„Ich ficke alles!“ Das klingt obszön und unangemessen, oder? Hinter diesem Ausruf, der auf das Kürzel einer Graffiti-Crew meiner Heimatstadt zurückgeht, steckt jedoch das Verhältnis eines Teils der unteren Klasse zur Welt. Die Regel lautet, je weniger einem bleibt, desto notwendiger die eigene Überhöhung, desto stärker der Durst nach Anerkennung oder Rache.
„Ich ficke alles“ – obwohl ich diese drei Wörter nun erklärt und sie in einen Kontext gebracht habe, dürfte bei manchen, die das hier lesen, eine Befremdung bestehen bleiben. Ein Fremdeln mit derlei Sprache. Es bleibt, und das geht selbst mir so, ein Rest Obszönität an diesem Ausruf haften. Das hat weniger mit den drei Worten an sich zu tun als mit dem gesellschaftlichen Kontext, in dem sie geäussert werden.
Wenn ich diese Zeilen vor zehn Jahren zwischen zwei Joints im Park, umgeben vom Geruch von Dosenlack und schalem Bier geäussert hätte, läge der Fall anders. Wer aus der Armutsklasse kommt und selbst ein antagonistisches Verhältnis zur Welt hat, der reagiert nicht verwundert, wenn jemand absichtsvoll Rachegedanken äussert.
Denn das ist „Ich ficke alles“ – ein Rachegedanke. Es ist eine Rache an einer Welt, die passgenau zugeschnitten auf die Bedürfnisse des Bürgertums ist, während sie weite Teile der Bevölkerung ausschliesst. „Ich ficke alles“ ist der Ausdruck eines gesunden Trotzes jener, die nicht zum selbstwirksamen Teil der Armutsklasse zählen, der mit seinem eigenen Vorankommen beschäftigt ist.
Zwischen der „Ich ficke alles“-Fraktion und dem Gefühl, das dieses Wort bei denjenigen hervorruft, die gesellschaftlich über dieser Fraktion positioniert sind, verläuft die Ästhetik des Bürgertums. Das klingt kompliziert. Also nochmal neu: Das, was sich zwischen das Verstehen und der Aneignung der Wahrheit des Ausdrucks „Ich ficke alles“ schiebt, ist die Moral. Und sie ist eine bürgerliche Erfindung.
„David gegen Goliath“ ist hier Programm: Olivier David gegen die Goliaths dieser Welt. Anstatt nach unten wird nach oben getreten. Es geht um die Lage und den Facettenreichtum der unteren Klasse. Die Kolumne dient als Ort, um Aspekte der Armut, Prekarität und Gegenkultur zu reflektieren, zu besprechen, einzuordnen. „David gegen Goliath“ ist der Versuch eines Schreibens mit Klassenstandpunkt, damit aus der Klasse an sich eine Klasse für sich wird. Die Kolumne erscheint ebenfalls als Newsletter.
Der Trick der Moral
So redet man nicht, so artikuliert man sich nicht. Es gibt die viel beschworenen „feinen Unterschiede“, die der Soziologe Pierre Bourdieu aufgedröselt hat, in dem er aufzeigt, welche kulturellen Codes für welches Milieu gelten. Und diese Regeln dienen der Absicherung, dass Menschen, die sich nicht an sie halten, in den eigenen (heisst: besseren) Kreisen nichts zu suchen haben. Je höher das gesellschaftliche Milieu liegt, in dem man verkehrt, desto unwahrscheinlicher, dass einem ungestraft ein beherztes „Ich ficke alles“ über die Lippen rutschen darf.
Wer die Ungerechtigkeit der Welt mit Moral bekämpft, kämpft für eine selbstgefällige, inhaltsleere Gesellschaft.
Auf dem letzten Schriftsteller*innenkongress der DDR spricht der kommunistische Schriftsteller Ronald M. Schernikau über die Fallstricke der Moral – und man hat den Eindruck, dass proportional mit jedem Jahrzehnt, das seit der Rede vergangen ist, die Richtigkeit seiner Worte zunimmt. Schernikau sagt:
„Der Westen hat, und das ist ein so alter Trick, die Moral eingeführt, um über Politik nicht reden zu müssen. Moral, weil sie unter allen möglichen Standpunkten ausgerechnet den herzzerreissenden wählt, macht sich selber handlungsunfähig; deshalb ist sie so beliebt. Einen Vorgang moralisieren heißt, ihm seinen Inhalt nehmen.“
Und Schernikau hat recht. Wer die Ungerechtigkeit der Welt mit Moral bekämpft, kämpft für eine selbstgefällige, inhaltsleere Gesellschaft. Wir sehen, wie Erwerbslose gegen prekär beschäftigte Lohnabhängige unter dem Banner der Moral ausgespielt werden, wenn – wieder einmal – gesagt wird, dass die Sozialhilfe nicht steigen darf, weil es sonst keine Arbeitsanreize für Geringverdienende gebe.
Anstatt die Sozialhilfesätze zumindest an die gesteigerten Kosten anzupassen, wird über Moral gesprochen. Anstatt über eine faire Kindergrundsicherung zu sprechen, wird darüber gestritten, ob Eltern nicht lieber Gutscheine bekommen sollten, weil man so garantieren könne, dass das Geld nicht versoffen werde.
Diese Gespräche haben eine herrschaftsstützende Funktion, die Schernikau als „Handlungsunfähigkeit“ benennt. Bei aller berechtigter Kritik am Kurs der progressiven Teile der Gesellschaft muss eine Linke universalistisch an der Seite aller Menschen in Not stehen. Sonst kann sie, um im Sprachbild zu bleiben, sich ficken gehen. Oder etwas akademischer ausgedrückt: Ansonsten schafft sie sich ab.
Paradoxien des Spätkapitalismus
Wenn wir jeden politischen Vorgang moralisch aufladen, geht es dabei um die Abgrenzung gegenüber Anderen: anderen Linken, dem Rest der Gesellschaft und so weiter. So kriegen wir als gesellschaftliche Linke nur keine Mehrheiten organisiert. Vermutlich, und hier greift mein Pessimismus, ist das von manchen Teilen der Linken nicht anders gewollt. Das Vorankommen des eigenen Projekts ist für viele wichtiger, als den grossen Antagonismus – Unten gegen Oben – zu bekämpfen.
Die Empörung vieler Linker dient der Selbstvergewisserung, nicht der besseren Umstände. Wer als Linke*r das Heil in der Differenz sucht, wird Vereinzelung ernten. Was es dagegen braucht, ist eine Politik der gemeinsamen Nenner. Der Soziologe Pierre Bourdieu benennt den Kampf gegen Diskriminierung als ein Phänomen jener Klassenfraktionen, die nicht ganz unten stehen und vor allem das eigene Vorankommen im Blick haben. Die hehre Idee des Kampfes gegen Diskriminierung ist Ausdruck des Kampfes von Klassenfraktionen auf dem Weg in die akademische Mitte.
Wer gegen Armut kämpft, muss eine Politik der Aufrechterhaltung des Reichtums bekämpfen. Wer für Bildungsgerechtigkeit kämpft, muss Klassenkämpfer*in werden.
Bourdieu schreibt: „Als vollkommenes Gegenstück zur ‚Politisierung‘, die persönliche Erfahrungen als unpersönliche, nämlich als Einzelfälle allgemeiner, einer Klasse gemeinsamer Erfahrungen behandelt, personalisieren ‚Moralisierung’ und ‚Psychologisierung‘ die Erfahrungen […].“
Und da sind wir inmitten der Paradoxien des Spätkapitalismus, in dem die Determinanten jeweils in einem anderen Feld liegen, als in dem Feld, in dem sie wahrgenommen werden. Anders gesagt: Wer unter Gewalt leidet und gegen sie ankämpfen will, kämpft gegen die Verhältnisse, die Gewalt produzieren. Der begreift Sexismus, Rassismus und Sozialchauvinismus als notwendige Herrschaftsfunktion – und bekämpft sie an der Wurzel.
Wer gegen Armut kämpft, muss eine Politik der Aufrechterhaltung des Reichtums bekämpfen. Wer für Bildungsgerechtigkeit kämpft, muss Klassenkämpfer*in werden. Ungleiche politische Systeme produzieren ungleiche Bildungssysteme, deren Daseinsberechtigung nicht die Bildung, sondern die Unterteilung von Schüler*innen in Klassen (nicht Schulklassen) ist. Das ist natürlich mühsam und möglicherweise wird man die Früchte des Erfolges selber nicht ernten können, aber es ist um einiges sinnvoller als der moralinsaure Kampf gegen die Windmühlen unserer Zeit.
In „Die unmögliche Kunst“ schreibt Geoffroy de Lagasnerie: „Wir müssen uns vor jenen Diskursen in Acht nehmen, die sich selbst als radikal darstellen, im Grunde aber nur dazu führen, dass man jegliches Handeln unterlässt“. Eine Politik und eine Linke, die jeden Diskurs mit Moral auflädt, wird genau diese Handlungsunfähigkeit befeuern – und sorgt damit dafür, dass sich die gesellschaftliche Linke weiter marginalisiert.
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