Fabian fährt mit dem Wohnmobil auf der Autobahn Richtung Süden. Er hat gerade den Gotthardtunnel passiert, als Yasin anruft und ihm die neueste Schreckensmeldung mitteilt: Murat wurde in Slowenien von der Polizei aufgegriffen und in ein Camp für Geflüchtete gebracht. Ausserdem hat er sein Handy verloren, da er geschnappt wurde, während er darauf wartete, dass der Akku lud.
Im Gespräch mit Murat, der mit dem Handy eines anderen telefoniert, erfährt Yasin von einer letzten Chance: Die Verantwortlichen im slowenischen Camp in Logatec, das etwa 30 Kilometer von Ljubljana entfernt liegt, bieten die Geflüchteten erst nach zwei bis drei Tagen zur Registrierung ihrer Personalien und Fingerabdrücke auf.
Damit geben sie den Personen, die in ein anderes Land möchten, die Möglichkeit, aus dem Camp auszubüxen und über die Grenze zu gelangen. Ob dies mit Absicht oder aus Kapazitätsgründen geschieht, ist unklar. „Als klar war, dass es noch nicht zu spät ist, waren wir natürlich erleichtert und ich war froh, bereits unterwegs zu sein“, sagt Fabian.
Seit Wochen werden seitens bürgerlicher Politiker*innen und Medien wieder Ängste vor Geflüchteten geschürt. Es heisst, wir befänden uns in einer Krise. Es kämen zu viele Menschen, es gäbe keinen Platz und man müsse das Asylregime weiter verschärfen.
Weniger wird über die Tatsache berichtet, dass es für viele Menschen, die aus ihrem Herkunftsland flüchten, praktisch unmöglich ist, auf legalem Weg in die Schweiz zu gelangen. Stattdessen müssen sie eine Reise voller lebensbedrohlicher Gefahren und Ungewissheiten auf sich nehmen.
Um diesen Weg einigermassen unbeschadet zurückzulegen, sind die meisten auf Hilfe angewiesen. Viele helfen, weil sie helfen möchten, andere gegen Geld, manchmal sehr viel Geld.
Ohne Personen, die Geflüchtete über eine Grenze bringen, ohne Personen, die mit Leuten in Not ihr Essen teilen, ihnen für eine oder mehrere Nächte einen Platz zum Schlafen anbieten oder ihnen den Weg erklären, würden es viele nicht schaffen. Auch in der Schweiz gibt es Menschen, die Geflüchtete und deren Familien unterstützen.
Das ist die Geschichte von drei Brüdern, die im Teenageralter aus Afghanistan geflüchtet sind und von den Leuten, die ihnen dabei geholfen haben. Erzählt wird sie von Yasin* und Fabian*, belegt und veranschaulicht mit Dokumenten, Fotos und Chatverläufen.
Teil 1: „Europa, wo ist das?“
Teil 2: Gefängnis, Pushbacks und Dublin
Teil 3: Hilfe von unerwarteter Seite
Teil 4: Flucht mit dem Wohnmobil
Yasin hält Murat auf dem Laufenden, was Fabians Zeit- und Reiseplan angeht, kann aber nur über die Mobiltelefone anderer Personen mit ihm kommunizieren. Fabian und er machen sich Sorgen, weil nun verschiedene Leute von ihrem Plan erfahren haben. „Ich dachte, jetzt fahre ich einfach mal, das ist ja noch keine Straftat, ich kann in Slowenien mit meinem Wohnmobil rumfahren, wie ich will“, meint Fabian und lacht.
Autopanne in Italien
Doch bevor es so weit ist, gibt erst einmal das Wohnmobil irgendwo zwischen Verona und Venedig den Geist auf. Es ist die Zeit um Ferragosto, in der die meisten Italiener*innen im Urlaub sind.
Schliesslich findet er in der Nähe von Padua einen Mechaniker, der sich bereit erklärt, ihm zu helfen. „Er war am Rumwerkeln und hat mir gezeigt, was er macht. Ab und zu hielt er irgendein Teil hoch und fragte irritiert: ‚What is this?!‘ [„Was ist das?!“] Und ich immer so vorsichtig: ‚It’s not good?‘ [„Nicht gut?“] Und er: ‚No! It’s not good! Bring it home, show it to your friends!‘ [„Nein! Nicht gut! Bring es nach Hause und zeig es deinen Freunden!“]
Nach knapp drei Stunden erscheint die Familie des Mechanikers in Sonntagskleidung vor dem Haus, sie wollen essen gehen. Irgendwann ist das Auto soweit repariert, dass Fabian die Fahrt fortsetzen kann.
Es ist ein Uhr nachts, als Fabian mit seinem Wohnmobil im Städtchen Logatec einfährt. Obwohl hier nur etwa 10’000 Menschen leben, ist noch einiges los. „An dem Abend fand ein Basketballmatch statt und in den Bars und Pubs waren die Leute am Trinken und Feiern“, erzählt Fabian.
Gemeinsam mit den Brüdern hat er vereinbart, Murat auf dem Parkplatz eines Supermarktes zu treffen, der ungefähr drei Kilometer vom Camp entfernt liegt. Fabian setzt sich auf eine Bank in der Nähe.
„Ich wurde nervös, weil irgendwann Uniformierte auf dem Parkplatz standen. Es waren zwar keine richtigen Polizist*innen, sondern Angestellte einer Sicherheits-Agency, die oft in diesen Camps arbeiten. Wie sich später herausstellte, war es wohl nur eine Standard-Kontrolle. Aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht.“
Nach etwa zwei Stunden finden sich die beiden Männer. „Ich wusste sofort, dass er es war, und er hat mich auch sofort erkannt“, sagt Fabian. Gemeinsam gehen die beiden zurück zum Wohnmobil und Fabian will das Dorf in der Nähe des Camps so rasch wie möglich verlassen.
Fabian ist angespannt. „Ich dachte, wenn die Polizei wüsste, dass ich jemanden abholen will, dann wüssten sie auch, wo ich durchfahre, um auf die Autobahn zu kommen.“ Bei jedem Auto, das hinter ihm fährt, bricht ihm der Schweiss aus und er fährt über Umwege auf die Autobahn. Nach einer Stunde Fahrt parken sie das Wohnmobil auf einem Rastplatz und legen sich endlich schlafen.
Neues Handy – neues Glück?
„Am nächsten Morgen roch es im Wagen nicht so angenehm“, erinnert sich Fabian lachend. Sowohl er als auch Murat haben länger nicht mehr geduscht und zudem ist es Hochsommer. Sie suchen eine Dusche, fahren in die nächste Stadt und kaufen für Murat ein Handy und eine SIM-Karte.
Am selben Abend fahren sie weiter bis an die österreichische Grenze. Zuvor haben sich Yasin und Fabian auf Google Maps das Grenzgebiet angeschaut und gemeinsam überlegt, wo das Überqueren möglichst sicher sein könnte. Zu diesem Ort ist das Wohnmobil nun unterwegs.
„Murat und ich haben dann gemeinsam auf seinem Handy eine App installiert, mit der ich ihn tracken konnte und wo er auch einen Notfallknopf hatte – für den Fall, dass etwas schief gehen sollte.“ Als sie den Grenzübergang erreichen, ist das Gelände unwegsamer als gedacht.
„Gerade bei der Grenze war es sehr steil und der Wald dicht“, so Fabian. Sie packen einen Rucksack, so dass Murat im Ernstfall alles Nötige dabei hätte. Dann lässt Fabian den Jungen nur etwa 50 Meter vor der Grenze aussteigen.
„Es fühlte sich irgendwie scheisse an“, sagt Fabian. „Dieser fünfzehnjährige Knabe, der schon so viel durchgemacht hat, muss jetzt alleine durch den dichten Wald“, meint Fabian ernst.
Fabian fährt über die Grenze und verfolgt auf dem Handy, wohin sich Murat bewegt. Irgendwann ist dieser in der Nähe der Strasse und steigt wieder zu ihm ins Auto. Sie fahren nun durch Österreich und müssen nur noch eine Grenze überqueren.
Am nächsten Nachmittag, die beiden sind gerade auf einer Raststätte, um eine Stunde zu schlafen, steht ein paar Parkplätze weiter ein Kastenwagen. Polizist*innen mit Hunden gehen von Fahrzeug zu Fahrzeug, schauen durch die Scheiben, lassen die Hunde schnüffeln.
„Sie waren vermutlich einfach auf der Suche nach Drogen, aber ich dachte, wenn ich jetzt als Erster wegfahre, mache ich mich verdächtig“, so Fabian. Er steigt aus dem Auto und tut so, als würde er interessiert zuschauen.
Als sie schliesslich zurück auf die Autobahn einbiegen, klebt plötzlich ein Polizeiauto hinter ihnen. Auch das erweist sich als Fehlalarm, aber Fabian bleibt immer mal wieder fast das Herz stehen. Schliesslich sind sie am Rhein und kurz vor der Schweizer Grenze.
Zu Fuss über die letzte Grenze
Zurück in der Gegenwart beugen sich Fabian und Yasin wieder einmal über einen Kartenausschnitt auf dem Handy. Fabian deutet mit dem Zeigefinger auf die feine blaue Linie. „Das ist der Rhein, hier hat es ein Dorf, und hier kann man zu Fuss rüber. Und hier stand die Polizei.“
Fabian beschliesst, mit Murat gemeinsam zu Fuss über die Grenze zu gehen und das Auto später zu holen. „Ich kannte ihn mittlerweile seit zwei Tagen und wusste, dass er etwas unsicher ist.“ Ausserdem habe er sich gedacht: „Spazieren darf ich ja mit ihm.“
Die zwei gehen zu Fuss über die Grenze und Murat versteckt sich in einem Busch, bis Fabian mit dem Wohnmobil nachkommt. „Würdelos“ ist das Wort, das er verwendet, um die Situation zu beschreiben.
„Es hat auch noch geregnet, während er sich in einem Gebüsch verstecken musste.“ Die Schweizer Polizeistreife, die sie passieren, nachdem Murat wieder im Wohnmobil sitzt, hält sie nicht an. Sie haben es geschafft.
„Als ich von der Arbeit nach Hause zu Fabian kam, war Murat einfach da, er schlief gerade“, erzählt Yasin. „Ich freute mich sehr.“ Sechs Jahre lang haben sich die Brüder nicht gesehen.
Nachdem Murat sich ein paar Tage in der Obhut von Yasin ausgeruht hat, gehen die beiden gemeinsam zu einem Asylzentrum, um ihn anzumelden. Seither lebt Murat in einem Zentrum für unbegleitete minderjährige Geflüchtete, das sich in einer ländlichen Gegend mit schlechter ÖV-Anbindung befindet. Yasin hat ihn dort bereits besucht, gemeinsam mit Fabian will er bald wieder hinfahren.
Im Winter ist es noch gefährlicher
Als das Gespräch mit Yasin und Fabian stattfindet, befindet sich Murats Zwillingsbruder Ali gerade in Serbien. Yasin hat mit den Schleppern vereinbart, dass diese ihn von Istanbul nach Serbien bringen. Das klappt auf Anhieb. Danach wird Ali in einer Wohnung festgehalten, bis die Bezahlung abgewickelt ist.
Yasin und Fabians Partnerin Nora fahren an einem Nachmittag in ein Dorf in der Nähe der Stadt Zürich, um das Geld, welches das Schweizer Pärchen in seinem Umfeld gesammelt hat, in einem Briefkasten zu deponieren.
Yasin macht sich auch danach Sorgen um seinen Bruder. Bei den winterlichen Temperaturen ist der Versuch, über die Grenze nach Kroatien zu gelangen, besonders gefährlich, da Sicherheitskräfte den aufgegriffenen Geflüchteten regelmässig nicht nur das überlebenswichtige Handy, sondern auch die Kleidung abnehmen, bevor sie sie zurückschicken.
Vom gewaltsamen Vorgehen bei illegalen Pushbacks berichteten in den vergangenen Jahren verschiedene NGOs und Medien, viel Aufsehen erregte eine Zusammenarbeit verschiedener europäischer Journalist*innen – unter anderem der SRF-Rundschau – die das Vorgehen kroatischer Polizeikräfte im Grenzgebiet dokumentierte.
Dann, kurz vor dem Erscheinen des ersten Teils dieser Serie, kommt die erlösende Nachricht: Auch Ali hat es in die Schweiz geschafft.
*Die Namen von Yasin und Fabian wurden zu ihrem Schutz und auf Ihren Wunsch hin geändert.
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