Radi­kale Politik im Dialog mit sich selbst

Der links­re­vo­lu­tio­näre Anwalt Bernard Rambert vertrat Expo­nenten wie Brian Keller, Marco Camen­isch und RAF-Mitglieder. Ab 20. Februar zeigt der Doku­men­tar­film „Suspekt“ eine Zeit­reise durch die Schweizer Protest­ge­schichte und tritt in einen selbst­kri­ti­schen Dialog mit der linken Bewegung. 
Der Dokumentarfilm "Suspekt" zeigt das jahrzehntelange Engagement des Zürcher Anwalts Bernard Rambert für die linksextreme Bewegung. (Bild: zVg)

Die vermeint­lich neutrale Perspek­tive des einfa­chen Chro­ni­sten inter­es­siere ihn nicht, teilt Chri­stian Labhart gegen­über das Lamm mit. Das merkt man dem neuen Film des Schweizer Regis­seurs an. „Suspekt“ heisst das Werk, und es besteht im Wesent­li­chen aus einem langen Inter­view mit dem linken Zürcher Anwalt Bernard Rambert, gespickt mit Archiv­auf­nahmen zu seinen wich­tigen Fällen.

Rambert, der heute 77 Jahre alt ist, wurde über die Grenzen der Schweiz hinaus bekannt als Rechts­ver­treter linker und links­ra­di­kaler Aktivist*innen und ist selbst aktiv für die linke Sache. Er war Mitbe­gründer des Zürcher Anwalts­kol­lek­tivs und des Komi­tees gegen Isola­ti­ons­haft, aus dem später der Revo­lu­tio­näre Aufbau Zürich hervorging.

Die „nicht neutrale Erzähl­per­spek­tive durch­zu­ziehen“ ist für Labhart, wie er schreibt, „inso­fern ein legi­timer Entscheid, als er die unglei­chen Macht­ver­hält­nisse wider­spie­gelt, gegen die Bernard Rambert sein Leben lang gekämpft hat.“

Ein Über­blick über die linke Schweiz

Entspre­chend begegnet der Film Bernard Rambert und seiner Politik wohl­wol­lend, zuweilen aber auch etwas unkri­tisch. Hinzu kommt mit Julia Klebs eine Inter­viewerin, der man als Heraus­ge­berin des linken Wider­spruch-Maga­zins eben­falls eine gewisse poli­ti­sche Sympa­thie für Rambert zuschreiben darf. Das Ergebnis ist ein inter­es­santer, oft berüh­render Über­blick über die linke Schweiz am Beispiel der Biogra­phie eines ihrer wich­tigen Exponenten.

Brian Keller ist der Beweis, dass es linke Anwälte im Schweizer Justiz­sy­stem braucht.

Zu Beginn wie auch in den meisten folgenden Szenen sitzt Rambert in einem Atelier und beant­wortet die von Klebs gestellten Fragen mit würde­voller Gelas­sen­heit. Er spricht ruhig in die Kamera und setzt seine Gesten, ganz Anwalt, mit der Präzi­sion eines Menschen, der es gewohnt ist, kompli­zierte Sach­ver­halte vor kriti­schem Publikum zu verteidigen.

Die beiden Gesprächspartner*innen gehen chro­no­lo­gisch durch sein Leben und streifen alle wich­tigen Stationen linker Oppo­si­tion in der Schweiz, darunter auch einen Fall, den man in diesem Kontext viel­leicht gar nicht erwartet hätte: den Fall von Brian Keller. Auch ihn hat Rambert vertreten.

Zellen­um­schluss von Brian Keller in der JVA Pöschwies (Bild: zVg)

Dieser Einstieg ist gelungen, denn schon die kurze Szene mit Brian Keller – auch wenn sie leider kaum konkrete Infor­ma­tionen liefert – macht klar, was uns das alles heute noch sagen soll. Keller ist der Beweis, dass es linke Anwälte im Schweizer Justiz­sy­stem braucht. Sie waren es, die auch einem aus der bürger­li­chen Gesell­schaft Ausge­stos­senen zuge­hört haben, um grosses Unrecht zu beenden.

Das Private ist politisch

Wesent­lich ausführ­li­cher als den Fall von Brian K. beschreibt Rambert einen weiteren prägenden Moment seiner Biogra­phie. Sein Vater war Verwal­tungsrat der Elek­tro­watt AG und Mitver­ant­wort­li­cher auf der Stau­damm-Baustelle Matt­mark. Dort ereig­nete sich 1965 einer der schwer­sten Arbei­ter­un­fälle in der Geschichte der Schweiz. Bei einem Glet­scher­ab­bruch wurden 88 Menschen, darunter viele soge­nannte Gast­ar­beiter aus Italien, verschüttet und starben.

Labhart öffnet damit einen emotio­nalen Zugang zu radikal linker Politik, die sich sonst mit ihrer Theo­rie­la­stig­keit gerne selbst im Weg steht.

Schon damals war klar, dass die Arbei­ter­ba­racken niemals so dicht unter dem Glet­scher hätten errichtet werden dürfen. Trotzdem wurden die Verant­wort­li­chen, darunter auch Bernard Ramberts Vater, mit dem Argu­ment frei­ge­spro­chen, es hätte sich um eine Natur­ka­ta­strophe gehan­delt: Klas­sen­ju­stiz eben. Rambert fällt es offen­sicht­lich schwer, über Verant­wor­tung und Schuld seines eigenen Vaters zu spre­chen. Der geübte Rheto­riker gerät tatsäch­lich für einen Moment ins Stocken, eine starke Szene.

Wie hier, wech­selt der Film immer wieder gekonnt zwischen Politik und persön­li­chem Schicksal. Er macht aus Rambert einen nahbaren Prot­ago­ni­sten und öffnet damit einen emotio­nalen Zugang zu radikal linker Politik, die sich sonst mit ihrer Theo­rie­la­stig­keit gerne selbst im Weg steht.

Wie es war, dem Frei­spruch des Vaters beizu­wohnen, fragt Klebs. „Das hat mich persön­lich für ihn gefreut“, sagt Rambert im Bewusst­sein, dass den Arbei­tern damit jede Chance auf Gerech­tig­keit genommen wurde. „Das sind halt so die Wider­sprüche im Leben“, fährt er fort. Und es sind, möchte man anfügen, biogra­phi­sche Wider­sprüche, aus denen span­nende Filme gemacht werden. Labhart kommt seinem Prot­ago­ni­sten hier sehr nahe. Und das ist gut so.

Das Private bleibt problematisch

Proble­ma­tisch ist diese poli­ti­sche und emotio­nale Nähe zwischen dem Filme­ma­cher und seinem Prot­ago­ni­sten, wenn es um Fälle geht, die allzu sehr der Politik ihrer Zeit verhaftet bleiben. Dann wird aus der Nähe schnell eine etwas naive Kritik­lo­sig­keit, die auch Klebs mit ihren Fragen nicht wett­ma­chen kann oder will. Beson­ders deut­lich beim Thema Linksterrorismus.

Auf die Frage, was die Gründe revo­lu­tio­närer Gewalt im Europa der 60er und 70er-Jahre waren, spielt Rambert umständ­lich auf die Theorie von den NATO-Stay-Behind-Orga­ni­sa­tionen an. Das sollen von der NATO inof­fi­ziell unter­stützte Gruppen gewesen sein, die bei einem Einmarsch des Warschauer Pakts den Parti­sa­nen­kampf für die west­liche Ordnung zu leiten hatten. Bis dahin – so die Theorie – hätten sie zum Beispiel mit False-Flag-Opera­tionen gegen Links gekämpft.

Rambert wieder­holt die verbrei­tete These, diese Gruppen seien für Anschläge verant­wort­lich gewesen, die dann der mili­tanten Linken in die Schuhe geschoben wurden. Unab­hängig davon, ob es sich dabei um eine Verschwö­rungs­theorie handelt oder nicht, wirkt eine solche Behaup­tung aus dem Mund eines Links­ra­di­kalen wie einfache Schuldabwehr.

Der Film tut so, als wäre in den letzten Jahr­zehnten keine Aufar­bei­tung geschehen.

Hier versucht einer die Verant­wor­tung für viel Gewalt mit oft kruden Zielen auf eine dunkle Schat­ten­armee abzu­wälzen, um sich nicht mit den Verfeh­lungen der eigenen Leute ausein­an­der­setzen zu müssen. Etwa mit der anti­se­mi­ti­schen Stoss­rich­tung vieler Gewalt­ak­tionen in Deutsch­land – es sei an den Anschlag auf das jüdi­sche Gemein­de­haus in Berlin erin­nert –, oder den so sinn­losen wie verhee­renden Versu­chen der RAF, ihren Macho-Guru Andreas Baader freizubomben.

Kriti­sche Nach­fragen von Klebs oder doku­men­ta­ri­sches Mate­rial, das helfen könnte, einzu­ordnen und zu hinter­fragen, fehlen weit­ge­hend. Der Film tut so, als wäre in den letzten Jahr­zehnten keine Aufar­bei­tung geschehen.

Über Politik und poli­ti­sierte Justiz

Zum Glück bleiben derlei nost­al­gi­sche Verfeh­lungen in „Suspekt“ die Ausnahme. Meistens zeigt sich Rambert reflek­tiert und selbst­kri­tisch. Zum Beispiel, wenn der Film mit Marco Camen­isch einen von Ramberts bekann­te­sten Klienten aufgreift. An seinem Fall arbeitet das Team die inter­es­santen Aspekte der Funk­tion eines system­kri­ti­schen Anwalts heraus und unter­sucht die Fall­stricke und Problem­stel­lungen eines poli­tisch geführten Verfahrens.

Prozess­bild des Öko-Kämp­fers Marco Camen­isch 1993 in Italien (Bild: zVg)

Camen­isch, heute auch schon über siebzig, war Zeit seines Lebens Anar­chist. Er sass als mili­tanter Kern­kraft­ge­gener für mehre Anschläge auf Strom­ma­sten im Gefängnis, brach 1981 aus der Haft­an­stalt Regens­burg aus, tauchte unter, kam wieder in Haft. In Zusam­men­hang mit seiner Flucht wurde ein italie­ni­scher Zoll­be­amter erschossen. Rambert vertei­digte Camen­isch im Straf­ver­fahren gegen den Vorwurf, selbst den Abzug betä­tigt zu haben.

In Hinblick auf dieses Verfahren fragt Julia Klebs, ob ein Anwalt lügen darf. Eine inter­es­sante Frage, wenn man bedenkt, dass Rambert sich in seiner Anwalts­tä­tig­keit immer auch als Akti­vist versteht, der nicht nur für den Frei­spruch des Mandanten, sondern auch für seine eigene poli­ti­sche Wahr­heit kämpft.

„Ob ein Verfahren poli­tisch wird, entscheidet nicht der Anwalt, sondern die Strasse.“ 

Bernard Rambert

Wer würde da über­haupt lügen? Der Akti­vist? Der Anwalt? Und verliert die Politik ihre Glaub­wür­dig­keit, wenn der Anwalt im Namen seines Mandanten die Unwahr­heit sagt? „Das ist nicht lügen“, antwortet Rambert mit Blick auf die vielen kleinen Trick­se­reien und Auslas­sungen, derer sich ein Anwalt vor Gericht bedienen muss. „Es ist das Spiel der Justiz, das man bis zu einem gewissen Grad mitspielen muss.“ Rambert versucht gar nicht erst, sich das Dilemma schön zu reden.

Über­haupt liege das eigent­liche Problem poli­tisch moti­vierter Justiz­ar­beit ganz woan­ders. Denn ob ein Verfahren poli­tisch werde, entscheide nicht der Anwalt, sondern die Strasse. „Wenn ich allein mit meiner Mandantin vor Gericht stehe, sind wir zwei ein Nichts. Wenn aber draussen eine grosse Bewe­gung ist, dann findet eine poli­ti­sche Ausein­an­der­set­zung statt.“ Solche span­nenden Über­le­gungen zu Justiz, Politik und poli­ti­sierter Rechts­spre­chung beschäf­tigen auch nach dem Ende des Films weiter.

Das gleiche gilt für den Einblick in den Schweizer Fichen­staat. Rambert wurde vier­zehn Jahre lang von staat­li­chen Stellen über­wacht, seine Post wurde geöffnet, der Eingang zu seinem Büro gefilmt. Natür­lich geht diese bis ins Private reichende Bespit­ze­lung nicht spurlos an einem Menschen vorüber. Entspre­chend lässt der Film seinem Prot­ago­ni­sten viel Raum für die eigenen Gefühle und Befind­lich­keiten. Manchmal, sagt Rambert, wäre er gerne Last­wa­gen­fahrer geworden. Unter­wegs auf den Strassen Europas, schweigen, einsam sein. Man würde es ihm von Herzen gönnen.

Eine solche emotio­nale Nähe in einer Inter­view-Doku­men­ta­tion herzu­stellen ist eine grosse künst­le­ri­sche Leistung. Sie bleibt aber auch ein Problem. Denn der Film kommt seinem Prot­ago­ni­sten oft so nahe, dass er die poli­ti­schen und biogra­phi­schen Details, die für ein Verständnis der ange­schnit­tenen Fälle wichtig wären, aus dem Auge verliert.

Radi­kale Aufrich­tig­keit gegen Populismus

Trotzdem ist „Suspekt“ mehr als ein histo­ri­scher Abriss der Schwei­ze­ri­schen Protest­ge­schichte mit sympa­thisch nahbarem Personal. Das macht sich am Ende bemerkbar, wenn Julia Klebs kriti­scher wird und doch noch die links­ra­di­kale Gret­chen­frage stellt: Wie halten Sie’s mit der Gewalt?

Auch die Beset­zung des Bundes­platzes im Jahr 2020 durch den Klima­streik kommt im Doku­men­tar­film vor. (Bild: zVg)

Ramberts Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Ich verab­scheue Gewalt. Es gibt keine gute und schlechte Gewalt. Dem Opfer ist es egal, woher die Gewalt kommt.“ Nur um sich selbst gleich wieder in Frage zu stellen. Wahr­schein­lich, fährt er fort, lässt sich die Eigen­tums­frage in einer kapi­ta­li­sti­schen Gesell­schaft eben nicht ohne Gewalt klären.

Was das Publikum da miter­lebt, ist radi­kale Politik im Dialog mit sich selbst. Anders gesagt: Selbst­kritik, die nicht in alters­milde Libe­ra­lität mündet, sondern Fragen aufwirft und zu den Wider­sprü­chen steht. So kann Radi­ka­lität auftreten, ohne sich mit Popu­lismus und Lügen unan­greifbar zu machen, wie es auch der Linken nicht fremd ist.

„Suspekt“ zeigt, dass es anders geht. Was es dazu braucht? Linke Radi­ka­lität – und Personen, die bereit sind, ihre Über­zeu­gungen mit würde­voller Souve­rä­nität zu vertreten, ohne zu lügen, ohne zu beschö­nigen. Rambert macht’s – mit wenigen Ausnahmen – vor.


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