Die Fall­stricke der Moral

Wir erleben das Zeit­alter der Moral. Das Problem daran: Sie macht handlungsunfähig. 
Ein Mittelfinger gegen den erhobenen Zeigefinger. (Bild: Engin Akyurt/Unsplash)

„Ich ficke alles!” Das klingt obszön und unan­ge­messen, oder? Hinter diesem Ausruf, der auf das Kürzel einer Graf­fiti-Crew meiner Heimat­stadt zurück­geht, steckt jedoch das Verhältnis eines Teils der unteren Klasse zur Welt. Die Regel lautet, je weniger einem bleibt, desto notwen­diger die eigene Über­hö­hung, desto stärker der Durst nach Aner­ken­nung oder Rache.

„Ich ficke alles” – obwohl ich diese drei Wörter nun erklärt und sie in einen Kontext gebracht habe, dürfte bei manchen, die das hier lesen, eine Befrem­dung bestehen bleiben. Ein Frem­deln mit derlei Sprache. Es bleibt, und das geht selbst mir so, ein Rest Obszö­nität an diesem Ausruf haften. Das hat weniger mit den drei Worten an sich zu tun als mit dem gesell­schaft­li­chen Kontext, in dem sie geäus­sert werden.

Wenn ich diese Zeilen vor zehn Jahren zwischen zwei Joints im Park, umgeben vom Geruch von Dosen­lack und schalem Bier geäus­sert hätte, läge der Fall anders. Wer aus der Armuts­klasse kommt und selbst ein antago­ni­sti­sches Verhältnis zur Welt hat, der reagiert nicht verwun­dert, wenn jemand absichts­voll Rache­ge­danken äussert. 

Denn das ist „Ich ficke alles“ – ein Rache­ge­danke. Es ist eine Rache an einer Welt, die pass­genau zuge­schnitten auf die Bedürf­nisse des Bürger­tums ist, während sie weite Teile der Bevöl­ke­rung ausschliesst. „Ich ficke alles“ ist der Ausdruck eines gesunden Trotzes jener, die nicht zum selbst­wirk­samen Teil der Armuts­klasse zählen, der mit seinem eigenen Voran­kommen beschäf­tigt ist.

Zwischen der „Ich ficke alles“-Fraktion und dem Gefühl, das dieses Wort bei denje­nigen hervor­ruft, die gesell­schaft­lich über dieser Frak­tion posi­tio­niert sind, verläuft die Ästhetik des Bürger­tums. Das klingt kompli­ziert. Also nochmal neu: Das, was sich zwischen das Verstehen und der Aneig­nung der Wahr­heit des Ausdrucks „Ich ficke alles“ schiebt, ist die Moral. Und sie ist eine bürger­liche Erfindung.

„David gegen Goliath“ ist hier Programm: Olivier David gegen die Goli­aths dieser Welt. Anstatt nach unten wird nach oben getreten. Es geht um die Lage und den Facet­ten­reichtum der unteren Klasse. Die Kolumne dient als Ort, um Aspekte der Armut, Preka­rität und Gegen­kultur zu reflek­tieren, zu bespre­chen, einzu­ordnen. „David gegen Goliath“ ist der Versuch eines Schrei­bens mit Klas­sen­stand­punkt, damit aus der Klasse an sich eine Klasse für sich wird. Die Kolumne erscheint eben­falls als Newsletter.

Der Trick der Moral

So redet man nicht, so arti­ku­liert man sich nicht. Es gibt die viel beschwo­renen „feinen Unter­schiede“, die der Sozio­loge Pierre Bour­dieu aufge­drö­selt hat, in dem er aufzeigt, welche kultu­rellen Codes für welches Milieu gelten. Und diese Regeln dienen der Absi­che­rung, dass Menschen, die sich nicht an sie halten, in den eigenen (heisst: besseren) Kreisen nichts zu suchen haben. Je höher das gesell­schaft­liche Milieu liegt, in dem man verkehrt, desto unwahr­schein­li­cher, dass einem unge­straft ein beherztes „Ich ficke alles“ über die Lippen rutschen darf.

Wer die Unge­rech­tig­keit der Welt mit Moral bekämpft, kämpft für eine selbst­ge­fäl­lige, inhalts­leere Gesellschaft.

Auf dem letzten Schriftsteller*innenkongress der DDR spricht der kommu­ni­sti­sche Schrift­steller Ronald M. Scher­nikau über die Fall­stricke der Moral – und man hat den Eindruck, dass propor­tional mit jedem Jahr­zehnt, das seit der Rede vergangen ist, die Rich­tig­keit seiner Worte zunimmt. Scher­nikau sagt:

„Der Westen hat, und das ist ein so alter Trick, die Moral einge­führt, um über Politik nicht reden zu müssen. Moral, weil sie unter allen mögli­chen Stand­punkten ausge­rechnet den herz­zer­reis­senden wählt, macht sich selber hand­lungs­un­fähig; deshalb ist sie so beliebt. Einen Vorgang mora­li­sieren heißt, ihm seinen Inhalt nehmen.“

Und Scher­nikau hat recht. Wer die Unge­rech­tig­keit der Welt mit Moral bekämpft, kämpft für eine selbst­ge­fäl­lige, inhalts­leere Gesell­schaft. Wir sehen, wie Erwerbs­lose gegen prekär beschäf­tigte Lohn­ab­hän­gige unter dem Banner der Moral ausge­spielt werden, wenn – wieder einmal – gesagt wird, dass die Sozi­al­hilfe nicht steigen darf, weil es sonst keine Arbeits­an­reize für Gering­ver­die­nende gebe.

Anstatt die Sozi­al­hil­fe­sätze zumin­dest an die gestei­gerten Kosten anzu­passen, wird über Moral gespro­chen. Anstatt über eine faire Kinder­grund­si­che­rung zu spre­chen, wird darüber gestritten, ob Eltern nicht lieber Gutscheine bekommen sollten, weil man so garan­tieren könne, dass das Geld nicht versoffen werde.

Diese Gespräche haben eine herr­schafts­stüt­zende Funk­tion, die Scher­nikau als „Hand­lungs­un­fä­hig­keit“ benennt. Bei aller berech­tigter Kritik am Kurs der progres­siven Teile der Gesell­schaft muss eine Linke univer­sa­li­stisch an der Seite aller Menschen in Not stehen. Sonst kann sie, um im Sprach­bild zu bleiben, sich ficken gehen. Oder etwas akade­mi­scher ausge­drückt: Anson­sten schafft sie sich ab.

Para­do­xien des Spätkapitalismus

Wenn wir jeden poli­ti­schen Vorgang mora­lisch aufladen, geht es dabei um die Abgren­zung gegen­über Anderen: anderen Linken, dem Rest der Gesell­schaft und so weiter. So kriegen wir als gesell­schaft­liche Linke nur keine Mehr­heiten orga­ni­siert. Vermut­lich, und hier greift mein Pessi­mismus, ist das von manchen Teilen der Linken nicht anders gewollt. Das Voran­kommen des eigenen Projekts ist für viele wich­tiger, als den grossen Antago­nismus – Unten gegen Oben – zu bekämpfen.

Die Empö­rung vieler Linker dient der Selbst­ver­ge­wis­se­rung, nicht der besseren Umstände. Wer als Linke*r das Heil in der Diffe­renz sucht, wird Verein­ze­lung ernten. Was es dagegen braucht, ist eine Politik der gemein­samen Nenner. Der Sozio­loge Pierre Bour­dieu benennt den Kampf gegen Diskri­mi­nie­rung als ein Phänomen jener Klas­sen­frak­tionen, die nicht ganz unten stehen und vor allem das eigene Voran­kommen im Blick haben. Die hehre Idee des Kampfes gegen Diskri­mi­nie­rung ist Ausdruck des Kampfes von Klas­sen­frak­tionen auf dem Weg in die akade­mi­sche Mitte.

Wer gegen Armut kämpft, muss eine Politik der Aufrecht­erhal­tung des Reich­tums bekämpfen. Wer für Bildungs­ge­rech­tig­keit kämpft, muss Klassenkämpfer*in werden. 

Bour­dieu schreibt: „Als voll­kom­menes Gegen­stück zur ‚Poli­ti­sie­rung‘, die persön­liche Erfah­rungen als unper­sön­liche, nämlich als Einzel­fälle allge­meiner, einer Klasse gemein­samer Erfah­rungen behan­delt, perso­na­li­sieren ‚Mora­li­sie­rung’ und ‚Psycho­lo­gi­sie­rung‘ die Erfahrungen […].“

Und da sind wir inmitten der Para­do­xien des Spät­ka­pi­ta­lismus, in dem die Deter­mi­nanten jeweils in einem anderen Feld liegen, als in dem Feld, in dem sie wahr­ge­nommen werden. Anders gesagt: Wer unter Gewalt leidet und gegen sie ankämpfen will, kämpft gegen die Verhält­nisse, die Gewalt produ­zieren. Der begreift Sexismus, Rassismus und Sozi­al­chau­vi­nismus als notwen­dige Herr­schafts­funk­tion – und bekämpft sie an der Wurzel.

Wer gegen Armut kämpft, muss eine Politik der Aufrecht­erhal­tung des Reich­tums bekämpfen. Wer für Bildungs­ge­rech­tig­keit kämpft, muss Klassenkämpfer*in werden. Ungleiche poli­ti­sche Systeme produ­zieren ungleiche Bildungs­sy­steme, deren Daseins­be­rech­ti­gung nicht die Bildung, sondern die Unter­tei­lung von Schüler*innen in Klassen (nicht Schul­klassen) ist. Das ist natür­lich mühsam und mögli­cher­weise wird man die Früchte des Erfolges selber nicht ernten können, aber es ist um einiges sinn­voller als der mora­lin­saure Kampf gegen die Wind­mühlen unserer Zeit.

In „Die unmög­liche Kunst“ schreibt Geoffroy de Lagas­nerie: „Wir müssen uns vor jenen Diskursen in Acht nehmen, die sich selbst als radikal darstellen, im Grunde aber nur dazu führen, dass man jegli­ches Handeln unter­lässt“. Eine Politik und eine Linke, die jeden Diskurs mit Moral auflädt, wird genau diese Hand­lungs­un­fä­hig­keit befeuern – und sorgt damit dafür, dass sich die gesell­schaft­liche Linke weiter marginalisiert.


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Berühmt und brotlos

Unsere Kolumnistin maia arson crimew ist "die berühmteste Hackerin der Schweiz". Ihre aktivistische und journalistische Arbeit schlug international grosse Wellen. Trotzdem lebt sie am Existenzminimum – und so wie ihr geht es vielen Berühmtheiten heutzutage.