Hochsommer 2022: Für viele Menschen in der Schweiz ist es der erste Sommer ohne Pandemie. Doch im Checkpoint Genf, der lokalen Anlaufstelle für sexuell übertragbare Krankheiten, herrscht Ratlosigkeit. Die Affenpocken breiten sich seit Mai 2022 auf der ganzen Welt aus. Laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) sind Männer, die Sex mit Männern haben, sowie trans Personen mit wechselnden männlichen Sexualpartnern besonders betroffen.
„Unser Zentrum wurde überrannt”, erinnert sich Krankenpfleger Loïc Michaud. Viele Menschen fragten nach Informationen, doch selbst beim Checkpoint war unklar, wie sich die Krankheit ausbreitete und welche Therapien zu ihrer Behandlung angewendet werden könnten. Es fehlte an klaren Informationen durch staatliche Behörden. „Manche fühlten sich zurückversetzt in das Trauma, das die Aids-Pandemie bei uns auslöste”, erzählt Michaud.
Im Gegensatz zu Covid war Mpox, wie die Affenpocken inzwischen zur Vermeidung von Diskriminierung heissen, nicht omnipräsent in den Medien. Und im Gegensatz zu vielen Nachbarländern hatte die Schweiz im Sommer 2022 weder einen unterschriebenen Kaufvertrag für den Impfstoff, geschweige denn eine laufende Impfkampagne gegen Mpox in die Wege geleitet. Hierzulande musste die betroffene Community bis Mitte November auf die Impfung warten – mehr als vier Monate länger als in Deutschland oder Frankreich.
Warum war die Schweiz so spät dran? Was ist schief gelaufen bei der Beschaffung des Impfstoffs gegen Mpox? Um das zu beantworten, hat das Lamm zusammen mit dem Recherchekollektiv WAV, gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz, mehrere Einsichtsgesuche gestellt, hunderte Seiten Mails durchforstet und interne Dokumente des Bundes gesichtet.
Die Unterlagen zeigen nun erstmals: Die Behörden begannen früh mit den Bemühungen zur Impfstoffbeschaffung. Doch dann verzögerten sie den Prozess unnötig, mit verheerenden Folgen. Der Mailverkehr zwischen und innerhalb der involvierten Bundesämter offenbart Beunruhigendes: In der Schweiz sind Sommerferien augenscheinlich wichtiger als die Tatsache, dass eine stark ansteckende Krankheit eine marginalisierte Community bedroht.
Die Schweiz als europäisches Schlusslicht
Eine Ansteckung mit Mpox führt zu Hautausschlag mit stark schmerzenden Pusteln. Zudem kommt es häufig zu Fieber und teilweise auch zu Blutungen im Genitalbereich. In den ersten sechs Monaten des Auftretens der Krankheit zwischen Anfang Mai und Ende Oktober 2022 wurden weltweit über 80’000 Ansteckungen und 170 Todesfälle gezählt.
Dabei begann die Ausbreitung langsam. Im Mai 2022 zeigte sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstmals besorgt über den Krankheitsausbruch. Zwei Monate später, im Juli 2022, erklärte sie eine Notlage internationaler Tragweite. In der Schweiz wurde am 16. Mai 2022 der erste Fall gemeldet, den Höhepunkt erreichte die hiesige Ausbreitung Ende Juni mit 59 gemeldeten Fällen in einer Woche.
Weltweit wurden Impfkampagnen aus dem Boden gestampft. Dabei kam es den Verantwortlichen gelegen, dass normale Pockenimpfstoffe gegen Mpox wirksam waren. Am Ende kam ein Impfstoff des Herstellers Bavarian Nordic zum Einsatz, der in vielen Ländern bereits seit 2013 als Impfstoff gegen die normalen Pocken zugelassen ist.
Loïc Michaud vom Checkpoint in Genf erzählt, dass während im August bereits im wenige Kilometer entfernten Frankreich eine Impfkampagne am Laufen war, in der Schweiz noch nicht einmal feststand, wann eine solche überhaupt beginnen würde. “Die Menschen wussten nicht, was sie machen sollten. Wir sagten, der einfachste Weg, sich impfen zu lassen, wäre, nach Frankreich zu gehen und eine falsche französische Adresse anzugeben”. Dutzende sind laut Erzählungen diesem Vorschlag gefolgt.
Im August hatte die Schweiz noch immer keinen Fahrplan zur Impfstoffbeschaffung. Anfang des Monats war nicht einmal klar, welche Behörde dafür verantwortlich ist. Erst am 24. August legte das BAG dem Bundesrat ein Budget vor und schaffte so die Voraussetzungen, um Verhandlungen mit den Impfstoffherstellern aufzunehmen.
Für Florian Vock, Leiter Prävention der Aids-Hilfe Schweiz, war das viel zu spät. Gegenüber das Lamm sagt Vock, dass es eigentlich allen klar gewesen sei: Es benötige die Impfung, und zwar rasch. „Und es gab den Impfstoff ja bereits, das war keine Situation wie bei Corona“, fügt er an. Dass der Beschaffungsentscheid erst im August gefallen sei, sei daher unverständlich, so Vock. Für ihn ist klar: „Gesetzliche, bürokratische und föderalistische Hürden machten es unmöglich, rasch zu reagieren.“
Von vorbildlich zu verwirrt
Warum dieses Debakel? Ursprünglich reagierte das BAG rechtzeitig. Interne Mails, zu denen das Lamm und WAV Zugang erhalten haben, zeigen: Bereits Mitte Mai, kurz nachdem die WHO vor der Ausbreitung von Mpox gewarnt hatte, berieten sich BAG-Expert*innen in internen Mails über die Beschaffung eines entsprechenden Impfstoffs. Parallel dazu koordinierten sie das Meldeverfahren von Fällen, veranlassten präventive Massnahmen und diskutierten mit den kantonsärztlichen Diensten über die Isolationszeit von bestätigten Fällen. Es schien alles vorbildlich.
Die klassischen Pocken gelten als Kriegswaffe, weshalb viele Armeen Pockenimpfungen für den Ernstfall lagern. Das BAG fragte daher beim Armeestab nach, ob die Armeeapotheke noch Lagerbestände des Impfstoffs hätte – dieser verneinte. Das war am 20. Mai. Es gab zu diesem Zeitpunkt erst einen bestätigten Fall von Mpox in der Schweiz.
Der Armeestab meldete dem BAG aber auch zurück, dass man seit mehreren Jahren an der Beschaffung interessiert sei und nun gemeinsam mit dem BAG einen grösseren Kauf tätigen könne. Das sei praktischer und vor allem billiger. Es folgte ein kurzes Hin und Her über die Details.
Am 24. Juni steht fest: Das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) übernimmt die Verhandlungen mit den Herstellern und kauft Impfstoff für Armee und die Zivilbevölkerung. Dies bestätigt der Armeestab der BAG-Amtsvorsteherin Anne Lévy per E‑Mail. “Sehr geehrte Frau Direktorin BAG” beginnt die entsprechende Mail vom Armeestab an das BAG. Weiter: Man sei in Verhandlungen mit dem Hersteller Bavarian Nordic, diese „laufen gut“.
Es fehle nur die genaue Zahl benötigter Impfdosen vom BAG, dann würde der Beschaffungsantrag an die „C VBS“ (Die Mitte Bundesrätin Viola Amherd) geschickt. „Wir hoffen, dass dies in 1–2 Wochen der Fall ist“, fügt die Armeeapotheke an. Der Antrag werde noch im Juli behandelt, so das Versprechen. Der Armeestab versichert: „Wir sind an einer raschen Beschaffung interessiert.“ Die Kosten für die Versorgung der Zivilbevölkerung würde die Armee dem BAG in Rechnung stellen. Es schien alles aufgegleist. Auf Nachfrage bestätigt das BAG, über diese Entscheidung sei auch der Bundesrat informiert gewesen.
Doch während den folgenden Telefonkonferenzen zwischen dem BAG und dem VBS ändert das Tempo von Mal zu Mal. Anstatt von einem Antrag an die Departementsvorsteherin spricht das VBS jetzt nur noch von einer „Infonotiz“ und diese muss erst noch durch eine interne „Minikonsultation“, welche frühestens Ende Juli fertig sein werde. Ende Juli ist für das VBS nicht einmal mehr klar, wer den Bundesratsantrag überhaupt ausarbeitet.
Am 29. Juli schreibt ein BAG-Mitarbeiter kurz vor seinen Ferien in einer internen Update-Mail, es gebe keine Neuigkeiten seitens der Armeeapotheke. Diese habe geplante gemeinsame Sitzungen einfach abgesagt. Erst eine Woche später antworte der Armeestab dem BAG auf eine erneute Anfrage. Im Gegensatz zum Versprechen Ende Juni hiess es jetzt, man habe „die Chefin VBS“ noch gar nicht „offiziell über eine allfällige Beschaffung von Impfdosen für die Armee (inkl. eines Anteils für die Zivilbevölkerung) informiert“.
An der Telefonkonferenz zwischen VBS und BAG, die in der gleichen, ersten Augustwoche stattfindet, bestätigen sich die Befürchtungen des BAG: Die besagte „Notiz“ ist noch immer nicht an die Amtschefin versendet worden. Das VBS gibt nun zu Protokoll, es sei auf Seiten VBS noch nicht einmal besprochen worden, ob man den Impfstoff sowohl für das BAG als auch für die Armee beschaffen würde. Die Beschaffung sei ja offensichtlich „für die Armee nicht so dringlich wie für das BAG“, stellt das VBS fest.
Ausnahmezustand in den Sommerferien
Im BAG bricht langsam Nervosität aus, wie die internen Mails zeigen. Gearbeitet wird nun auch am Wochenende. Während die Armeeapotheke behauptet, die Finanzierung zur Impfstoffbeschaffung sei weiterhin nicht geklärt, übt die Presse Druck aus. Ein Artikel der Genfer Zeitung Le Temps legt die missliche Lage des BAG offen. Intern fragt man sich “Welche Expert/innen haben wir für den Bundesratsantrag angefragt? […] Welche Länder haben bereits wie viele Personen und wen geimpft? […] Wie sicher und wirksam ist der Impfstoff?”
Bis zur Bundesratssitzung vom 24. August – der Ersten nach den Sommerferien – muss das BAG nun selbst einen Antrag ausarbeiten, inklusive Budget. Intern werden Mails mit den nötigen Informationen umhergeschickt, während von fehlenden Ressourcen und fehlendem know-how gesprochen wird. Die Armeeapotheke tauscht ihrerseits selbst die Rolle und versucht jetzt über das BAG Impfstoff zu beschaffen und will dem Bundesamt sogar die Kosten für die Lagerung der eigenen Bestände auferlegen.
Das BAG schafft es, den Antrag rechtzeitig einzureichen. Am 24. August bewilligt der Bundesrat endlich 8.6 Millionen Franken für die Impfstoffbeschaffung. Zu diesem Zeitpunkt impften die Nachbarländer Frankreich und Deutschland bereits gegen Mpox. Die Schweiz nimmt ihrerseits erst jetzt erneut die Verhandlungen mit dem Hersteller auf. Zwei Monate nachdem das VBS dem BAG schriftlich zugesichert hatte: „Sehr geehrte Frau Direktorin BAG, die Gespräche mit Bavarian Nordic bezüglich Impfstoff laufen gut.“
Bis zur ersten Impfung vergehen nochmals mehr als zwei Monate. Die Verhandlungen mit Bavarian Nordic müssen geführt werden, der Import geregelt und die Logistik geklärt. Alles aufwendige Schritte, die vielleicht – ohne die fehlgeleitete Kommunikation – bereits einiges früher begonnen hätten.
Auf Anfrage bestätigt das BAG die Erkenntnisse, zumindest indirekt. Das BAG habe den Beschaffungsantrag ausgearbeitet, nachdem man Ende Juli gemeinsam mit der Armee festgestellt habe, dass die Beschaffung (unter der Armee) „nicht schnell genug voranschreitet“.
Das VBS dagegen sieht die Situation ganz anders: Der Kontakt mit dem Impfstoffhersteller Bavarian Nordic vor dem August seien keine offiziellen „Beschaffungsverhandlungen“ gewesen, sondern nur „allgemeine Abklärungen zum Impfstoff“, so das VBS auf Nachfrage. Darüber, dass und vor allem wieso das Dossier der Impfstoffbeschaffung plötzlich vom VBS zum BAG wechselte, verliert das VBS kein Wort. Es schreibt nur: „Inner- und interdepartementale Abstimmungen insbesondere in Bezug auf Menge, Zulassung und Finanzierung haben zu Verzögerungen geführt.“ Zudem habe man das BAG jederzeit über den jeweiligen Stand informiert.
Eine teure Verzögerung
Die gesichteten Mails deuten noch auf etwas Anderes hin: Der Impfstoffhersteller Bavarian Nordic scheint die weltweit grosse Anfrage ausgenutzt zu haben und verlangte im September im Vergleich zum Juni – als die Armeeapotheke erste Verhandlungen führte – einen deutlich höheren Preis für den Impfstoff. Jedoch waren die Verhandlungen mit Bavarian Nordic vertraulich, weshalb weder das BAG noch das VBS Nachfragen zu diesem Punkt beantworten.
Während sich das BAG zurücklehnte und auf eine Beschaffung durch die Armeeapotheke vertraute, verreisten deren Angestellte in die Ferien. Im BAG benötigte man knapp eineinhalb Monate, um das festzustellen und musste dann Hals über Kopf einen Finanzierungsantrag ausarbeiten.
Das hat funktioniert, doch das Kommunikationsblackout zwischen Armee und BAG über den Sommer hat die Verhandlungen mit dem Hersteller auf Feld eins zurückgeworfen. Nicht nur musste der Bund deswegen tiefer in die Tasche greifen. Die betroffene Community musste mehrere Monate länger auf eine Impfung warten.
Florian Vock meint abschliessend, den Behörden müsse bewusst werden: “Durch dieses Beschaffungsdebakel haben Gesundheitsämter viel Vertrauen verspielt.“ Das sei ein Problem, weil man in vielen Gesundheitsbereichen auf das Vertrauen der Community angewiesen sei. „Aber Vertrauen braucht die Verlässlichkeit durch Behörden. Viele schwule Männer sind enttäuscht.”
Diese Reportage wurde mit Unterstützung von JournaFONDS recherchiert und umgesetzt.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 72 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 4004 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 2520 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 1224 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?