Am 20. Juli feiere ich meinen Geburtstag. Und während wir ausgelassen Gin Tonics kippen, erreicht mich über die sozialen Netzwerke die Nachricht, dass Chester Bennington, der Frontsänger der Band Linkin Park, gestorben ist. Im Mai trauerte Bennington noch um seinen Freund Cornell, den Soundgarden-Sänger, und twitterte: „Ich kann mir keine Welt ohne dich vorstellen.“ Und jetzt hat auch er sich das Leben genommen: 41ig. Frau und Kinder. Am Geburtstag seines verstorbenen Freundes Chris Cornell, dem 20. Juli.
Meine Facebook-Timeline füllt sich mit R.I.P. und weinenden Smileys, alle posten Linkin Parks Überhit „In the End“ und betonen, dass mit Bennington ein Teil von ihnen selbst sterbe, die Jugend nämlich, die wir doch alle nur dank Linkin Park überlebt hätten.
Am 22. Juli posten mit mir auf Facebook befreundete Menschen auf mein Facebookprofil nur das Allerbeste nachträglich. Und Polo Hofer stirbt. Wer vorgestern noch „In the End“ als Lebenshmyne deklarierte, schwört fortan auf „Alperose“ und zeigt sich betroffen. Gerade meine Schweizer Facebookfreunde finden in irgendeiner Schublade ein Selfie mit Polo. Das teilen sie sofort, darunter steht dann Polos letzter Satz auf himmelblauem Hintergrund: „Tschou zäme, es isch schön gsy!“
Dann muss ich an Markus Werner denken und kriege ein furchtbar schlechtes Gewissen. Einmal, ein einziges Mal, habe ich meine Bestürzung über den Tod einer prominenten Person öffentlich gemacht. Als Werner starb, habe ich ein Zitat getwittert und Gabriel Vetters wunderbaren Nachruf auf Werner retweetet. Aber wenn einer nicht in die Öffentlichkeit gezerrt werden wollte, dann Werner. Ich wusste das. Und trotzdem habe ich mich darüber hinweggesetzt.
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Die sozialen Netzwerke als Ort der Trauerbekundung kennen wir von Prominenten, die sterben; die öffentliche Trauerbekundung gehört da inzwischen dazu. Aber oft geht es stärker darum, dass ich die erste bin, die postet oder twittert, dass eine Prominente verstorben ist. Frei nach: Ich habe die Pushmeldung vor dir gesehen! Mimimimi! Und ich war mehr Fan als du, imfall! Und wer dann am schnellsten den Artikel postet, der die genaueren Umstände erläutert, den lobt die Onlinegemeinde mit Likes.
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Am 24. Juli sitze ich am Flughafen und scrolle durch den Newsfeed. Zuerst sehe ich: Julia Meier hat auf einen Post reagiert. Mit einem weinenden Smiley. Erst dann lese ich: Eine junge Frau ist gestorben. Mein Jahrgang. Sie sei müde gewesen, schreibt ihre Familie. Ich vermute Suizid. Unter dem Post folgen Herzen, weinende Smileys und Smileys mit aufgerissenen Mündern. Und Hunderte Kommentare. Man will mehr wissen, will die Umstände kennen und postet Hits von Michael Jackson über Mariah Carey bis zur Bach-Air.
Ich kannte die junge Frau nicht, und mit Julia Meier bin ich nur flüchtig bekannt. Jetzt lese ich jeden der Kommentare und erfahre, wo die Abdankung stattfindet und dass sich die Frau wirklich das Leben nahm. Die Freunde, oder all jene, die auf Facebook als Freunde zählen, beraten, was man der Familie schenken könnte. Sie beschliessen: Eine Fotocollage soll es werden. Jeder schicke doch bitte ein Selfie von sich und der jungen Frau an die extra dafür eingerichtete Mailadresse. Eine ganz Flinke postet direkt ein Foto in die Kommentare und schreibt dazu, es sei nicht topaktuell, die Haare trage sie in der Zwischenzeit kürzer.
Das widert mich an. Und es befremdet mich, obwohl dieser Narzissmus heute so oft hingenommen wird auf den sozialen Netzwerken, aber natürlich gerade hier gezüchtet wurde.
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Kondoliert man so 2017? Als Pfarrerstochter habe ich zum Tod eine eigene Beziehung. Trauergespräche führen, aufgebahrte Tote sehen und die Grabrede schreiben – das war Vaters Arbeit. Oft konnten wir deswegen erst später als geplant in die Ferien, weil die Menschen immer dann starben, wenn wir im VW Golf losfahren wollten. Dann kriegte ich als kleines Mädchen cholerische Anfälle und schrie: „Wenn jetzt wieder einer gestorben ist, bringe ich ihn um!“
Während ich die Kommentare fremder Menschen über einen fremden Tod lese, werde ich innerlich ganz schwer. Ein Freund von mir wurde einmal von Facebook an den Geburtstag einer tödlich verunglückten Freundin erinnert. Er war ausser sich. Auf der Pinnwand der toten Freundin las er Glückwünsche von Menschen, die schrieben: „HBD! Meld dich mal wieder, dann feiern wir deinen Geburtstag nach, bin heute leider nicht in der Stadt. Xoxo!“ (schön auch, wenn sich das Geburtstagskind melden soll, um mit jemandem nachzufeiern!). Schon damals fragte ich mich, wer sich eigentlich um die Profile kümmert, die durch den Tod verwaisen?
Facebook bietet uns an, ein aktives Profil in den Gedenkzustand zu versetzen. Fortan steht dann „In Erinnerung an XY“. Das ist Geschmacksache. Wenn man das Profil wirklich löschen will, verlangt Facebook eine Sterbeurkunde und nach drei Monaten ist das Profil spätestens verschwunden. Was genau gibt es den Hinterbliebenen, wenn sie sich öffentlich über ihren Schmerz austauschen auf diesen „In-Erinnerung-an-XY“-Seiten? Spendet dies wirklich Trost, wenn Menschen Fotos, Videos, GIFs und Sinnsprüche posten, um die Lücke zu füllen, die ein Mensch hinterlässt? Oder geht es nicht doch viel mehr darum, dass ich Likes bekomme, Likes für meinen Akt des öffentlichen Trauerns? Und wenn ich dann Herzen, weinende Smileys und tröstende Kommentare gelesen habe, dann schmerzt der Verlust etwas weniger? Nein. Das kann ich mir kaum vorstellen.
Ich gehe lieber auf Friedhöfe, stehe an Gräbern mit einer Blume und schaue in den Himmel. Alleine, das Handy im Flugmodus. Aber auch das geht nur, wenn der Tote überhaupt ein Grab hat. Doch oft wünschen sich die Verstorbenen heute, dass ihre Asche an unkonventionellen Orten verstreut wird. Da kann ich dann auch nicht mehr hingehen.
Auch zu Polo konnten wir nicht hingehen. Auf seinen Wunsch hin gab es keine Aufbahrung und keine Abdankung. Stattdessen sassen wir alle vor unseren Bildschirmen, scrollten wie wild unseren Newsfeed hoch und runter und vergassen dabei, wie Trauern auch gehen könnte: Alleine, intim, voller Schmerz und Zerrissenheit, um Worte beraubt, weil uns der fremde Tod daran erinnert, das auch wir nur endlich sind. Dann, am nächsten Morgen, angetrieben von der Urangst, vergessen zu gehen, posten wir schnell ein Strandfoto oder ein Katzenvideo – bis der Nächste stirbt.
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