Es ist ein milder Oktobertag, die Sonne bricht durch die Wolken und weiches Licht fällt auf die Terrasse des Gurnigelbads. Vom ehemaligen Grand Hotel, das vor über 100 Jahren den Luxustourismus in der Berner Gantrischregion ankurbelte, ist heute nur noch ein Nebengebäude übrig – umgeben von einer Reitkoppel, Wald und Wiesen. In der Nähe des Eingangs erinnern eine Holzkiste mit Kerzen, Blumen und ein gerahmtes Porträt an Bayram Hasgül, der hier am 26. September dieses Jahres an den Folgen eines Herzinfarkts starb.
Anlässlich seines Todes sind an diesem Mittwochmittag rund 60 Personen von Bern, Gampelen oder Basel angereist, um Bayram Hasgül an einer Kundgebung zu betrauern und die Zustände im Gurnigelbad zu kritisieren. Nach und nach finden sich vor der abgelegenen Asylunterkunft an der Bergstrasse zum Gurnigelpass Aktivist*innen verschiedener Kollektive, darunter MSN, ROTA, Pangea und Bewohner*innen des Zentrums ein.
Die Nachricht von Bayram Hasgüls Tod verbreitete sich durch einen Videobeitrag in den sozialen Medien: Dieser zeigt, wie sein lebloser Körper auf einer Bahre abtransportiert wird. Im Beitrag adressieren anonyme Verfasser*innen schwerwiegende Vorwürfe an den Kanton Bern und das Schweizerische Rote Kreuz (SRK), das die Unterkunft betreibt.
Mangelhafte medizinische Versorgung
Bayram Hasgül sei wegen der „mangelhaften“ medizinischen Versorgung gestorben, heisst es im Beitrag. Zu lange hätte es gedauert, bis die Ambulanz am abgelegenen Standort eintraf. Das brachte für die Solidaritätsgruppe „Gurnigelbad“ das Fass zum Überlaufen – denn für sie sind die Probleme bei der medizinischen Versorgung „nur die Spitze des Eisbergs“, wie eine Sprecherin an der Kundgebung mehrfach betont.
Es dürfte wohl bekannt gewesen sein, dass Bayram Hasgül an diversen chronischen Krankheiten litt. Das erzählen rund ein halbes Dutzend Bewohner*innen gegenüber das Lamm. „Bayram konnte weder gut laufen noch sich selbst versorgen. Wenn er hier war und nicht am Bahnhof Riggisberg, wo er sich oft aufhielt, haben sich meist die Bewohner*innen um ihn gekümmert, für ihn gekocht oder ihn geduscht“, erzählt an diesem Nachmittag etwa Avjin Baran*.
Für sie sei klar, dass der 50-Jährige mit der medizinischen Infrastruktur im Gurnigelbad nicht ausreichend behandelt werden konnte. „Er hat sein Bedürfnis, ins Krankenhaus zu gehen, bereits vor dem Infarkt mehrfach geäussert“, so Baran weiter. Sie prangert die Kommunikation mit der Leitung und dem Team der Unterkunft an.
Martina Blaser, Leiterin Migration des SRK, antwortet auf eine entsprechende Anfrage von das Lamm, das SRK bedaure den Todesfall von Bayram Hasgül sehr: „Obwohl die medizinische Versorgung durch eine ärztliche Person vor Ort sofort gewährleistet war, ist Herr H.B. verstorben. Wir haben keine Kenntnis über die Todesursache“, so Blaser. Aufgrund von Untersuchungen, die der Kanton Bern nun im Zusammenhang mit dem Todesfall eingeleitet habe, sei es zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich, weitere Auskünfte zu erteilen.
Bewohner*innen berichten, es habe vierzig Minuten gedauert, bis die Ambulanz am abgelegenen Standort eintraf. Schutz und Rettung Bern sprach gegenüber der Berner Zeitung von 18 Minuten.
Gegen eine Wand reden
„Wir versuchen bereits seit etwa sechs Monaten mit der Leitung in Austausch zu treten, um die Zustände hier zu verbessern.“ Das sagt Pina* von der Solidaritätsgruppe „Gurnigelbad“. Als ihr Bekannter Servet ins Gurnigelbad kam, seien ihr bei den Besuchen und in Gesprächen mit Bewohner*innen Missstände aufgefallen. Daraufhin hätten Servet und die Solidaritätsgruppe erfolglos den Dialog zu den Betreiber*innen gesucht. Im Juli 2023 hatten sie ein Schreiben verfasst, das nach dem Tod von Bayram Hasgül in den sozialen Medien veröffentlicht wurde. Weil die Öffentlichkeit wissen solle, „was los ist“, so Pina.
Das Schreiben richtete sich an die Geschäftsleitung des Schweizerischen Roten Kreuz Bern Mittelland, an Verantwortliche des Kantons und des Staatssekretariats für Migration (SEM). Die Aktivist*innen kritisieren unter anderem die gesundheitliche Versorgung, die Isolation der Geflüchteten oder den fehlenden Zugang zu Informationen.
Ein Bewohner und Aktivist, der sich als Kamuran vorstellt, sagt, dass tatsächlich einmalig einige Psychologinnen des Kantons Bern das Zentrum besucht haben. „Wir haben sie gefragt, wo sie uns genau unterstützen können“. Die Psychologinnen hätten geantwortet: „Wenn wir ehrlich sind, können wir nicht viel tun“. Im Vorfeld der Kundgebung, die für den verstorbenen Bayram Hasgül ins Leben gerufen wurde, aber auch die Bedürfnisse aller Bewohner*innen ins Zentrum stellt, habe die Leitung versucht, die Leute an der Teilnahme zu hindern.
Das SRK antwortet, dass es auf Vorwürfe und Anschuldigungen nicht eingehen werde, da diese auf einer einseitigen Betrachtung gründen würden. Auf die Forderungen der Aktivist*innen gehen die Verantwortlichen des SRKs aber ein und schreiben dazu etwa: „Die Klientinnen und Klienten haben Zugang zur Gesundheitsversorgung“, geben aber zu: „Aufgrund der angespannten Lage unter den Hausarztpraxen ist es gerade in der Peripherie schwierig, genügend Arztpraxen zu finden, die zusätzliche neue Patientinnen und Patienten aufnehmen.“ Entsprechend sei man froh, mit einer mobilen Praxis, die in die Kollektivunterkunft komme, eine neue Lösung gefunden haben. Bezüglich psychischer Gesundheit befinde man sich gerade im Aufbau eines niederschwelligen psychosozialen Angebots.
„Auf einmal wurden alle Arzttermine auf den Mittwoch der Kundgebung angesetzt und Mitarbeitende haben erzählt, dass eine Teilnahme negativen Einfluss auf den laufenden Asylprozess haben könnte“, erzählt Kamuran. Und er sagt, was an diesem Nachmittag von verschiedenen Bewohner*innen wiederholt wird: „Wir sprechen gegen eine Wand. Wir bekommen hier keine Möglichkeit, unsere Bedürfnisse zu äussern.“
Das SRK sieht keine Probleme
Dass vor der Kundgebung Termine verschoben und Gespräche geführt wurden, bestreitet das SRK. Am Tag der Kundgebung hätte lediglich ein regulärer und „seit Monaten geplanter“ Hausarzttag stattgefunden, so Blaser. Sie versichert, es hätten keine Gespräche zwischen Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen des SRKs bezüglich der angekündigten Kundgebung stattgefunden. In welcher Form Blaser dies erhoben hat, konnte aufgrund ihrer Ferienabwesenheit bis Redaktionsschluss nicht geklärt werden.
Während der Kundgebung steht Kamuran vor einem Transparent mit der Aufschrift „Asylsystem tötet Menschen“ und spricht zu den Versammelten. „Wir sind hier, weil wir unseres Freundes gedenken und ihn verabschieden wollen. Aber wir sind auch hier, weil es in diesem Camp viele Probleme gibt, die wir den Verantwortlichen immer wieder kommuniziert haben. Wir wollen ohne rassistische Strukturen in menschlichen Bedingungen leben.“
Kamuran hofft, dass sich durch die Präsenz von Bayram Hasgüls Tod in den sozialen Medien und der Presse etwas in Gang setzt. „Nur ist es unglaublich deprimierend, dass zuerst ein Mensch sterben muss, bis man uns zuhört“, sagt er. Die Solidaritätsgruppe „Gurnigelbad“ fordert die sofortige Schliessung des Zentrums.
Kein Anschluss
Seit Anfang dieses Jahres wird das vorher leer stehende Hotel-Restaurant Gurnigelbad mit bis zu 220 Betten als Kollektivunterkunft für geflüchtete Menschen betrieben. Zurzeit sind circa 150 Betten belegt. Bereits vor der Eröffnung erntete die Unterkunft von verschiedenen Seiten Kritik, die sich vorwiegend auf die abgeschottete Lage bezog.
Im Gurnigelbad haben die Asylsuchenden unter der Woche täglich sechs Verbindungen mit Shuttlebussen bis zum knapp 10 Kilometer entfernten Riggisberg. Am Wochenende ist es nur eine Verbindung pro Tag. Weiter weg kommt nur, wer Geld für ein Bus- oder Zugticket hat oder Bekannte, die ein Auto besitzen. Sie habe Verwandte, die sie im Gurnigelbad abholen und zurückfahren können, erzählt Avjin Baran. Viele hätten aber weitaus weniger Glück. Und sie fügt hinzu: „Es ist uns klar, dass wir warten müssen, aber wir können hier oben absolut nichts Nützliches mit unserer Zeit anfangen. Das macht mich fertig.“
Zwar gibt es ein paar Freizeitangebote, die von Freiwilligen organisiert werden und zwei Mal pro Woche findet ein Deutschkurs statt. Vorwärts gehe es dabei aber nicht, erzählt Baran, denn der Unterricht ist nicht professionell betreut. Viele Bewohner*innen im Gurnigelbad befinden sich in einem erweiterten Asylverfahren, das sich über Jahre hinziehen kann. Solange in ihrem Aufenthaltsausweis der Buchstabe „N“ vermerkt ist, werden weder der Spracherwerb noch die Integration in den Arbeitsmarkt des Kantons gezielt gefördert.
Laut SRK funktioniert die Kollektivunterkunft Gurnigelbad wie eine grosse „Wohngemeinschaft“ – sofern man sich eine Wohngemeinschaft so vorstellt: „Unsere Mitarbeitenden sind 24/7 vor Ort, um die Sicherheit, den geordneten Betrieb und die Unterstützung bei Alltagsfragen zu gewährleisten“, so Martina Blaser.
Von der Unterstützung spüre sie wenig, sagt Baran.
So sei sie etwa trotz Nachfrage bei Mitarbeiter*innen nicht eingeführt worden, wie sie den öffentlichen Verkehr nutzen kann. „Bei meiner ersten Zugfahrt wusste ich dementsprechend nicht, was ich tun sollte, also bin ich in die sogenannte 1. Klasse eingestiegen“, so Baran. Und bekam eine Busse ausgestellt. Als sie sich mit dieser an die Leitung wendete, habe sie nach einer längeren Wartezeit ihre Unterlagen mit der Aufforderung zurückbekommen, sich selbst bei der entsprechenden Nummer der SBB zu melden. Das habe ihr nichts gebracht: „Wenn ich genug Deutsch könnte, um mich auszudrücken, hätte ich gar nicht erst um Hilfe bitten müssen“, so Baran.
Keine Vernetzung
Durch den isolierten Standort ist es für sie auch schwierig, an Informationen zu ihrem eigenen Asylprozess zu gelangen oder sich mit ihrer Sozialarbeiterin zu treffen, fährt Baran fort. In den neun Monaten, die sie im Gurnigelbad ist, habe sie Letztere einmal gesehen: „Sie kam hierher, um das Asylzentrum zu besichtigen und wir haben uns kurz gegrüsst.“ Ihre Anliegen oder Probleme würde sie der Sozialarbeiterin ausschliesslich per Mail mitteilen.
„Ich kann mich hier nicht vernetzten“, sagt Baran und meint das fast buchstäblich. In der Unterkunft funktioniere das WLAN manchmal tagelang nicht, dann fahre sie mit einem der Gratis-Shuttles nach Riggisberg, um mit ihrer Familie zu telefonieren. Der Mobilempfang im Gurnigelbad ist nämlich schlecht. „Ich bin hierhin gekommen, weil ich dachte, die Schweiz sei ein demokratisches Land. Aber manche haben wohl nicht verstanden, dass ‚eine richtige Demokratie‘ für alle und nicht nur für wenige sein müsste.“
„Im Gurnigelbad findet schlicht eine Abschreckungspolitik statt“, fasst Kamuran, der in der Türkei als Menschenrechtsaktivist tätig war, zusammen, wie viele Bewohner*innen ihr Leben im abgelegenen Asylzentrum wahrnehmen. Es käme ihm so vor, als würde man die Bedingungen absichtlich so unattraktiv wie möglich gestalten, um den Durchhaltewillen und die Motivation der Asylsuchenden zu brechen.
Auch Acar Çelik* hofft, dass die erhöhte Aufmerksamkeit Druck aufbaut, der zur Schliessung des Standorts Gurnigelbad führt. Seine Frau und Kinder starben im Februar beim Erdbeben in der Stadt Adiyaman: „In der Türkei ereignet sich eine Weltkatastrophe, aber hier fragt mich niemand, ob ich etwas brauche oder meine Familie etwas benötigt“, sagt er. Er wünsche sich, in seinem Trauerprozess andere Menschen sehen zu können: „Aber ich weiss nicht einmal, wie Bern nach achtzehn Uhr aussieht.“ Die letzte Verbindung, die die Bewohner*innen am Bahnhof Riggisberg erreichen müssen, um noch am gleichen Tag in die Unterkunft zu gelangen, fährt um 18.25 Uhr.
Eine Integration der Geflüchteten – sie ist offensichtlich nicht erwünscht. Als Çelik das Gurnigelbad zum ersten Mal sah, habe er sich gedacht: „Wow! Grün, frische Luft, Berge, Natur“. Es habe sich einen Tag lang wie im Paradies angefühlt, „seither bin ich zehn Monate in der Hölle gewesen“.
Das kann man sich am gefühlten Ende der Welt gut vorstellen. An diesem Nachmittag sind sie da, die Menschen, der Austausch und die Aufmerksamkeit. Aber was passiert, wenn sich die Kundgebung nach und nach auflöst, die Aktivist*innen zurück nach Basel oder Bern reisen und die Nacht auf 1’155 Metern über Meer hereinbricht? Dann dürfte die ungestörte Ruhe, die sich im Postkartenidyll ausbreitet, zur beklemmenden Stille für jene werden, deren Stimme viel zu selten gehört wird.
*Die Namen von Acar Çelik und Avjin Baran wurden von der Redaktion geändert.
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