In Deutschland wird derzeit viel über Hitzetote gesprochen, seit eine Studie herausgekommen ist, die besagt, dass 60’000 Europäer*innen im Sommer 2022 an den Folgen extremer Hitze gestorben sind. In der Studie ist nicht vom sozioökonomischen Status der Toten die Rede. Dabei ist dieser mitentscheidend, um die Gefahr, die von der Hitze ausgeht, zu verstehen.
Hier kämen eigentlich Journalist*innen ins Spiel, deren Aufgabe es wäre, die Zahl aus der Studie in einen gesellschaftlichen Kontext einzuordnen und zu interpretieren. Und in diesem Zuge etwa die typischerweise von der untersuchten tödlichen Hitze Betroffenen als solche zu benennen.
An dieser Aufgabe scheitern allerdings die allermeisten (nicht alle) Beiträge, die in deutschsprachigen Medien in den vergangenen Wochen erschienen sind.
„David gegen Goliath“ ist hier Programm: Olivier David
gegen die Goliaths dieser Welt. Anstatt nach unten wird nach oben getreten. Es geht um die Lage und den Facettenreichtum der unteren Klasse. Die Kolumne dient als Ort, um Aspekte der Armut, Prekarität und Gegenkultur zu reflektieren, zu besprechen, einzuordnen. „David gegen Goliath“ ist der Versuch eines Schreibens mit Klassenstandpunkt, damit aus der Klasse an sich eine Klasse für sich wird. Die Kolumne erscheint ebenfalls als Newsletter.
Arme und Arbeiter*innen als Risikogruppe
Was die meisten problematischen Beiträge dennoch richtigerweise feststellen: Arme Menschen im globalen Süden sind von der Hitze stärker betroffen als Menschen in Europa. Gleichzeitig klammern die allermeisten aber aus, dass es auch hier in Westeuropa arme Menschen gibt und auch sie stärker unter den Folgen der Klimakrise leiden als reiche Menschen.
ZEIT-Redaktorin Anna Mayr etwa schreibt: „Arme Menschen, das ist ein Credo der Klimabewegung, werden stärker unter der Erderwärmung leiden als reiche Menschen. Das stimmt, global gesehen, denn arme Menschen wohnen in armen Ländern, die weniger Ressourcen zur Anpassung haben. Aber ob es auch für Mitteleuropa stimmt? Für den gesamten sogenannten Westen? In Kalifornien brennen Villen ab, im Ahrtal sind auch die Häuser von reichen Menschen weggeschwommen oder nach der Flut verschimmelt.“
Doch diese Interpretation greift zu kurz. Sowohl in den USA als auch in Europa finden sich Belege dafür, dass ein niedriger sozioökonomischer Status Einfluss auf das Sterberisiko durch Hitze hat. Ebenfalls ist bekannt, dass besonders Arbeiter*innen unter den Hitzetoten zu finden sind – auch in wohlhabenden westlichen Ländern.
Arme und Arbeiter*innen, die auch in westlichen Ländern vermehrt an Hitze sterben, haben viele Gesichter: Bauarbeitende, denen jüngst in Texas gerichtlich Trinkpausen verboten wurden; Wohnungslose, denen die Möglichkeit fehlt, sich vor der Hitze zu schützen; Menschen, die in schlecht isolierten und kaum ausgebauten Dachgeschosswohnungen überhitzen.
Dass Reiche auch unter den Folgen des Klimawandels leiden, bedeutet nicht, dass sie im gleichen Ausmass betroffen sind, wie Armutsbetroffene und andere Risikogruppen. Das bestätigt die Studie „Vulnerability to Heat-related Mortality“ der Universität Montreal. Sie zählt Risikogruppen für extreme Hitze auf: „[…] Ältere Menschen, Säuglinge und Kinder, Menschen mit chronischen Krankheiten, Menschen, die bestimmte Medikamente einnehmen, Menschen mit niedrigem SES (Sozioökonomischen Status) und Menschen in bestimmten Berufen“.
Mit „Menschen in bestimmten Berufen“ sind körperlich arbeitende Menschen gemeint und weniger das oberste Prozent, das im Privatflieger umher jettet. Dass der Anteil Armutsbetroffener unter den chronisch Erkrankten überproportional hoch ist, ist ebenfalls bekannt. Dazu sind auch Wohnungslose in Westeuropa einem erhöhten Risiko für Hitzetod ausgeliefert.
Daraus folgt: Arme Menschen, egal ob im Süden oder im Norden, sind dem Klimawandel und seinen tödlichen Folgen stärker ausgeliefert als reiche Menschen. Arme Menschen im globalen Süden sind dabei aber noch stärker gefährdet als Armutsbetroffene im Norden. Denjenigen, die hierzulande an Hitze sterben, hilft diese Unterscheidung allerdings nicht weiter.
Ungleiche Betroffenheit
Wenn journalistische Texte es nicht schaffen, diese ungleiche Wirkung der Hitzekrise akkurat zu analysieren, dann entpolitisieren sie die Meldungen über Hitzetote. Nach dem Motto: War halt warm und ja, das hat irgendwie mit uns Menschen zu tun. Wer so arbeitet, verschleiert die ungleiche Betroffenheit von den Folgen der Klimakatastrophe und spielt den Profiteuren einer abwartenden Politik in die Hände. Jenen, die sagen, in Sachen Klima sässen wir ja alle im selben Boot und alle müssten mitgenommen werden.
Viele Journalist*innen grosser Medien kommen sich – so scheint es – bereits politisch vor, wenn sie über den menschengemachten Klimawandel schreiben. Zu einer politischen Analyse gehört aber auch dazu, die Verantwortlichen sowie die Leidtragenden zu benennen.
Zurück zu Mayrs Text in der ZEIT. Sie schreibt dort auch: „Zwar lässt sich mit Geld ein neues Haus kaufen, ein Grundstück, eine Klimaanlage. Aber zu suggerieren, Reiche seien von der Klimakrise gar nicht betroffen oder könnten sich von ihren Auswirkungen abschirmen, sorgt dafür, dass sich wohlhabende Menschen fälschlicherweise unverwundbar fühlen.“
Aus dem einen Gedanken („Arme werden stärker unter der Erderwärmung leiden als Reiche“) die Behauptung aufzustellen, das suggeriere „Reiche seien von der Klimakrise gar nicht betroffen“, ist tendenziös. Neben den inhaltlichen Fehlern in ihrem Text muss es aber auch um den Punkt an sich gehen, den Mayr nicht allein für sich gepachtet hat: Die Behauptung, dass man die ökologische und die soziale Frage nicht zusammendenken müsste.
Natürlich ginge es, beide Probleme nicht zusammenzudenken. Das ist dann jedoch nichts weiter als survival of the fittest – der Stärkere gewinnt. Wer genug Geld hat, schirmt sich ab. Auch wenn das die Lösung ist, die viele westliche Länder gerade für praktikabel halten – eine linke Lösung sieht anders aus. Kämpfen wir für sie!
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