Im Mai 2009 ging einer der grausamsten Bürgerkriege der jüngeren Geschichte zu Ende. Auf Sri Lanka besiegte das Militär die separatistischen Tamil Tigers – um den Preis zehntausender ziviler Toter. Seitdem fordern Tamil*innen Aufarbeitung, darunter auch die Diaspora in der Schweiz. Doch bis heute hat das Land trotz offiziell herrschendem Frieden keinen Weg zu echter Gerechtigkeit gefunden.
Spätestens mit dem Sudan, der Ukraine und Gaza erleben wir eine Welt, in der Kriege, Aufrüstung und eine unsichere Zukunft für Menschenrechtsakteur*innen zur neuen Normalität des 21. Jahrhunderts geworden sind. Dabei geraten nicht nur Staaten und bewaffnete Gruppen unter Beschuss, sondern zunehmend auch internationale Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen, Journalist*innen oder gar Ärzt*innen.
Besonders die Wiederwahl von Donald Trump im Winter 2024 hat die Idee globaler Gerechtigkeit und menschenrechtsbasierter Politik weiter in die Ferne gerückt. Der Präsident der USA verkündete, dass sich das Land vom UN-Menschenrechtsrat zurückzieht, diesen nicht mehr finanziert und USAID, eine der weltweit grössten Entwicklungsorganisationen, auf ein operatives Minimum beschränkt. Über Nacht wurden nahezu alle USAID-Gelder eingefroren, und auch die UNO in Genf musste drastische Sparmassnahmen ergreifen.
In einer zunehmend antidemokratischen Welt, in der Aufrüstung und Krieg oft als alternativlos gelten, gerät die Aufarbeitung in den Hintergrund.
Auf der Insel Sri Lanka bedeutet der Förderstopp bei USAID das Ende vieler Entwicklungsprojekte. Ein Entminungsprojekt etwa, das im ehemaligen Kriegsgebiet des tamilischen Nordens Dutzende Mitarbeiter*innen beschäftigte, musste plötzlich eingestellt werden.
In dieser zunehmend antidemokratischen Welt, in der Aufrüstung und Krieg oft als alternativlos gelten, geraten Themen wie Aufarbeitung und „Accountability” immer weiter in den Hintergrund. Dabei sind sie gerade in aktuellen Kriegen und Krisen zentral – nicht nur, um mit dem Geschehenen umzugehen, sondern auch, um künftige Gewalt vorzubeugen. Die tamilische Erfahrung zeigt, welches transformative Potenzial in einer selbstbestimmten Aufarbeitungs- und Erinnerungsarbeit steckt.
Accountability bezeichnet die Rechenschaftspflicht etwa von Institutionen, Staaten oder Führungspersonen in rassistisch gestützten Machtpositionen für ihr Verhalten, um Verantwortung zu übernehmen und strukturellen Wandel herbeizuführen.
Der Genozid und fünfzehn Jahre Nachkriegszeit
Der Krieg zwischen der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) und der mehrheitlich singhalesischen Regierung Sri Lankas kam vor 16 Jahren zu einem blutigen Ende. Allein das Ausmass an Zerstörung der letzten fünf Monate im Jahr 2009 ist immens: Drei immer kleiner werdende „No Fire Zones“ wurden von der staatlichen Armee dennoch zerbombt und nahezu jegliche zivile Infrastruktur zerschmettert. Von Krankenhäusern, Schulen, Tempeln und anderen Einrichtungen war in den tamilischen Gebieten vor lauter Verwüstung kaum mehr etwas übrig. Nach Schätzungen der UN ermordete die singhalesische Armee 70’000 Tamil*innen. Ein Bericht des „International Truth and Justice Project” spricht sogar von 169‘796 Verstorbenen und Verschwundenen. Selbst durchgeführte Zählungen tamilischer Organisationen bestätigen vergleichbare Zahlen. Die Vereinigten Nationen attestieren Verstösse gegen das internationale Völker- und Kriegsrecht – und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Tamil*innen reden daher von einem Genozid, der auch in der offiziellen Friedenszeit seit 2009 weitergeht: über Unterdrückung von kultureller Identität, Überwachung politischer Praxis, Militarisierung, Besatzung und Landenteignung.

Die ersten 15 Nachkriegsjahre brachten – abgesehen von einem kurzen liberalen Aufbruch 2015 – vor allem rechts-nationalistische Präsidenten und Mehrheiten hervor, gestützt von der singhalesischen Bevölkerungsmehrheit. Tamil*innen, die massenhaft geflohen waren und nur rund 11 Prozent der Bevölkerung ausmachen, hatten bei Wahlen kaum Einfluss.
Ein 2024 an die Macht gekommenes unübliches Bündnis verspricht nun den grossen Wandel für alle: Das Parteien- und Bewegungsbündnis „National Peoples’ Power” (NPP) gewann die Präsidentschaftswahl letzten September und die Parlamentswahl im November. Und auch für die noch ausstehenden Lokalwahlen im Mai 2025 sind die Erfolgsprognosen gut.
Fatale Regierungspolitik
Die linken Wahlversprechen der NPP bestehen aus einem Zusammenspiel von einem sozialdemokratischen Programm, Anti-Korruption und Armutsbekämpfung. Ob sie zentrale tamilische Anliegen wie Selbstbestimmungsrechte und Aufarbeitung des Krieges aufgreifen, bleibt unklar. War der neue Präsident Anura K. Dissanayaka zwar in den marxistischen Jugendaufständen der 1980er-Jahren aktiv, vertrat er gleichzeitig einen nationalistischen Pro-Kriegskurs. Seine Partei JVP unterstützte 2008/2009 aktiv die militärische Offensive gegen die LTTE, die Tamil Tigers.
Seit der post-kolonialen Staatsgründung 1948 herrschte stets ein System der Ungerechtigkeit.
Mehr Hoffnung für Tamil*innen ruht deshalb auf der Premierministerin Harini Amarasuriya. Die Aktivistin und Hochschuldozentin ist als feministische Anthropologin in den Menschenrechtsbewegung der Hauptstadt Colombo vernetzt.
Amarasuriya, Dissanayaka und das NPP-Bündnis versprechen mit ihrem Sozialkurs zwar eine Verbesserung der Lebenslage für alle Bevölkerungsgruppen, doch bei der Aufarbeitung des Krieges bleibt die Regierung bislang beim altbekannten Abwehrkurs und lehnt unabhängige Untersuchungen ab. Für eine stabile Zukunft ist diese Politik fatal: Weder die anhaltende Militarisierung noch der Versuch, rassistisch-nationalistische Gewalt durch einseitige Narrative wegzuzaubern, konnten je ein demokratisches Zusammenleben herstellen. Seit der post-kolonialen Staatsgründung 1948 herrschte stets ein System der Ungerechtigkeit. Für echten Frieden auf der Insel müsste die Regierung endlich Aufarbeitung, „Accountability“ und Selbstbestimmungsrechte ernsthaft angehen.
Internationale Diaspora macht Druck
Die in der Schweiz lebende Diaspora der Tamil*innen ist mit der UN in Genf gut vertraut – der Menschenrechtsrat wurde zu einem wichtigen Raum der Nachkriegspolitik. Hier treffen sich neben Vertreter*innen der sri-lankischen Regierung und politischen Parteien auch tamilische und andere Minderheitenstrukturen, die Protestbewegung der Angehörigen der Verschwundenen, internationale NGOs und die Diaspora. Eine wichtige Rolle bei diesen Treffen spielt die Organisation People for Equality and Relief in Lanka (PEARL), deren Mitglied Sahithyan Thilipkumar regelmässig Diplomat*innen und UNO-Institutionen berät.
„Gerade für uns Staatenlose ist die internationale Ebene wichtig, um kollektive politische Lösungen zu erarbeiten.”
Sahithyan Thilipkumar, Mitglied der Organisation People for Equality and Relief in Lanka
Sahithyan Thilipkumar von PEARL gehört zur zweiten Generation der Tamil*innen in der Schweiz, die rund 60’000 Personen umfasst. In der Schweiz lebt – gemessen an der Bevölkerungszahl – die grösste tamilische Diaspora weltweit. Tamil*innen machen bei rund neun Millionen Einwohner*innen über 0,5 Prozent der Bevölkerung aus.
In absoluten Zahlen gibt es noch grössere Gemeinschaften in anderen Exilländern: In Kanada und Grossbritannien leben jeweils über 300‘000 Tamil*innen; in Frankreich und Indien je 100‘000 tamilische Menschen. Deutschland und Australien folgen mit 50‘000 bis 60‘000 Tamil*innen. Genaue Zahlen sind in diesen Kontexten schwer zu ermitteln, zumal die Community viele Jahrzehnte und Generationen der Flucht und Migration hinter sich hat. Insgesamt kann man aber von einer recht kleinen Bevölkerung von ungefähr 3.5 Millionen Tamil*innen weltweit ausgehen, wovon schätzungsweise ein Drittel ausserhalb der Insel im indischen Ozean lebt.
Tamil*innen leben als staatenlose Gemeinschaft also global verteilt, sind dabei aber kulturell gut vernetzt. Dies trifft ebenfalls auf ihr politisches Engagement zu. Der Aktivismus, der beispielsweise für die kollektiven Selbstbestimmungsrechte der Tamil*innen oder die Aufarbeitung der genozidalen Verbrechen 2008 und 2009 eintritt, wird im hohen Mass transnational organisiert.
Thilipkumar betont, dass die unermüdliche Öffentlichkeitsarbeit transnationaler tamilischer Bewegungen bewirkte, dass Sri Lanka im UN-Menschenrechtsrat unter „Item 2” fällt – eine seltene Einstufung für ein Land 16 Jahre nach Kriegsende. Item 2 bezeichnet den Bericht des UN-Menschenrechtsbüros zu weltweiten Menschenrechtslagen. Seit Sri Lanka darunter geführt wird, muss die UN regelmässig zur Lage im Land berichten – was den internationalen Druck auf die Regierung deutlich erhöht. „Gerade für uns Staatenlose ist die internationale Ebene wichtig, um kollektive politische Lösungen zu erarbeiten. Die UN ist einer der Orte, wo wir als Community und Organisation Zugang zu Vernetzung und diplomatischen Gesprächen haben. Das können wir strategisch nutzen”, so Thilipkumar.
Ein konkretes Ergebnis der unermüdlichen Öffentlichkeitsarbeit ist das 2021 gestartete Sri Lanka Accountability Project, das Beweise zu Menschenrechtsverbrechen sammelt und zukünftige Rechenschaftsprozesse vorbereiten soll.
Wer Tamil*in ist oder politisch anders denkt als die Regierung, hat nur sehr eingeschränkte Möglichkeit auf politische Teilhabe.
Tamilische Aktivist*innen beklagen jedoch die teilweise langen bürokratischen und undurchsichtigen Prozesse, die die Unterdrückung von Tamil*innen in Sri Lanka kaum verändern. Was bringt die aufwändige und kostspielige Zusammenarbeit mit der Genfer Institution wirklich, wenn keine Gerechtigkeit nicht in Sicht ist? Noch immer fehlt in Sri Lanka Handlungsspielraum für kritische Stimmen von Tamil*innen und Dissidenten. Die Repression im Land stützt sich auf einen rassistisch geprägten Mehrheitsnationalismus.
Thilipkumar beobachtet: Wer Tamil*in ist oder politisch anders denkt als die Regierung, hat nur sehr eingeschränkte Möglichkeit auf freie Meinungsäusserung, Versammlung und politische Teilhabe. Umso mehr müsse der Druck von der internationalen Gemeinschaft kommen.
Lokaler Protest und selbstbestimmte Erinnerungskultur
Kumanan Kanapathipillai arbeitet als Journalist und Medienfotograf in Mullaithivu – jener Region im Nordosten Sri Lankas, wo die rigorosen Verbrechen gegen die Menschlichkeit stattfanden und bis heute eine der weltweit grössten Militärpräsenz in Relation zur Population herrscht. Kanapathipillai ist hier im Krieg aufgewachsen. Seine Nachkriegs-Protestfotografien gingen in der transnationalen Community und darüber hinaus viral. Sie zeigen beispielsweise das tamilische Genozid-Gedenken im Mai, die Wut und Trauer der Angehörigen der Verschwunden oder Kämpfe gegen militärische Land-Okkupationen.
Seine Fotografien zeichnen ein klares Bild: Von Normalität oder Freiheit für alle kann auch Jahre nach Kriegsende keine Rede sein. Es existiert kaum eine tamilische Familie, die keinen kriegs- und fluchtbedingten Verlust einer geliebten Person erleben musste.
„Insgesamt gibt es aber eine hohe Verbindung zwischen der Diaspora und der tamilischen Heimat. Auch deshalb betraf der Förderungsstopp von USAID den Nordosten der Insel nicht so sehr. Hier sind Stimmen zu hören, die ohnehin einen kritischen Umgang mit solchen grossen Entwicklungsorganisationen fordern”, so Kanapathipillai. Viele sehen internationale Entwicklungsakteure durchaus kritisch – wegen Abhängigkeiten und interessenbasierter Einflussnahme.
Genau darin liegt das Potenzial: in einer selbstbestimmten Erinnerungskultur, in der Aufarbeitung den Weg zur globalen Gerechtigkeit ebnet.
Für Entwicklungsprojekte typisch sind sogenannte Projektlogiken: feste Zeitpläne, klar definierte Zwischenschritte, ausführliche Berichte und einen messbaren Abschluss. Doch solche standardisierte Vorgaben greifen oft zu kurz, um die komplexen Prozesse anzustossen, die einen nachhaltigen sozialen Wandel erfordern. „Letzten Endes geht es nicht darum, in fancy Hotels in der Hauptstadt Fortbildungen zu ermöglichen, sondern wirkliche Veränderung im Lebensalltag zu erwirken und dort aus der Vergangenheit zu lernen”.
Genau darin liegt das Potenzial: in einer selbstbestimmten Erinnerungskultur, in der Aufarbeitung nicht nur die Wiederholungsgefahr verkleinert, sondern den Weg zur globalen Gerechtigkeit ebnet. Sie verändert nicht nur direkt die Lebensrealität von Millionen Tamil*innen, sondern kann präventiv für andere post-koloniale Kämpfe wirken. Wenn man diese aufwendigen Strukturen aufbaut, wäre das eine Warnung an die weltweiten Befürworter*innen des aktuellen Kriegsregimes und gleichzeitig ein Aufruf für das unverzichtbare universelle „Recht, Rechte zu haben”, wie Hannah Arendt es in ihren Gedanken zu Macht und Staatenlosigkeit ausdrückt.
Diese Recherche wurde finanziell durch den Medienfonds „real21 — die Welt verstehen“ unterstützt. Wir danken!
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