in Yasins Leben viel verändert. Fabian hat seinen Bürojob gekündigt, war in Griechenland in einem Camp für Geflüchtete und hat seine aktivistische Seite entdeckt.
Für Yasin läuft es gut in der Schweiz: Auch dank Fabian und seiner Partnerin Nora hat er Anschluss gefunden, sein Deutsch ist gut. Er konnte eine Vorlehre beginnen und hat zwar immer noch den Status F, den er jedes Jahr erneuern muss, aber gute Aussichten darauf, bald den B‑Ausweis zu erhalten. Doch im vergangenen Jahr warfen verschiedene Ereignisse einen dunklen Schatten auf diese positiven Entwicklungen in Yasins Leben.
Als sich die USA im Sommer 2021 aus Afghanistan zurückziehen, bricht im Land Krieg aus. „Meine Familie hatte grosse Angst vor den Taliban. Man wusste nie, ob sie auch in unser Dorf kommen würden.“
Yasin ist Tag und Nacht am Handy, liest Nachrichten und versucht – wann immer möglich – mit seiner Familie in Kontakt zu bleiben. Mehrmals bricht das Telefonnetz zusammen und Yasins Eltern und Geschwister haben tagelang keinen Empfang. „Manchmal konnte ich nicht schlafen, lag die ganze Nacht da und habe mir viele Gedanken gemacht.“
Auch die Brüder müssen fliehen
Sein Vater packt die Koffer, um notfalls für eine Weile in die Berge zu fliehen, die Mutter und Yasins Schwestern verlassen aus Angst das Haus nicht mehr. Seit der Machtübernahme der Taliban Mitte August 2021 sei es wieder etwas ruhiger. Und doch: „Die Taliban sind schlecht“, sagt Yasin. Eine seiner Schwestern hat ihren Job als Lehrerin verloren und die Familie lebt in noch grösserer Ungewissheit als zuvor.
Seit Wochen werden seitens bürgerlicher Politiker*innen und Medien wieder Ängste vor Geflüchteten geschürt. Es heisst, wir befänden uns in einer Krise. Es kämen zu viele Menschen, es gäbe keinen Platz und man müsse das Asylregime weiter verschärfen.
Weniger wird über die Tatsache berichtet, dass es für viele Menschen, die aus ihrem Herkunftsland flüchten, praktisch unmöglich ist, auf legalem Weg in die Schweiz zu gelangen. Stattdessen müssen sie eine Reise voller lebensbedrohlicher Gefahren und Ungewissheiten auf sich nehmen.
Um diesen Weg einigermassen unbeschadet zurückzulegen, sind die meisten auf Hilfe angewiesen. Viele helfen, weil sie helfen möchten, andere gegen Geld, manchmal sehr viel Geld.
Ohne Personen, die Geflüchtete über eine Grenze bringen, ohne Personen, die mit Leuten in Not ihr Essen teilen, ihnen für eine oder mehrere Nächte einen Platz zum Schlafen anbieten oder ihnen den Weg erklären, würden es viele nicht schaffen. Auch in der Schweiz gibt es Menschen, die Geflüchtete und deren Familien unterstützen.
Das ist die Geschichte von drei Brüdern, die im Teenageralter aus Afghanistan geflüchtet sind und von den Leuten, die ihnen dabei geholfen haben. Erzählt wird sie von Yasin* und Fabian*, belegt und veranschaulicht mit Dokumenten, Fotos und Chatverläufen.
Teil 1: „Europa, wo ist das?“
Teil 2: Gefängnis, Pushbacks und Dublin
Teil 3: Hilfe von unerwarteter Seite
Teil 4: Flucht mit dem Wohnmobil
Yasin sorgt sich aber nicht nur um seine Familie zuhause, sondern insbesondere um seine Brüder Murat und Ali. Im Frühjahr 2021, kurz bevor in Afghanistan bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, verlassen auch sie Dorf und Elternhaus.
Die Zwillinge sind ungefähr im selben Alter wie Yasin damals, als sie die gefährliche Reise in den Iran antreten. Gleich dem älteren Bruder bleiben sie zunächst im Nachbarland und arbeiten dort während acht Monaten, bevor sie die Grenze zur Türkei überqueren und wie Yasin in einer Textilfabrik Arbeit finden.
Sie sind Zwillinge, aber sehr verschieden. Während Ali sehr selbstständig ist, ist Murat eher unsicher und Yasin vermutet zu diesem Zeitpunkt, dass er eine Lernschwäche hat. Aus diesem Grund sorgt er sich zusätzlich um das Befinden seiner Brüder, die noch Teenager sind, und in einem fremden Land arbeiten und überleben müssen.
„Du hast immer sehr viel Verantwortung übernommen“, sagt Fabian, der ab und zu, nachdem er jeweils Blickkontakt mit Yasin aufgenommen hat, einspringt, wenn diesem ein Detail nicht mehr einfällt oder ihm nicht ganz klar ist, worauf eine Frage abzielt.
Unterstützung mit Google Maps
„Es ist immer über dich gegangen, du hast auf Google Maps geschaut, wo sie sind und ihnen gesagt, wo sie hin könnten; hier hat es eine Busstation, da eine Tankstelle.“ Zwischendurch ruft Yasin auch mal alte Bekannte an und schafft es, einen Schlafplatz für seine Brüder zu organisieren.
Von der Belastung, der Yasin im vergangenen Jahr ausgesetzt war, merkt man ihm nicht viel an. Er spricht mit ruhiger Stimme und lächelt oft, entschuldigt sich mehrmals dafür, dass er sich nicht mehr an alles erinnere. „Ich habe viel vergessen“, sagt er.
Nach einigen Monaten in der Türkei haben Yasins Brüder genügend Geld beisammen, um einen Schlepper zu zahlen, der einen von ihnen nach Griechenland bringt. Gemeinsam mit Yasin beschliessen die drei, dass Murat die gefährliche Reise antreten soll und Ali sich weiter in der Türkei durchschlägt.
Obwohl es zunächst nicht den Anschein macht, geht der Plan schief: Murat ist mit mehreren Personen unterwegs und schafft es über die griechisch-türkische Grenze. Die Gruppe legt einen Teil des Weges zu Fuss zurück, einen Teil mit Taxis und Lastwagen.
Doch dann werden sie von der Polizei erwischt und in die Türkei zurückgebracht. Aufgegriffen werden sie aber nicht etwa im Grenzgebiet, sondern in der rund 300 Kilometer von der Grenze entfernten Küstenstadt Thessaloniki.
Wenn von Pushbacks die Rede ist, denken viele Menschen an Küstenwachen, die Boote mit Geflüchteten zurück ins offene Meer drängen oder an Beamt*innen mit Schlagstöcken und Hunden an Landesgrenzen. Doch seit mehreren Jahren häufen sich Berichte von Geflüchteten und NGOs, die über die Praxis griechischer Behörden informieren, Geflüchtete im Landesinneren einzusammeln und illegal in die Türkei abzuschieben.
Genau dieses Schicksal widerfährt Murat in Thessaloniki. Sie bringen ihn nicht nur zurück in die Türkei, sondern nehmen ihm alles weg, was er dabei hat: seine Kleider, ein bisschen Geld, das Handy. „Sie haben ihn auch geschlagen“, sagt Yasin.
Neue bürokratische Hürden
Fabian telefoniert nach diesem Vorfall mit einer NGO vor Ort, um sich zu erkundigen, was er und Yasin gegen dieses Vorgehen tun können. Die Antwort lautet: nichts. „Uns sind die Hände gebunden“, meint die Anwältin am Telefon, „mit diesem Gespräch machen wir uns bereits strafbar“. Sie erzählt, die Polizei sammle oft Leute in Thessaloniki ein und Geflüchtete seien gut damit beraten, sich von grossen Plätzen und Bahnhöfen fernzuhalten.
Im September 2020 wurden die bürokratischen Hürden für griechische NGOs, die sich für Geflüchtete einsetzen, massiv erhöht. 2021 hat das griechische Parlament ein Gesetz zur Änderung von Abschiebe- und Rückführungsverfahren verabschiedet, dessen Artikel 40 die Arbeit von NGOs, die Geflüchtete retten wollen, quasi kriminalisiert. Die UNHCR versuchte vergeblich zu intervenieren.
Während Murats zweiter Versuch klappt und er bald darauf von Griechenland aus weiter nach Serbien reist, wird Ali von der türkischen Polizei aufgegriffen, weil er sich illegal im Land aufhält und für mehrere Wochen in ein geschlossenes Asylcamp gesteckt.
Es folgt eine weitere Zitterpartie, denn seit der Machtübernahme der Taliban schaffen die türkischen Behörden afghanische Geflüchtete zum Teil in deren Herkunftsland zurück. Nach einigen Wochen kommt Ali aber wieder frei. Yasin ist unterdessen – wann immer möglich – mit den Brüdern in Kontakt.
Fabian und Nora unterstützen ihn, so gut sie können. Sie klären auch ab, ob es einen legalen Weg gäbe, Yasins Brüder in die Schweiz zu holen. Doch dieses Unterfangen ist chancenlos.
Wer aus einem Drittstaat wie Afghanistan stammt, kann lediglich Ehegatt*innen, eingetragene Partner*innen und eigene Kinder unter 18 Jahren in die Schweiz nachkommen lassen. „Im Schweizer Asylwesen gehören Brüder nicht zur Familie“, sagt Fabian, „zumindest nicht, solange sie nicht hier sind.“
Jedoch ist die Rechtslage im Fall von unbegleiteten Minderjährigen anders, zumindest innerhalb des Schengen-Dublin-Raumes, dem Griechenland im Unterschied zur Türkei angehört. Minderjährige geniessen innerhalb von Dublin-Staaten einen besonderen Schutz.
So steht in der Dublin-III-Verordnung zum Thema: „Ist der Antragsteller ein unbegleiteter Minderjähriger, der einen Verwandten hat, der sich rechtmässig in einem anderen Mitgliedstaat aufhält […] so führt dieser Mitgliedstaat den Minderjährigen und seine Verwandten zusammen.“
Ohne Pass keine Rechte
Theoretisch hätte Murat also in Griechenland einen Antrag auf Asyl stellen und Yasin aus der Schweiz erwirken können, dass sein Bruder zu ihm geholt wird. Doch das ist ein riskantes Unterfangen. Denn um zu erreichen, dass einen das Staatssekretariat für Migration (SEM) bei einer Familienzusammenführung unterstützt, muss man glaubhaft machen, dass die betreffende Person minderjährig ist – und dass überhaupt ein Verwandtschaftsverhältnis besteht.
Doch weder Yasin noch seine Brüder waren je im Besitz eines Passes. Zwar besitzen alle eine Tazkira, ein afghanisches Personaldokument, doch ist in ihrem Fall lediglich das Ausstellungs‑, nicht aber das Geburtsdatum eingetragen.
Dass die Behörden stets darauf bedacht sind, Asylsuchende im Zweifelsfall älter zu schätzen, als sie sind, ist kein Geheimnis. Murat wäre also Gefahr gelaufen, volljährig eingestuft zu werden und dann in Griechenland festsitzen: Denn die Dublin-Zusammenarbeit basiert auf dem Grundsatz, dass nur in einem der zum Bündnis gehörenden Staaten ein Asylgesuch gestellt werden kann.
All das erfahren Fabian und seine Partnerin, während sie bei verschiedenen Stellen und Bekannten, die im Asyl- und Migrationsbereich arbeiten, nach Möglichkeiten fragen, die Brüder auf legalem Weg in die Schweiz zu holen. „Es meinten alle bloss: keine Chance.“ Auch die Beantragung eines humanitären Visums verwerfen sie rasch wieder, nachdem ihnen Expert*innen versichern, dass auch ernstere Fälle als die der beiden Jungen bereits abgelehnt wurden.
Ein Bericht der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht von 2019 kommt zum Schluss, dass das SEM nur einen Bruchteil der gestellten Anträge für humanitäre Visa bewilligt. Wie ein kürzlich erschienener WOZ-Artikel zeigt, hält das SEM auch nach der Machtübernahme der Taliban an dieser Praxis fest und lehnt die Mehrheit der von Afghan*innen gestellten Anträge ab.
Yasin verzweifelt zunehmend an der Situation. Fabian und Nora kriegen das Geschehen hautnah mit. Sie haben längst eine Mansarde in ihrem Wohnhaus für Yasin hergerichtet, damit er sich, wann immer er möchte, in ein eigenes Zimmer zurückziehen kann. Aus dem Asylheim ausziehen darf er zum Zeitpunkt des Gesprächs noch nicht, um den Anspruch auf Asylsozialhilfe nicht zu verlieren.
Yasin ist oft bei ihnen und die drei überlegen gemeinsam, was sie unternehmen könnten, um den Brüdern zu helfen. Viele Ideen verwerfen sie schnell wieder. Etwa die, ein Boot zu chartern und in die Türkei zu segeln, um die beiden abzuholen, als sie noch gemeinsam da sind.
„Wir fragten uns auch später immer wieder, ob es Sinn machen würde, wenn jemand von uns dahin reist und Geld bringt oder schaut, was genau passiert.“ Fabian und seine Partnerin beschliessen stattdessen zu warten, bis Yasins Bruder Murat näher an der Schweiz ist, um ihm logistisch zu helfen. Doch bevor es so weit ist, erfolgt die nächste Schreckensmeldung: Murat wird in Serbien gekidnappt.
Von Menschlichkeit und Google Maps – eine Reportage in vier Teilen
Teil 1: „Europa, wo ist das?“
Teil 2: Gefängnis, Pushbacks und Dublin
Teil 3: Hilfe von unerwarteter Seite (Publikationsdatum: 26.01.2023)
Teil 4: Flucht mit dem Wohnmobil (Publikationsdatum: 02.02.2023)
*Die Namen von Yasin und Fabian wurden auf Ihren Wunsch hin geändert.
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