Ein Ja zur OECD-Mindest­steuer: Im Kern rassistisch

Am 18. Juni stimmt die Schweizer Stimm­be­völ­ke­rung über die OECD-Mindest­steuer ab. Ein Ja zur Vorlage würde nur die globale Ungleich­heit weiter verschärfen und die kolo­niale Ausbeu­tung fort­setzen, findet unsere Autorin. 
Auch mit der OECD-Mindeststeuer holt sich die Schweiz die wenigen Münzen Afrikas in ihr goldenes Nest. (Illustration: Stefanie Lechthaler / @steffischtrub)

Zwei gebro­chene Rippen, ein gebro­chenes Bein, interne Blutungen, schwere Verlet­zungen am Kopf. In einer der letzten Wochen erreicht mich die E‑Mail eines Bekannten aus Uganda. Seine Frau Peace und seine Tochter Melody waren in einen Auto­un­fall verwickelt, wurden aber recht­zeitig in einem Kran­ken­haus operiert. Kosten­punkt: umge­rechnet 1’400 Franken.

Die Familie – beide Eltern sind Primarlehrer*innen in Uganda – konnte 120 Franken selbst aufbringen und wandte sich dann in der Hoff­nung auf Unter­stüt­zung an all ihre Bekannten. Dank meines Bekann­ten­kreises in der Schweiz konnte ich den Rest des Geldes per Mobile Money schicken – kurz nachdem das Spital die Ärzt*innen bereits ange­wiesen hatte, die post­ope­ra­tiven Behand­lungen einzustellen.

Was hat diese Anek­dote mit der Abstim­mung über die OECD-Mindest­steuer zu tun? 

Nun ja, ganz banal: Steuern retten Leben. Je mehr Steu­er­ein­nahmen ein Land hat, desto mehr inve­stiert es in den Zugang zu Wasser, Bildung und ins Gesund­heits­wesen. Und das wirkt sich ganz konkret auf die Über­le­bens­rate von Menschen wie Peace und Melody aus. Das zeigt eine neue Studie, die diesen Zusam­men­hang am Beispiel von sechs afri­ka­ni­schen Staaten und den Steuern eines multi­na­tio­nalen Unter­neh­mens erst­mals quan­ti­fi­ziert hat. 

Eigent­lich nicht über­ra­schend, aber trotzdem wird dieser Zusam­men­hang in der aktu­ellen Debatte zur Umset­zung der OECD-Mindest­steuer kaum thematisiert.

Beson­ders Länder des globalen Südens sind für ihre öffent­li­chen Dienst­lei­stungen auf faire Unter­neh­mens­steuern ange­wiesen. Exor­bi­tant tiefe Unter­neh­mens­steuern können sich hingegen nur struk­tur­starke Zwerg­staaten wie die Schweiz leisten, wo Steuern auf Einkommen und Konsum den Gross­teil der Staats­ein­nahmen ausma­chen. Das Problem dabei: Konzerne verschieben ihre Gewinne in Steu­er­oasen wie die Schweiz, um sie dort zu tieferen Sätzen zu versteuern, während Ländern wie Uganda die Steu­er­ein­nahmen entgehen. 

Mit einer einheit­li­chen Besteue­rung für Konzerne wollte die OECD-Mindest­steuer diese Dynamik einst ausbremsen. In ihrer helve­ti­schen Anwen­dung – eine Ergän­zungs­steuer, die mehr­heit­lich manchen Kantonen und damit auch den Konzernen zu Gute kommen dürfte – würde sie diese jedoch befeuern. Und damit ein System fort­setzen, dass in unserer kolo­nialen Vergan­gen­heit geschaffen wurde und stan­dard­mässig weisse Nationen begün­stigt und Schwarze Gesell­schaften benach­tei­ligt.

Inter­na­tio­nales Steu­er­sy­stem als kolo­niales Erbe

Als weisse Siedler*innen, Kolo­ni­al­be­amte und Geschäfts­leute in den 1950er- und 60er-Jahren die kolo­niale Welt verlassen mussten, brachten sie einen Gross­teil ihrer Vermögen ins Ausland. Die Histo­ri­kerin Vanessa Ogle hat diese Geld­be­we­gungen nach­ver­folgt und dabei fest­ge­stellt: Die Gelder wurde nicht etwa nach Gross­bri­tan­nien oder Frank­reich gebracht, wo es damals sehr hohe Steu­er­sätze für Reiche und Unter­nehmen gab, sondern in schon bekannte Steu­er­oasen wie die Schweiz und neu entste­hende wie die Bahamas oder Malta. 

Alleine letztes Jahr haben multi­na­tio­nale Konzerne 112 Milli­arden Dollar an Gewinnen in die Schweiz verschoben, wodurch wir 9 Milli­arden Dollar an Steuern einnahmen – satte 39 Prozent unserer gesamten Unternehmenssteuern. 

So wurden bereits in der spät­ko­lo­nialen Zeit Netz­werke und Fach­wissen aufge­baut, die Kapi­tal­flucht und Steu­er­hin­ter­zie­hung ermög­lichten. Dass auch lokale Eliten in der post­ko­lo­nialen Welt bald die Vorteile eines Schweizer Bank­kontos entdeckten, ist kaum über­ra­schend. Auch nicht zu vergessen ist, dass in den 1950er-Jahren Schweizer Banken aktiv um Kund*innen unter den wohl­ha­benden Bürger*innen in der deko­lo­nia­li­sierten Welt warben. 

Die Systeme, die korrupte Eliten und Unter­nehmen in einkom­mens­schwa­chen Ländern des globalen Südens begün­stigen, wurden also bereits während der Kolo­ni­al­zeit ange­legt und werden bis heute aufrecht­erhalten. Durch diese entgehen vor allem rohstoff­rei­chen Ländern des globalen Südens erheb­liche Steu­er­ein­nahmen. Und auch deswegen sind die Steu­er­ver­wal­tungen afri­ka­ni­scher Länder oft zu schwach aufge­stellt, um Steu­er­miss­brauch – wenn etwa Konzerne ihre Verrech­nungs­preise mani­pu­lieren – aufzu­decken und dagegen vorzugehen.

Alleine letztes Jahr haben multi­na­tio­nale Konzerne 112 Milli­arden Dollar an Gewinnen in die Schweiz verschoben, wodurch wir 9 Milli­arden Dollar an Steuern einnahmen – satte 39 Prozent unserer gesamten Unter­neh­mens­steuern. Das ist mehr als doppelt so viel Geld, wie die Schweiz im Jahr 2022 insge­samt an Entwick­lungs­hilfe gelei­stet hatte.

Vor allem aber haben ehemals kolo­nia­li­sierte Länder kaum etwas zu sagen, wenn es um die Umge­stal­tung des inter­na­tio­nalen Steu­er­sy­stems geht: Damit Konzerne ihre Gewinne nicht weiterhin in Tief­steu­er­ge­biete verschieben, forderten sie in der OECD-Steu­er­re­form beispiels­weise einen viel höheren Mindest­steu­er­satz oder verein­fachte und fairere Vertei­lungs­sy­steme. Zusammen mit Ländern wie Luxem­burg und Irland hat sich die Schweiz aber aktiv daran betei­ligt, den Mindest­steu­er­satz herun­ter­zu­han­deln und die Steu­er­ab­züge für Konzerne auszu­weiten und sie damit zu begünstigen. 

Stand­ort­för­de­rung anstatt gerech­tere Verteilung

Am Anfang der Steu­er­re­form stand zwar die Idee, dass die Mehr­ein­nahmen aus der Mindest­steuer in die Länder zurück­fliessen, in denen die Güter produ­ziert und die Dienst­lei­stungen ange­boten werden. Der Reform­pro­zess hat diese Idee aber so weit abge­schwächt, dass bei der aktu­ellen Umset­zung vor allem die Sitz­staaten der Konzerne und somit Tief­steu­er­ge­biete wie die Schweiz profitieren. 

Länder des globalen Südens hingegen, die meist nur Toch­ter­firmen beher­bergen, können die Zuschlag­steuer nur erheben, wenn die Haupt­sitz­länder auf diese verzichten. Sie selbst haben ohnehin höhere Gewinn­steu­er­sätze, profi­tieren im eigenen Land also nicht von Mehr­ein­nahmen durch die Mindeststeuer.

Als hätte die Schweiz nicht bereits genü­gend Stand­ort­vor­teile. Und zwar solche, die unter anderem darauf beruhen, dass die Schweiz über lange Zeit im Schatten der kolo­nialen Mächte wirt­schaften und gleich­zeitig deren kolo­niale Infra­struktur nutzen konnte.

Am 18. Juni stimmt die Schweizer Stimm­be­völ­ke­rung also nicht darüber ab, dass 15 Prozent viel zu wenig sind oder dass das zusätz­liche Geld, das wir in der Schweiz einziehen, uns eigent­lich nicht zusteht. Sie kann sich aber noch dafür entscheiden, wie sie die zwischen 1 bis 2.5 Milli­arden Franken zusätz­li­chen Steu­er­ein­nahmen einsetzen und verteilen will.

Aktuell schlägt die Verfas­sungs­än­de­rung vor, dass 25 Prozent der Einnahmen dem Bund und 75 Prozent den Kantonen zukommen. So werden auch die Tief­steu­er­kan­tone dafür belohnt, dass sie solche sind: Kantone wie Zug mit seinen Rohstoff­han­dels­firmen oder Basel mit der Pharma werden fast alle dieser Zusatz­ein­nahmen eintreiben, während der Finanz­aus­gleich nur einen mini­malen Ausgleich schaffen wird.

Was die Verfas­sungs­än­de­rung auch fest­halten würde: Sowohl Bund und Kantone sollen die zusätz­li­chen Einnahmen für die Stand­ort­för­de­rung einsetzen. Als hätte die Schweiz nicht bereits genü­gend Stand­ort­vor­teile. Und zwar solche, die unter anderem darauf beruhen, dass die Schweiz über lange Zeit im Schatten der kolo­nialen Mächte wirt­schaften und gleich­zeitig deren kolo­niale Infra­struktur nutzen konnte.

Die Steu­er­gelder kommen über­haupt erst hierhin, weil man die kolo­nia­lis­mus­be­dingte Struk­tur­schwäche des globalen Südens ausnutzt – auch das ist globaler struk­tu­reller Rassismus.

Denn während andere euro­päi­sche Länder in Übersee Land beschlag­nahmten, wurden hier­zu­lande Firmen gegründet, die in grossem Stil Tran­sit­handel betrieben – nicht nur mit allerlei Waren, sondern auch mit Menschen. Diese selbst gelangten zwar mehr­heit­lich nicht in die Schweiz, jedoch ihre Kapi­tal­ströme. Ab 1950 liessen sich wegen der aktiven Stand­ort­po­litik von Bund, Kantonen und Wirt­schafts­ver­bänden vermehrt auslän­di­sche Rohstoff­firmen in der Schweiz nieder; heute sind wir das Land mit der höch­sten Dichte an multi­na­tio­nalen Konzernen.

Das Argu­ment der Befürworter*innen, „damit das Geld in der Schweiz bleibt“, ist absolut zynisch. Die Steu­er­gelder kommen über­haupt erst hierhin, weil man die kolo­nia­lis­mus­be­dingte Struk­tur­schwäche des globalen Südens ausnutzt – auch das ist globaler struk­tu­reller Rassismus. Dass aber überall in unserem Land in aller Selbst­ver­ständ­lich­keit diese Plakate hängen, sugge­riert nicht nur fälsch­li­cher­weise, dass dieses Geld der Schweiz zusteht, sondern verschleiert auch, dass es sich damit um eine Fort­set­zung der kolo­nialen Praxis handelt.

Mit einem Nein am 18. Juni kann die Vorlage aber noch recht­zeitig refor­miert werden, wie das Alli­ance Sud fordert: Sodass ein grös­serer Teil des Geldes beim Bund als den Kantonen landet, und dass die Stand­ort­för­de­rung aus der Verfas­sung gestri­chen wird. Denn je mehr Geld an den Bund geht, desto eher kann es etwa durch die inter­na­tio­nale Zusam­men­ar­beit oder Klima­fi­nan­zie­rung in die Länder zurück­fliessen, wo es herkommt.

Korri­gendum: Die erste Version des Arti­kels hat fälsch­li­cher­weise nicht darauf verwiesen, dass es sich bei den Forde­rungen im letzten Absatz um dieje­nigen von Alli­ance Sud handelt.


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