Von Mensch­lich­keit und Google Maps: Flucht mit dem Wohn­mobil (4/4)

Fabian und Yasin machen sich mit dem Wohn­mobil auf, um Murat zu helfen. Trotz der Bedro­hung durch ille­gale Push­backs schafft Murat es in die Schweiz. Nun muss noch sein Bruder Ali nach­ge­holt werden. Teil vier der vier­tei­ligen Reihe über eine Flucht aus Afghanistan. 
Mit dem Wohnmobil versuchen sie, die Brüder wenigstens näher an die rettende Grenze zu bringen (Illustration: Luca Mondgenast)

Fabian fährt mit dem Wohn­mobil auf der Auto­bahn Rich­tung Süden. Er hat gerade den Gott­hard­tunnel passiert, als Yasin anruft und ihm die neueste Schreckens­mel­dung mitteilt: Murat wurde in Slowe­nien von der Polizei aufge­griffen und in ein Camp für Geflüch­tete gebracht. Ausserdem hat er sein Handy verloren, da er geschnappt wurde, während er darauf wartete, dass der Akku lud.

Im Gespräch mit Murat, der mit dem Handy eines anderen tele­fo­niert, erfährt Yasin von einer letzten Chance: Die Verant­wort­li­chen im slowe­ni­schen Camp in Logatec, das etwa 30 Kilo­meter von Ljubljana entfernt liegt, bieten die Geflüch­teten erst nach zwei bis drei Tagen zur Regi­strie­rung ihrer Perso­na­lien und Finger­ab­drücke auf.

Damit geben sie den Personen, die in ein anderes Land möchten, die Möglich­keit, aus dem Camp auszu­büxen und über die Grenze zu gelangen. Ob dies mit Absicht oder aus Kapa­zi­täts­gründen geschieht, ist unklar. „Als klar war, dass es noch nicht zu spät ist, waren wir natür­lich erleich­tert und ich war froh, bereits unter­wegs zu sein“, sagt Fabian.

Seit Wochen werden seitens bürger­li­cher Politiker*innen und Medien wieder Ängste vor Geflüch­teten geschürt. Es heisst, wir befänden uns in einer Krise. Es kämen zu viele Menschen, es gäbe keinen Platz und man müsse das Asyl­re­gime weiter verschärfen.

Weniger wird über die Tatsache berichtet, dass es für viele Menschen, die aus ihrem Herkunfts­land flüchten, prak­tisch unmög­lich ist, auf legalem Weg in die Schweiz zu gelangen. Statt­dessen müssen sie eine Reise voller lebens­be­droh­li­cher Gefahren und Unge­wiss­heiten auf sich nehmen.

Um diesen Weg eini­ger­massen unbe­schadet zurück­zu­legen, sind die meisten auf Hilfe ange­wiesen. Viele helfen, weil sie helfen möchten, andere gegen Geld, manchmal sehr viel Geld.

Ohne Personen, die Geflüch­tete über eine Grenze bringen, ohne Personen, die mit Leuten in Not ihr Essen teilen, ihnen für eine oder mehrere Nächte einen Platz zum Schlafen anbieten oder ihnen den Weg erklären, würden es viele nicht schaffen. Auch in der Schweiz gibt es Menschen, die Geflüch­tete und deren Fami­lien unterstützen.

Das ist die Geschichte von drei Brüdern, die im Teen­ager­alter aus Afgha­ni­stan geflüchtet sind und von den Leuten, die ihnen dabei geholfen haben. Erzählt wird sie von Yasin* und Fabian*, belegt und veran­schau­licht mit Doku­menten, Fotos und Chatverläufen.

Teil 1: „Europa, wo ist das?“
Teil 2: Gefängnis, Push­backs und Dublin 
Teil 3: Hilfe von uner­war­teter Seite
Teil 4: Flucht mit dem Wohnmobil 

Yasin hält Murat auf dem Laufenden, was Fabians Zeit- und Reise­plan angeht, kann aber nur über die Mobil­te­le­fone anderer Personen mit ihm kommu­ni­zieren. Fabian und er machen sich Sorgen, weil nun verschie­dene Leute von ihrem Plan erfahren haben. „Ich dachte, jetzt fahre ich einfach mal, das ist ja noch keine Straftat, ich kann in Slowe­nien mit meinem Wohn­mobil rumfahren, wie ich will“, meint Fabian und lacht.

Auto­panne in Italien

Doch bevor es so weit ist, gibt erst einmal das Wohn­mobil irgendwo zwischen Verona und Venedig den Geist auf. Es ist die Zeit um Ferra­gosto, in der die meisten Italiener*innen im Urlaub sind.

Schliess­lich findet er in der Nähe von Padua einen Mecha­niker, der sich bereit erklärt, ihm zu helfen. „Er war am Rumwer­keln und hat mir gezeigt, was er macht. Ab und zu hielt er irgendein Teil hoch und fragte irri­tiert: ‚What is this?!‘ [„Was ist das?!“] Und ich immer so vorsichtig: ‚It’s not good?‘ [„Nicht gut?“] Und er: ‚No! It’s not good! Bring it home, show it to your friends!‘ [„Nein! Nicht gut! Bring es nach Hause und zeig es deinen Freunden!“]

Nach knapp drei Stunden erscheint die Familie des Mecha­ni­kers in Sonn­tags­klei­dung vor dem Haus, sie wollen essen gehen. Irgend­wann ist das Auto soweit repa­riert, dass Fabian die Fahrt fort­setzen kann.

Es ist ein Uhr nachts, als Fabian mit seinem Wohn­mobil im Städt­chen Logatec einfährt. Obwohl hier nur etwa 10’000 Menschen leben, ist noch einiges los. „An dem Abend fand ein Basket­ball­match statt und in den Bars und Pubs waren die Leute am Trinken und Feiern“, erzählt Fabian.

Gemeinsam mit den Brüdern hat er verein­bart, Murat auf dem Park­platz eines Super­marktes zu treffen, der unge­fähr drei Kilo­meter vom Camp entfernt liegt. Fabian setzt sich auf eine Bank in der Nähe.

„Ich wurde nervös, weil irgend­wann Unifor­mierte auf dem Park­platz standen. Es waren zwar keine rich­tigen Polizist*innen, sondern Ange­stellte einer Sicher­heits-Agency, die oft in diesen Camps arbeiten. Wie sich später heraus­stellte, war es wohl nur eine Stan­dard-Kontrolle. Aber das wusste ich zu diesem Zeit­punkt nicht.“

Nach etwa zwei Stunden finden sich die beiden Männer. „Ich wusste sofort, dass er es war, und er hat mich auch sofort erkannt“, sagt Fabian. Gemeinsam gehen die beiden zurück zum Wohn­mobil und Fabian will das Dorf in der Nähe des Camps so rasch wie möglich verlassen.

Fabian ist ange­spannt. „Ich dachte, wenn die Polizei wüsste, dass ich jemanden abholen will, dann wüssten sie auch, wo ich durch­fahre, um auf die Auto­bahn zu kommen.“ Bei jedem Auto, das hinter ihm fährt, bricht ihm der Schweiss aus und er fährt über Umwege auf die Auto­bahn. Nach einer Stunde Fahrt parken sie das Wohn­mobil auf einem Rast­platz und legen sich endlich schlafen.

Neues Handy – neues Glück?

„Am näch­sten Morgen roch es im Wagen nicht so ange­nehm“, erin­nert sich Fabian lachend. Sowohl er als auch Murat haben länger nicht mehr geduscht und zudem ist es Hoch­sommer. Sie suchen eine Dusche, fahren in die nächste Stadt und kaufen für Murat ein Handy und eine SIM-Karte.

Am selben Abend fahren sie weiter bis an die öster­rei­chi­sche Grenze. Zuvor haben sich Yasin und Fabian auf Google Maps das Grenz­ge­biet ange­schaut und gemeinsam über­legt, wo das Über­queren möglichst sicher sein könnte. Zu diesem Ort ist das Wohn­mobil nun unterwegs.

„Murat und ich haben dann gemeinsam auf seinem Handy eine App instal­liert, mit der ich ihn tracken konnte und wo er auch einen Notfall­knopf hatte – für den Fall, dass etwas schief gehen sollte.“ Als sie den Grenz­über­gang errei­chen, ist das Gelände unweg­samer als gedacht.

„Gerade bei der Grenze war es sehr steil und der Wald dicht“, so Fabian. Sie packen einen Ruck­sack, so dass Murat im Ernst­fall alles Nötige dabei hätte. Dann lässt Fabian den Jungen nur etwa 50 Meter vor der Grenze aussteigen.

„Es fühlte sich irgendwie scheisse an“, sagt Fabian. „Dieser fünf­zehn­jäh­rige Knabe, der schon so viel durch­ge­macht hat, muss jetzt alleine durch den dichten Wald“, meint Fabian ernst.

Fabian fährt über die Grenze und verfolgt auf dem Handy, wohin sich Murat bewegt. Irgend­wann ist dieser in der Nähe der Strasse und steigt wieder zu ihm ins Auto. Sie fahren nun durch Öster­reich und müssen nur noch eine Grenze überqueren.

Am näch­sten Nach­mittag, die beiden sind gerade auf einer Rast­stätte, um eine Stunde zu schlafen, steht ein paar Park­plätze weiter ein Kasten­wagen. Polizist*innen mit Hunden gehen von Fahr­zeug zu Fahr­zeug, schauen durch die Scheiben, lassen die Hunde schnüffeln.

„Sie waren vermut­lich einfach auf der Suche nach Drogen, aber ich dachte, wenn ich jetzt als Erster wegfahre, mache ich mich verdächtig“, so Fabian. Er steigt aus dem Auto und tut so, als würde er inter­es­siert zuschauen.

Als sie schliess­lich zurück auf die Auto­bahn einbiegen, klebt plötz­lich ein Poli­zei­auto hinter ihnen. Auch das erweist sich als Fehl­alarm, aber Fabian bleibt immer mal wieder fast das Herz stehen. Schliess­lich sind sie am Rhein und kurz vor der Schweizer Grenze.

Zu Fuss über die letzte Grenze

Zurück in der Gegen­wart beugen sich Fabian und Yasin wieder einmal über einen Karten­aus­schnitt auf dem Handy. Fabian deutet mit dem Zeige­finger auf die feine blaue Linie. „Das ist der Rhein, hier hat es ein Dorf, und hier kann man zu Fuss rüber. Und hier stand die Polizei.“

Fabian beschliesst, mit Murat gemeinsam zu Fuss über die Grenze zu gehen und das Auto später zu holen. „Ich kannte ihn mitt­ler­weile seit zwei Tagen und wusste, dass er etwas unsi­cher ist.“ Ausserdem habe er sich gedacht: „Spazieren darf ich ja mit ihm.“

Die zwei gehen zu Fuss über die Grenze und Murat versteckt sich in einem Busch, bis Fabian mit dem Wohn­mobil nach­kommt. „Würdelos“ ist das Wort, das er verwendet, um die Situa­tion zu beschreiben.

„Es hat auch noch geregnet, während er sich in einem Gebüsch verstecken musste.“ Die Schweizer Poli­zei­streife, die sie passieren, nachdem Murat wieder im Wohn­mobil sitzt, hält sie nicht an. Sie haben es geschafft.

„Als ich von der Arbeit nach Hause zu Fabian kam, war Murat einfach da, er schlief gerade“, erzählt Yasin. „Ich freute mich sehr.“ Sechs Jahre lang haben sich die Brüder nicht gesehen.

Nachdem Murat sich ein paar Tage in der Obhut von Yasin ausge­ruht hat, gehen die beiden gemeinsam zu einem Asyl­zen­trum, um ihn anzu­melden. Seither lebt Murat in einem Zentrum für unbe­glei­tete minder­jäh­rige Geflüch­tete, das sich in einer länd­li­chen Gegend mit schlechter ÖV-Anbin­dung befindet. Yasin hat ihn dort bereits besucht, gemeinsam mit Fabian will er bald wieder hinfahren.

Im Winter ist es noch gefährlicher

Als das Gespräch mit Yasin und Fabian statt­findet, befindet sich Murats Zwil­lings­bruder Ali gerade in Serbien. Yasin hat mit den Schlep­pern verein­bart, dass diese ihn von Istanbul nach Serbien bringen. Das klappt auf Anhieb. Danach wird Ali in einer Wohnung fest­ge­halten, bis die Bezah­lung abge­wickelt ist.

Yasin und Fabians Part­nerin Nora fahren an einem Nach­mittag in ein Dorf in der Nähe der Stadt Zürich, um das Geld, welches das Schweizer Pärchen in seinem Umfeld gesam­melt hat, in einem Brief­ka­sten zu deponieren.

Yasin macht sich auch danach Sorgen um seinen Bruder. Bei den winter­li­chen Tempe­ra­turen ist der Versuch, über die Grenze nach Kroa­tien zu gelangen, beson­ders gefähr­lich, da Sicher­heits­kräfte den aufge­grif­fenen Geflüch­teten regel­mässig nicht nur das über­le­bens­wich­tige Handy, sondern auch die Klei­dung abnehmen, bevor sie sie zurückschicken.

Vom gewalt­samen Vorgehen bei ille­galen Push­backs berich­teten in den vergan­genen Jahren verschie­dene NGOs und Medien, viel Aufsehen erregte eine Zusam­men­ar­beit verschie­dener euro­päi­scher Journalist*innen – unter anderem der SRF-Rund­schau – die das Vorgehen kroa­ti­scher Poli­zei­kräfte im Grenz­ge­biet dokumentierte.

Dann, kurz vor dem Erscheinen des ersten Teils dieser Serie, kommt die erlö­sende Nach­richt: Auch Ali hat es in die Schweiz geschafft.

*Die Namen von Yasin und Fabian wurden zu ihrem Schutz und auf Ihren Wunsch hin geändert.


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