Zwei gebrochene Rippen, ein gebrochenes Bein, interne Blutungen, schwere Verletzungen am Kopf. In einer der letzten Wochen erreicht mich die E‑Mail eines Bekannten aus Uganda. Seine Frau Peace und seine Tochter Melody waren in einen Autounfall verwickelt, wurden aber rechtzeitig in einem Krankenhaus operiert. Kostenpunkt: umgerechnet 1’400 Franken.
Die Familie – beide Eltern sind Primarlehrer*innen in Uganda – konnte 120 Franken selbst aufbringen und wandte sich dann in der Hoffnung auf Unterstützung an all ihre Bekannten. Dank meines Bekanntenkreises in der Schweiz konnte ich den Rest des Geldes per Mobile Money schicken – kurz nachdem das Spital die Ärzt*innen bereits angewiesen hatte, die postoperativen Behandlungen einzustellen.
Was hat diese Anekdote mit der Abstimmung über die OECD-Mindeststeuer zu tun?
Nun ja, ganz banal: Steuern retten Leben. Je mehr Steuereinnahmen ein Land hat, desto mehr investiert es in den Zugang zu Wasser, Bildung und ins Gesundheitswesen. Und das wirkt sich ganz konkret auf die Überlebensrate von Menschen wie Peace und Melody aus. Das zeigt eine neue Studie, die diesen Zusammenhang am Beispiel von sechs afrikanischen Staaten und den Steuern eines multinationalen Unternehmens erstmals quantifiziert hat.
Eigentlich nicht überraschend, aber trotzdem wird dieser Zusammenhang in der aktuellen Debatte zur Umsetzung der OECD-Mindeststeuer kaum thematisiert.
Besonders Länder des globalen Südens sind für ihre öffentlichen Dienstleistungen auf faire Unternehmenssteuern angewiesen. Exorbitant tiefe Unternehmenssteuern können sich hingegen nur strukturstarke Zwergstaaten wie die Schweiz leisten, wo Steuern auf Einkommen und Konsum den Grossteil der Staatseinnahmen ausmachen. Das Problem dabei: Konzerne verschieben ihre Gewinne in Steueroasen wie die Schweiz, um sie dort zu tieferen Sätzen zu versteuern, während Ländern wie Uganda die Steuereinnahmen entgehen.
Mit einer einheitlichen Besteuerung für Konzerne wollte die OECD-Mindeststeuer diese Dynamik einst ausbremsen. In ihrer helvetischen Anwendung – eine Ergänzungssteuer, die mehrheitlich manchen Kantonen und damit auch den Konzernen zu Gute kommen dürfte – würde sie diese jedoch befeuern. Und damit ein System fortsetzen, dass in unserer kolonialen Vergangenheit geschaffen wurde und standardmässig weisse Nationen begünstigt und Schwarze Gesellschaften benachteiligt.
Internationales Steuersystem als koloniales Erbe
Als weisse Siedler*innen, Kolonialbeamte und Geschäftsleute in den 1950er- und 60er-Jahren die koloniale Welt verlassen mussten, brachten sie einen Grossteil ihrer Vermögen ins Ausland. Die Historikerin Vanessa Ogle hat diese Geldbewegungen nachverfolgt und dabei festgestellt: Die Gelder wurde nicht etwa nach Grossbritannien oder Frankreich gebracht, wo es damals sehr hohe Steuersätze für Reiche und Unternehmen gab, sondern in schon bekannte Steueroasen wie die Schweiz und neu entstehende wie die Bahamas oder Malta.
So wurden bereits in der spätkolonialen Zeit Netzwerke und Fachwissen aufgebaut, die Kapitalflucht und Steuerhinterziehung ermöglichten. Dass auch lokale Eliten in der postkolonialen Welt bald die Vorteile eines Schweizer Bankkontos entdeckten, ist kaum überraschend. Auch nicht zu vergessen ist, dass in den 1950er-Jahren Schweizer Banken aktiv um Kund*innen unter den wohlhabenden Bürger*innen in der dekolonialisierten Welt warben.
Die Systeme, die korrupte Eliten und Unternehmen in einkommensschwachen Ländern des globalen Südens begünstigen, wurden also bereits während der Kolonialzeit angelegt und werden bis heute aufrechterhalten. Durch diese entgehen vor allem rohstoffreichen Ländern des globalen Südens erhebliche Steuereinnahmen. Und auch deswegen sind die Steuerverwaltungen afrikanischer Länder oft zu schwach aufgestellt, um Steuermissbrauch – wenn etwa Konzerne ihre Verrechnungspreise manipulieren – aufzudecken und dagegen vorzugehen.
Alleine letztes Jahr haben multinationale Konzerne 112 Milliarden Dollar an Gewinnen in die Schweiz verschoben, wodurch wir 9 Milliarden Dollar an Steuern einnahmen – satte 39 Prozent unserer gesamten Unternehmenssteuern. Das ist mehr als doppelt so viel Geld, wie die Schweiz im Jahr 2022 insgesamt an Entwicklungshilfe geleistet hatte.
Vor allem aber haben ehemals kolonialisierte Länder kaum etwas zu sagen, wenn es um die Umgestaltung des internationalen Steuersystems geht: Damit Konzerne ihre Gewinne nicht weiterhin in Tiefsteuergebiete verschieben, forderten sie in der OECD-Steuerreform beispielsweise einen viel höheren Mindeststeuersatz oder vereinfachte und fairere Verteilungssysteme. Zusammen mit Ländern wie Luxemburg und Irland hat sich die Schweiz aber aktiv daran beteiligt, den Mindeststeuersatz herunterzuhandeln und die Steuerabzüge für Konzerne auszuweiten und sie damit zu begünstigen.
Standortförderung anstatt gerechtere Verteilung
Am Anfang der Steuerreform stand zwar die Idee, dass die Mehreinnahmen aus der Mindeststeuer in die Länder zurückfliessen, in denen die Güter produziert und die Dienstleistungen angeboten werden. Der Reformprozess hat diese Idee aber so weit abgeschwächt, dass bei der aktuellen Umsetzung vor allem die Sitzstaaten der Konzerne und somit Tiefsteuergebiete wie die Schweiz profitieren.
Länder des globalen Südens hingegen, die meist nur Tochterfirmen beherbergen, können die Zuschlagsteuer nur erheben, wenn die Hauptsitzländer auf diese verzichten. Sie selbst haben ohnehin höhere Gewinnsteuersätze, profitieren im eigenen Land also nicht von Mehreinnahmen durch die Mindeststeuer.
Am 18. Juni stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung also nicht darüber ab, dass 15 Prozent viel zu wenig sind oder dass das zusätzliche Geld, das wir in der Schweiz einziehen, uns eigentlich nicht zusteht. Sie kann sich aber noch dafür entscheiden, wie sie die zwischen 1 bis 2.5 Milliarden Franken zusätzlichen Steuereinnahmen einsetzen und verteilen will.
Aktuell schlägt die Verfassungsänderung vor, dass 25 Prozent der Einnahmen dem Bund und 75 Prozent den Kantonen zukommen. So werden auch die Tiefsteuerkantone dafür belohnt, dass sie solche sind: Kantone wie Zug mit seinen Rohstoffhandelsfirmen oder Basel mit der Pharma werden fast alle dieser Zusatzeinnahmen eintreiben, während der Finanzausgleich nur einen minimalen Ausgleich schaffen wird.
Was die Verfassungsänderung auch festhalten würde: Sowohl Bund und Kantone sollen die zusätzlichen Einnahmen für die Standortförderung einsetzen. Als hätte die Schweiz nicht bereits genügend Standortvorteile. Und zwar solche, die unter anderem darauf beruhen, dass die Schweiz über lange Zeit im Schatten der kolonialen Mächte wirtschaften und gleichzeitig deren koloniale Infrastruktur nutzen konnte.
Denn während andere europäische Länder in Übersee Land beschlagnahmten, wurden hierzulande Firmen gegründet, die in grossem Stil Transithandel betrieben – nicht nur mit allerlei Waren, sondern auch mit Menschen. Diese selbst gelangten zwar mehrheitlich nicht in die Schweiz, jedoch ihre Kapitalströme. Ab 1950 liessen sich wegen der aktiven Standortpolitik von Bund, Kantonen und Wirtschaftsverbänden vermehrt ausländische Rohstofffirmen in der Schweiz nieder; heute sind wir das Land mit der höchsten Dichte an multinationalen Konzernen.
Das Argument der Befürworter*innen, „damit das Geld in der Schweiz bleibt“, ist absolut zynisch. Die Steuergelder kommen überhaupt erst hierhin, weil man die kolonialismusbedingte Strukturschwäche des globalen Südens ausnutzt – auch das ist globaler struktureller Rassismus. Dass aber überall in unserem Land in aller Selbstverständlichkeit diese Plakate hängen, suggeriert nicht nur fälschlicherweise, dass dieses Geld der Schweiz zusteht, sondern verschleiert auch, dass es sich damit um eine Fortsetzung der kolonialen Praxis handelt.
Mit einem Nein am 18. Juni kann die Vorlage aber noch rechtzeitig reformiert werden, wie das Alliance Sud fordert: Sodass ein grösserer Teil des Geldes beim Bund als den Kantonen landet, und dass die Standortförderung aus der Verfassung gestrichen wird. Denn je mehr Geld an den Bund geht, desto eher kann es etwa durch die internationale Zusammenarbeit oder Klimafinanzierung in die Länder zurückfliessen, wo es herkommt.
Korrigendum: Die erste Version des Artikels hat fälschlicherweise nicht darauf verwiesen, dass es sich bei den Forderungen im letzten Absatz um diejenigen von Alliance Sud handelt.
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