Es ist ein ruhiger Sommerabend auf der Berner Schützenmatte. In der Reitschule, deren Areal nur die Pfeiler der Eisenbahnbrücke von der „Schütz“ trennen, ist während der Sommerpause nicht viel los. Weit weniger Menschen als üblich überqueren den Platz. Trotzdem befinden sich um 19 Uhr, als es nicht mehr ganz so heiss ist, bereits um die 30 Personen auf der etwa viertausend Quadratmeter grossen betonierten Fläche.
Einige stehen in kleinen Gruppen herum, andere sitzen auf Bänken oder Betonklötzen auf dem Platz und unterhalten sich, rauchen, trinken Kaffee. In der Halfpipe unter der Brücke sind ein paar Skater zugange, ein paar weitere spielen Pingpong und Basketball. Einer von ihnen, ein grosser Mann, der ein Cap mit der Aufschrift „Los Angeles Basketball“ trägt, wird sich später als Carotiño* vorstellen.
Vor einem offenen Container sitzen einige Menschen an einem langen Holztisch und schneiden Tomaten, Zucchetti und Zwiebeln in kleine Stücke. Hier befindet sich das Gemeinschaftszentrum Medina. Und hier wird an diesem Abend für die Leute auf dem Platz gekocht. Die Aufsicht darüber hat Sakina, die den Helfer*innen sagt, was sie mit den Zutaten machen sollen.
Die Leute am Tisch unterhalten sich während des Schnippelns auf Französisch und Deutsch: Ein Schweizer, der von der Sozialhilfe lebt, erzählt von seinem Leben, andere reden über kulinarische Spezialitäten verschiedener Regionen.
Sakina leert eine kleine Plastiktüte voller Chilis auf den Tisch. „Nicht so viele bitte!“ fleht Carotiño, er vertrage kein scharfes Essen. Er macht gerade eine kurze Pause vom Basketball-Spiel und hat sich an den Tisch gesetzt, um ein paar Worte zu wechseln. Ihn kennen hier alle, er ist seit den Anfängen von Medina dabei. „Wenn ich nichts anderes zu tun habe, dann komme ich“, meint er. Ab und zu könne er schwarz Gartenarbeit machen, dann fehle er auf der Schütz. Legal darf der 29-Jährige aus Dschibuti in der Schweiz gar nichts – nicht einmal hier sein. Sein Asylgesuch wurde abgelehnt. Nach einigen Minuten kehrt Carotiño zum Basketballkorb zurück.
So friedlich, wie an diesem Donnerstag, ist es hier nicht immer. Drogendeals, Schlägereien, Raubüberfälle, Polizeirazzien: In den Medien wird nicht ohne Grund fast ausschliesslich mit dem Zusatz „sozialer Brennpunkt“ über die Schützenmatte berichtet.
Die Ursachen dafür liegen unter anderem in der staatlichen und städtischen Politik und haben auch mit der unmittelbaren Nähe der Schützenmatte zum Bahnhof, der Reitschule und der einzigen Drogenanlaufstelle der Stadt zu tun. Es sind keine neuen Probleme – viel mehr bestehen sie seit Anfang der 90er Jahre. Zu den politischen und städtischen Zusammenhängen äusserten sich Reitschüler*innen schon vor über zehn Jahren.
Zwar machte die Stadt seit 2014 zunächst mit einem Pilotprojekt, später mit verschiedenen Zwischennutzungen, die irgendwann einer langfristigen Umgestaltung weichen sollen, nach und nach den zahlreichen Parkplätzen auf der Schützenmatte den Garaus. Kultur‑, Freizeit- und Gastroangebote, die von motivierten Menschen betrieben wurden, sollten den Platz während des Sommers beleben und so die Probleme von Drogendeal und Kriminalität quasi von alleine lösen – so die Idee. Ganz so einfach gestaltete sich die Sache in der Realität allerdings nicht.
„Stadt wollte beruhigen – passiert ist das Gegenteil“, so oder ähnlich titelten 2019 verschiedene lokale und nationale Medien, als die Gewaltvorfälle trotz der Belebungsstrategie nicht bloss nicht verschwanden, sondern sogar noch zunahmen.
Das Bedürfnis, etwas zu verändern
In diesem Umfeld, in dem sich auch viele abgehärtete Nachtschwärmer*innen nicht mehr wohl fühlten, entstand Medina: zunächst eine Initiative von Personen aus unterschiedlichen Kreisen, deren Gemeinsamkeit es war, sich öfters auf der Schützenmatte aufzuhalten. „Die gemeinsame Nutzung des Platzes, die unhaltbaren Zustände dort, das Bedürfnis, etwas zu verändern und der Glaube an eine Welt, in die viele Welten passen: Dies waren die Motive, die zur Gründung von Medina führten“, schreibt eines der Gründungsmitglieder auf Anfrage von das Lamm.
„Sie haben einfach angefangen, Suppe und Kaffee zu kochen und auf dem Platz zu verteilen“, sagt Marla zu dieser Anfangszeit, in der sie selbst noch nicht im Kollektiv war. Sie sitzt an einem Donnerstag im Juli vor dem Container am Holztisch, an dem auch an diesem Abend eine grosse Menge Gemüse verarbeitet wird. Soeben hat ein Gewitterregen eingesetzt. Etwa zwanzig Leute drängen sich unter das kleine angebaute Vordach und in den Container, der nebst dem Stimmengewirr aus verschiedenen Sprachen zusätzlich von kurdischer Hochzeitsmusik beschallt wird. Man wartet darauf, dass das Essen fertig wird.
Marla stiess ein Jahr nach der Gründung, mitten in der Pandemie, zum Kollektiv dazu. Da steckte das Projekt zwar noch „in den Babyschuhen“, wie es die Sozialarbeiterin nennt, hatte sein Angebot aber ausgeweitet und bot an drei Tagen die Woche eine warme Mahlzeit an.
Obwohl die Mitglieder des Kollektivs mittlerweile auch Menschen im Umgang mit den Behörden beraten, Beschwerden in Asylverfahren schreiben oder manche Personen bei der Lehrstellensuche unterstützen – die Zubereitung der Mahlzeiten ist nach wie vor die Hauptaktivität von Medina. Donnerstag- und freitagabends wird um den Container herum gekocht. Wer auf dem Platz ist und Lust hat, hilft mit.
Damit ein geniessbares Menü für die 30–80 Personen entsteht, die hier pro Abend zum Essen erscheinen, hat jeweils eine Person oder Gruppe das Sagen. Heute ist es Sakina. Das Gericht, das unter ihrer Regie und aus den grossen Mengen geschnittenen Gemüses hervorgeht, ist „Riz Gras“: ein Reiseintopf, wie er in Burkina Faso gerne gegessen wird.
Soeben hat die 31-Jährige einen Deckel auf die riesige Wokpfanne gelegt, in der alle Zutaten auf dem Feuer des Gaskochers vor sich hin köcheln. Sakina lebt eigentlich in Zürich, fühlt sich dort aber nicht wohl. „In Zürich kenne ich niemanden und bin meistens allein.“ Deswegen sei sie lieber hier. „Ich möchte in Bern bleiben, auch um hier öfters zu kochen.“
Doch wieso eigentlich kochen? Wieso hatten die Initiant*innen von Medina das Gefühl, Essen würde gegen die Gewalt auf dem Platz helfen?
Einerseits, ganz simpel, weil Menschen Hunger haben. „Viele Leute auf dem Platz leben in unglaublich prekären Situationen“, sagt Marla. „Sie sind oft gleich mehrfach von Diskriminierung betroffen oder haben zusätzlich ein Suchtproblem.“ Doch das gemeinsame Kochen und Essen ist mehr als die Befriedigung nur eines der menschlichen Grundbedürfnisse. „Die Idee war, hier eine Anlaufstelle, einen Treffpunkt zu schaffen. Einen Ort, an den man kommen kann, um mit anderen zu essen, zu reden, sich kennenzulernen und zu vernetzen“, sagt Marla. Kurz: Ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen und so die Stimmung auf dem Platz zu verbessern.
Wie eine Familie
„Die Leute, die hierherkommen, sind nett“, sagt Sakina, die immer noch neben der Pfanne steht. Soeben erscheint eine ältere Frau neben der Pfanne und erkundigt sich, ob man schon essen könne. „Pas encore“, sagt Sakina, noch nicht. Es rieche schon auf dem ganzen Platz, meint die Frau freudig und setzt sich zum Warten auf eine Bank.
Sakina kennt auf dem Platz schon viele, ein paar Leute begrüssen sie mit Namen. Man rede miteinander und versuche, Dinge zu teilen, sagt sie und fügt hinzu: „Es hat hier Leute mit ganz unterschiedlichen Problemen.“ Sie selbst habe „ein Problem mit Dublin“. 2022 kam Sakina in die Schweiz, wo sie einen Antrag auf Asyl stellte. Weil sie mit einem Visum für Spanien nach Europa gelangte, muss sie bis im Frühjahr nächsten Jahres warten, bevor sie in der Schweiz erneut ein Gesuch stellen kann. In ihrem Heimatland Burkina Faso sei das Leben sehr schwierig. „Vor zwei Tagen habe ich mit meiner Mutter telefoniert. Sie sagte, dass in der Nähe von ihrem Haus eine Bombe explodiert ist und dass sie Angst hat.“
Abgesehen von Menschen mit Suchterkrankungen und solchen ohne Wohnsitz haben viele der mindestens 30 Stammgäste bei Medina Fluchterfahrungen. Einige befinden sich noch im Asylprozess, andere müssten das Land eigentlich verlassen. „Es kommen Leute zu uns, die in den Zentren leben, aber auch solche, die aus Zentren abgehauen und untergetaucht sind, weil sie es da nicht mehr aushielten“, erzählt Marla.
Einer, der in einem Zentrum lebt, ist Mar-Said*. Jede Woche fährt er von der Berner Gemeinde Gampelen, wo sich seine Asylunterkunft befindet, nach Bern. „Medina zahlt mir das Ticket für den Zug“, sagt Mar-Said. Seit vier Jahren ist der aus Marokko stammende Mann in der Schweiz. Während dieser Zeit hat er ausschliesslich in Asylzentren gelebt.
Wieso er so oft hierher komme? „Wenn ich hier bin, dann spüre ich, dass ich eine Person bin, dass ich existiere“, sagt Mar-Said und fügt an: „Hier ist es wie bei einer Familie.“ Auf der Schützenmatte werde er ab und zu von Polizist*innen kontrolliert, die seine Papiere sehen wollen. Er sage ihnen dann jeweils: „Ich bin mit Medina.“ Das erfülle ihn mit Stolz.
Stolz kann auch der Verein sein: Für sein Engagement während der Pandemie wurde Medina 2020 nebst zwei anderen Projekten mit dem Sozialpreis der Stadt Bern ausgezeichnet. Im Normalfall erhält das Kollektiv keine öffentlichen Mittel und finanziert sich über Spenden. Die Kollektivmitglieder, die Schichten an den Abenden übernehmen oder Leute beraten, arbeiten alle ehrenamtlich.
„Ich arbeite achtzig Prozent, mit Medina kommen nochmal zwanzig bis vierzig Prozent dazu“, sagt Marla über ihr Engagement im Kollektiv. Professionalisieren und Löhne zahlen, das stehe aktuell nicht zur Debatte. Es ginge sowieso nicht anders, meint Marla, weil man bei Medina vielfach mit Menschen arbeite, die es – ginge es nach dem Staat – gar nicht geben dürfte. Und auch persönlich findet sie es gut so: „So sind wir unabhängig und es gibt keine Bürokratie.“
Nicht alle im basisdemokratischen Kollektiv sind wie Marla ausgebildete Sozialarbeiter*innen. „Bei uns gibt es Lehrerpersonen, Automechaniker*innen oder ehemalige Köch*innen.“ Was alle der rund 15 Mitglieder des Kollektivs eint, ist der Wunsch, sich aktivistisch zu betätigen. Und gemeinsame Werte, wie etwa Menschen „auf Augenhöhe und vor dem Hintergrund einer systemkritischen Haltung“ unterstützen zu wollen, wie es im Jahresbericht 2022 heisst.
Die Hauptkritik des Kollektivs gegenüber der Politik bezieht sich abgesehen von der Drogenpolitik insbesondere auf den Umgang mit asylsuchenden Menschen, so Marla. „Die Bedingungen in den Rückkehrzentren, die fehlende finanzielle Unterstützung, die Repression gegen diese Menschen, das Racial Profiling und dass ihnen vom System alles verunmöglicht wird.“ Bei Medina zeige sich, dass die sogenannte Integration in die Gesellschaft auch anders, also ohne Assimilierungszwang an die Mehrheitskultur, funktionieren kann.
Medina leistet wichtige Arbeit
Wie wird die Arbeit von Medina von aussen wahrgenommen? Der Sozialpreis, den der Verein von der Stadt erhielt, spricht für sich – doch verschwanden durch die Präsenz des Gemeinschaftszentrums nicht einfach alle Probleme auf dem Platz. Gedealt wird etwa nach wie vor und auch zu Raubüberfällen kommt es immer mal wieder. Allerdings in der Regel nicht während der Öffnungszeiten von Medina.
Kevin Liechti sagt, das Gemeinschaftszentrum leiste wichtige Arbeit auf dem Platz. Er ist bei der Stadt gemeinsam mit Christoph Ris für die Koordination und Bewartung des Platzes zuständig. Doch auch davon abgesehen habe sich in letzter Zeit einiges getan auf der Schütz: „Durch Massnahmen wie den Sicherheitsdienst, Sanierungsarbeiten und die Bemalung der Brücke wurde der Platz spürbar beruhigt“, so Liechti. Anfang August startete zudem das Pilotprojekt eines Rückzugsraums, der Personen, die Gewalt erfahren oder sich in schwierigen Situationen befinden, erste Hilfe bietet.
Als das Essen fertig ist, wird Carotiño gebeten, die Leute zu rufen. Die Glocke, die normalerweise zu diesem Zeitpunkt geläutet wird, ist kaputt. „Essen, manger, mangiare!“, schreit er und übertönt mit seiner lauten Stimme den Afrobeats-Sound, der aus einer Box dröhnt. Sofort bildet sich eine Schlange vor dem Kochtopf. Während nach und nach alle mit Essen beschäftigt sind, werden die Gespräche weitergeführt. „Sehr gut“, „très bon“ sei das Essen, Sakina lächelt stolz.
Als die Pfanne restlos geleert ist, sitzen Carotiño, Sakina und Mar-Said kurz gemeinsam am Holztisch. Die Frage, ob Medina Erfolg hat, erübrigt sich, wenn man sich mit den drei unterhält und ihnen zuhört, wie sie auf Französisch zusammen sprechen und scherzen. Carotiño bringt es schliesslich auf den Punkt: „Ich wäre sehr froh gewesen, wenn es Medina schon gegeben hätte, als ich vor acht Jahren in die Schweiz kam.“
* Namen von der Redaktion geändert
Einen tollen Text über die Schützenmatte und ihre Geschichte und Gegenwart haben unsere Kolleg*innen vom KSB Magazin vor ein paar Jahren geschrieben: https://www.ksb.ist/doc/partizip-blues
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 30 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1820 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 1050 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 510 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?