Auf manchen Seiten stehen nur wenige Sätze, durch Leerzeilen voneinander getrennt. Manchmal haben die Sätze ein Versmass – oder scheinen eines zu haben. Manchmal sind es kleine Prosanotizen ohne bestimmten Rhythmus. Oft mischen sich direkte Zitate anderer Autor*innen darunter. Und verstreut: Fotografien, Skizzen, Bilder. „Frühe Pflanzung“ ist ein lichtes Buch. Keine hundert Seiten lang. Die Worte und Sätze bekommen ihren Raum, dazwischen viel Weiss wie Luft zum Atmen.
Die Verse, Prosaminiaturen und Bilder folgen der Autorin durch die Schwangerschaft und das erste Jahr nach der Geburt ihres Kindes – grob unterteilt in Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Und in diese Richtung gelesen und mitgedacht, entwickeln sie sogar so etwas wie eine stringente Erzählung. Das Ich im Text, das sich als Frau definiert, sucht und findet poetische Metaphern und Vergleiche – meist findet sie diese im Garten vor dem Haus – für die physischen Prozesse von Geburt und Mutterschaft.
„Ich habe Blumenzwiebeln gesetzt“, heisst es. „Blumen, die blühen, wenn das Baby geboren wird.“ Hier nennt sich der Text selbst: „Eine poetische Bepflanzung der Schwangerschaft.“ Und das trifft es recht genau. Poetisch ist die Art, wie von leichter Hand und spürbar unbemüht Natur, Mensch und Literatur ineinandergreifen, ohne sich gegenseitig zu erklären oder auszuerzählen. Vielmehr ergänzen sich die Bilder und Metaphern gegenseitig und öffnen neue gedankliche Räume.
Keine einfache Politisierung
Damit entgeht Anna Ospelt zwei Gefahren, die in der Naturmetaphorik stecken. Auf der einen Seite lauert die Romantisierung, auf der anderen – wenn man so will – die Biologisierung. Beides Stolperfallen, die gesellschaftliche und politische Zusammenhänge um das Thema Mutterschaft eher verschleiern als begreifen helfen. Anna Ospelts poetische Bepflanzung ist so ambivalent und bedeutungsoffen, dass sie von derlei einfacher Politisierung nicht berührt wird.
Ein wichtiges Stilmittel sind die zahlreichen intertextuellen Bezüge, die Ospelt gezielt einstreut. Sie helfen ihr, sich aus der Naturmetaphorik zu lösen und lassen kulturelle und politische Kontexte wiederum aufblühen. Zwischen eigenen Beobachtungen und „Bepflanzungen“ sät Ospelt Zitate anderer Autor*innen, kommentiert sie manchmal, lässt sie oft auch einfach für sich stehen.
Anna Ospelt wurde 1987 in Vaduz geboren. Sie studierte Soziologie, Medien- und Erziehungswissenschaften in Basel und publiziert Lyrik und Kurzgeschichten in Literaturmagazinen und Anthologien. Für ihren Erstling „Wurzelstudien“ erhielt sie ein Stipendium der Stiftung Kunst und Kultur im Rahmen des Deutschen Preises für Nature Writing und war für den Clemens-Brentano-Preis nominiert. „Frühe Pflanzung“ ist Anna Ospelts zweite Buchveröffentlichung.
Da finden sich Dichter*innen wie Friederike Mayröcker, Prosaautor*innen wie Sylvia Plath und Julia Weber – aber auch explizit politische Autor*innen, zum Beispiel Audre Lorde, Franziska Schutzbach und Antonia Baum. Sie alle bekommen einen Platz eingeräumt in Anna Ospelts Werk. Ihre Gedanken werden in Sätzen verteilt wie kleine verkapselte Samen.
Und im Textgeflecht von „Frühe Pflanzung“ fallen sie auf fruchtbaren Boden. Die Kapseln treiben aus und schlagen Wurzeln, die Politik blüht als Poesie. Was ein bisschen verschwurbelt klingt, entspricht recht genau dem Lesegefühl: Durch die kunstvolle Verflechtung von politischem Zitat und eigenen poetischen Bildern, immer wieder leise kommentiert, auch infrage gestellt und kritisiert, wird die explizite Politik – die sich auf Themen wie Mutterschaft, Feminismus, Carearbeit bezieht – zu einem Möglichkeitsraum. Hier wird gedacht und weitergedacht, nicht in Parolen agitiert.
„Ich lese in einem Zeitschriftenartikel von einem Wechselspiel zwischen Über- und Unterforderung mit Babys und Kleinkindern.
–
Ich lese in Marie Darrieussecqs Buch ‚Das Baby‘ von einer ‚Ich-Schmelze‘ in der frühen Elternschaft.
–
Es ist warm, und ich lasse E. morgens auf einem Handtuch robben.“
Poesie im Zitatgeflecht
So geschickt werden eigene und fremde Texte ineinander verwoben, dass der Text beim Lesen wie eine organische Einheit erscheint – zu wachsen beginnt, lebendig wird. Oder anders ausgedrückt: Anna Ospelt schafft mit „Frühe Pflanzung“ ein Poesie- und Zitatgeflecht, das seinen Sinn nicht von der leitenden Hand einer auktorialen Erzählerin bekommt, die alles um den Kern einer intendierten Bedeutung versammeln könnte, sondern viele einzelne, für sich stehende Sinnzentren hat. Durch den Bezug untereinander laden sie sich mit Bedeutungen auf, fangen an zu schillern und zu leuchten.
Tatsächlich kann man „Frühe Pflanzung“ von verschiedenen Seiten lesen, kann am Anfang beginnen oder am Ende, oder einfach irgendwo in der Mitte. Das Ergebnis ist jedes Mal das gleiche kleine poetische Buch – aber jedes Mal mit ganz anderen Gedanken. Um wieder in den Metaphern der politischen Natur zu sprechen: „Frühe Pflanzung“ ist ein Text, der dem sehr nahekommt, was man in Anarchokreisen gerne als Rhizom bezeichnet, ein Zusammenschluss ohne autoritäres Zentrum.
Dass Ospelt einen solchen Text schafft, ohne sich explizit auf anarchistische Theorie zu beziehen, ist die grosse Stärke von „Frühe Pflanzung“ und gleichzeitig seine einzige Schwäche. Stark, weil Ospelt es gar nicht nötig hat, zu erklären, was sie tut – sie tut es einfach, und es gelingt. Die Schwäche liegt darin, dass man ihr gewisse politisch aufgeladene Zitate dann doch nicht abnimmt. Es schleicht sich der Verdacht ein, dass sie manchmal doch nur heranzitiert werden, um dem Ganzen Bedeutung zu geben. Wäre es nicht auch ohne sie gegangen?
Loslassen statt auktorial erzählen
Wahrscheinlich. Denn im grossen Ganzen erhält „Frühe Pflanzung“ seine Bedeutung gar nicht aus der konkreten Politik, sondern aus einer neuartigen Textgattung, die Ospelt hier erfindet. Es ist eine poetische Prosa, die sich ganz entschieden gegen ein uraltes Konzept auktorialen Erzählens wendet. In der Art, wie Ospelt Worten, Textfetzen, Sätzen ihre Eigenständigkeit lässt – sie nicht in das Konzept einer forcierten Erzählung presst – wird beim Lesen spürbar, was es heisst zum Beispiel die Care Arbeit einer Mutter zu leisten.
Es heisst, den Mut zu haben, loszulassen, das Kind wie den Text als eigenständiges Wesen zu akzeptieren – ihnen zum Leben zu verhelfen, statt sie in ein vorgesehenes Leben zu pressen. Dass Kind und Text auf einer Bedeutungsebene stehen, ist für Ospelt klar:
„Ich führe mich unterstützende Bücher im Kinderwagen spazieren.“
In diesem Bild gesprochen, ist Ospelts Prosa radikal antipatriarchal. Sie zwingt die Worte nicht in eine wuchtige Erzählung, in der sich am Ende der*die Autor*in selbst gespiegelt sehen könnte, wie sich der Patriarch in seinen Nachkommen erkennen will – sie lässt die Worte gehen für ein neues Konzept von Prosa. Man könnte sagen: freie Prosa, nicht patriarchal dominant.
Auf der anderen Seite macht „Frühe Pflanzung“ ein Problem erfahrbar, von dem andere Autor*innen meist „nur“ erzählen: den Konflikt zwischen dem Dasein als freie Autorin und der Mutterschaft. Direkt auf das vorangegangene Zitat folgen die Sätze:
„einen ersten Sprung in der Schale
eidottergelbe Blumen im Haar
diktiert mir das Kind
wann ich schreiben kann“
Statt sich gegen dieses „Diktat“ zu wehren, lässt Ospelt es einfach geschehen. Eine aus klassischer Autor*innen-Perspektive seltsame Verweigerungshaltung: kein Kampf mit den Umständen der Mutterschaft, kein Regretting und kein Helikoptern (und was sonst noch in aktuellen Diskursen an Begriffen fallen müsste). Sondern vielleicht eine Art Generalstreik gegen eine Kultur, die letztlich auch von Müttern – egal welchen Geschlechts – erwartet, dass sie sich verhalten wie patriarchale Macker. Und das heisst: immer nur und auschliesslich sich selbst in den Text (in das Kind) einzuschreiben.
„Frühe Pflanzung“ lässt geschehen und ringt seinem Thema damit einen Text ab, der tatsächlich ein tieferes Verständnis von Mutterschaft – im Politischen wie im Biologischen – ermöglicht: das Fühlen und Akzeptieren eines gewissen Kontrollverlustes, der allein neues Leben sein kann.
Anna Ospelt: Frühe Pflanzung, Limmat Verlag Zürich, 2023
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